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Deutschlands Kriegsbilanz (II)

Beinahe 15 Jahre nach dem Beginn des NATO-Kriegs in Afghanistan und der unter starker deutscher Beteiligung durchgeführten Besatzung herrschen in dem Land katastrophale ökonomische und soziale Verhältnisse sowie eine miserable Sicherheitlage. Dem Krieg sind seit 2001 laut einer umfassenden Analyse mehr als 220.000 Menschen direkt oder indirekt zum Opfer gefallen. Die Sicherheitslage im Land hat sich zuletzt laut Einschätzung des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags "dramatisch verschärft". Soldaten müssen inzwischen, wenn sie von einem Standort zum nächsten wechseln wollen, aus Sicherheitsgründen fliegen, weil die Fahrt mit gepanzerten Autos auf der Straße als unvertretbar gefährlich gilt. Die Zahl der afghanischen Flüchtlinge wird von den Vereinten Nationen aktuell auf 1,1 Millionen geschätzt - mit steigender Tendenz. Wichtigster Wirtschaftszweig ist weiterhin der Opiumanbau; 39,1 Prozent der Afghanen leben nach nationalen Standards in Armut, 2,7 Millionen sind unterernährt. Lediglich die Bundeswehr kann positive Tendenzen erkennen und rät zu "Geduld und Ausdauer". - (Teil 2 einer Serie, in der german-foreign-policy.com - aus Anlass der Ankündigung Berlins, in Zukunft stärker "global" intervenieren zu wollen, auch militärisch - die Folgen der deutschen Kriege aus den vergangenen zwei Jahrzehnten bilanziert.)

Aufstandsunterstützung

Die Bundeswehr kann in Afghanistan bereits auf eine mehr als 30-jährige Interventionsgeschichte zurückblicken. Schon in den 1980er Jahren waren bundesdeutsche Soldaten und der Bundesnachrichtendienst (BND) in den damaligen Afghanistankrieg involviert - im Unterschied zu heute auf Seiten der Aufständischen. Hintergrund war, dass Ende der 1970er Jahre Unruhen gegen Modernisierungsbestrebungen der afghanischen Regierung das Land zu erschüttern begannen; ultrakonservative, teils jihadistische Mujahedin wurden in ihrem Kampf gegen die prosowjetische Regierung in Kabul seit Mitte 1979 von den USA und bald auch von der Bundesrepublik gefördert, während die Sowjetunion Ende 1979 Truppen zur Unterstützung der Regierung an den Hindukusch entsandte. Im damaligen Stellvertreterkrieg sprangen einzelne Soldaten der Bundeswehr - offiziell hatten sie dafür Urlaub genommen - den Mujahedin bei, etwa als Sanitäter; diverse "Gotteskrieger", wie man sie damals nannte, erhielten Ausbildung durch den BND oder auch durch die Grenzschutz-Spezialtruppe GSG 9. Der BND lieferte Winterkleidung sowie Nachtsicht- und Minensuchgeräte; die Aufständischen wurden mit Spionageerkenntnissen bundesdeutscher Stellen vor allem über Bewegungen der afghanischen und der sowjetischen Streitkräfte versorgt. Einige bundesdeutsche Elitesoldaten seien sogar mit den Mujahedin durch die afghanischen Berge gezogen und dabei gelegentlich in "Feindkontakt" geraten, berichtet ein Teilnehmer der damaligen Bundeswehr-Operationen.Peter F. Müller, Michael Mueller (mit Erich Schmidt-Eenboom): Gegen Freund und Feind. Der BND: Geheime Politik und schmutzige Geschäfte. Hamburg 2002. Unser Krieg. ZDF 08.10.2013. S. auch Der Krieg kehrt heim (II) . Offiziell dienten die deutschen Maßnahmen der "Befreiung" des Landes vom Kommunismus; faktisch blieb Ende der 1980er Jahre ein auch mit Hilfe bundesdeutscher Militärs und Agenten weithin zerstörtes Land zurück.

Aufstandsbekämpfung

In den 1990er Jahren zeigte die Bundesrepublik keinerlei Interesse an Afghanistan, das nach dem Abzug der sowjetischen Truppen und dem Scheitern der an Moskau orientierten Regierung für die NATO-Staaten keinerlei strategische Bedeutung mehr besaß, dessen erschütternder Zustand allerdings die Übernahme der Macht durch die Taliban ermöglichte: Diese galten damals vielen Afghanen als die im Vergleich zu den Mujahedin weniger blutige Herrschaftsalternative. Das deutsche Interesse an Afghanistan kehrte erst nach dem 11. September 2001 zurück, als das Land wegen des mörderischen Terrors einer Gruppe von Jihadisten, mit denen die NATO-Staaten in den 1980er Jahren gegen die sowjetischen Truppen kooperiert hattenSteve Coll: Ghost Wars. The Secret History of the CIA, Afghanistan, and bin Laden, from the Soviet Invasion to September 10, 2001. New York 2004. S. auch Vom Nutzen des Jihad (II) . und die nun unter dem Label "Al Qaida" firmierten, zum zweiten Mal ins Visier der westlichen Mächte geriet. Mit großem Gestus beteiligte sich Berlin nicht nur an der Besetzung des Landes, sondern auch an den Bestrebungen, Afghanistan eng an den Westen zu binden, organisierte dazu Ende 2001 in Bonn die internationale "Petersberg-Konferenz" und im folgenden Jahr eine afghanische Loya Jirga in Kabul. Allerdings konnten die umfangreichen Besatzungsaktivitäten den wachsenden Unmut im Lande nicht stillen, der schon nach wenigen Jahren zu ersten erbitterten Aufständen gegen die westlichen Truppen führte. Bald versank Afghanistan in einem Besatzungskrieg.

Im Zermürbungskrieg

Die aktuelle Lage des Landes nach fast 15 Jahren westlicher Besatzung ist katastrophal. Der Krieg hält an und eskaliert inzwischen sogar immer wieder. Bereits im vergangenen Jahr bezifferte eine umfassende Analyse die Zahl der direkten und indirekten Todesopfer auf mehr als 220.000 IPPNW: Body Count. Opferzahlen nach 10 Jahren "Krieg gegen den Terror". Irak - Afghanistan - Pakistan. Berlin, September 2015.; hinzu kommen 80.000 Todesopfer im angrenzenden Pakistan. Zudem haben die Kämpfe 1,1 Millionen Afghanen auf die Flucht getrieben. Ein Ende ist nicht in Sicht; im Gegenteil: Einem Bericht zufolge stehen die von deutschen Soldaten angeleiteten afghanischen Truppen in Kunduz, einer früheren Schwerpunktregion der Bundeswehr, in einem "Zermürbungskrieg".Marco Seliger: Im Zermürbungskrieg gegen die Taliban. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.09.2016. Allein im ersten Halbjahr 2016 sind 1.601 Zivilisten bei Kampfhandlungen oder Anschlägen zu Tode gekommen; 3.565 weitere wurden dabei verletzt. Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, Hans-Peter Bartels (SPD), spricht von einer gravierenden Zuspitzung der Verhältnisse: "Die Sicherheitslage im Land hat sich dramatisch verschärft".Wehrbeauftragter: Sicherheitslage dramatisch verschärft. www.mdr.de 11.09.2016. Soldaten müssten heute, wenn sie von einem Stützpunkt zu einem anderen wechseln wollten, per Hubschrauber fliegen, da die Nutzung der Straßen sogar mit gepanzerten Fahrzeugen zu gefährlich sei. Selbst Entwicklungshelfer wagen sich laut Berichten nur noch selten aus ihren Hochsicherheitsbüros an die Standorte der von ihnen geführten Projekte; weil die Kosten für die notwendigen Schutzmaßnahmen exzessiv gestiegen sind, wird sogar über die Einstellung der Entsendung westlichen Personals diskutiert.Friederike Böge: Hilfe per Fernsteuerung. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.08.2016.

Hunger und Not

Mindestens ebenso verheerend ist die sozioökonomische Lage Afghanistans. Die Wirtschaft liegt am Boden; das Land ist finanziell in höchstem Maß von Unterstützung aus dem Ausland abhängig. Eine eigenständige Produktion existiert kaum; Importen in Höhe von 7,7 Milliarden US-Dollar standen im Jahr 2014 Exporte im Wert von lediglich 571 Millionen US-Dollar gegenüber. Aufgrund der katastrophalen Lage ist das Interesse auswärtiger Firmen minimal; im Gesamtjahr 2014 flossen Investitionen in Höhe von gerade einmal 54 Millionen US-Dollar nach Afghanistan. "Über vier Fünftel der Wirtschaft spielen sich vor dem Hintergrund politischer Unsicherheiten und fehlender Rechtsstaatlichkeit im informellen Sektor ab", berichtete die bundeseigene Außenwirtschaftsagentur Germany Trade and Invest (gtai) im vergangenen Jahr; dabei bleibe "der Anbau von Schlafmohn für Opium und Heroin" mit Abstand "wichtigster Faktor der afghanischen Schattenwirtschaft".Katrin Pasvantis: Wirtschaftstrends Jahresmitte 2015. Afghanistan. www.gtai.de 19.08.2015. 39,1 Prozent aller Afghanen leben laut Angaben der Asian Development Bank unterhalb der nationalen Armutsgrenze; aktuell sind 2,7 Millionen der rund 30 Millionen Afghanen unterernährt, darunter eine Million Kinder im Alter von weniger als fünf Jahren. Die Kindersterblichkeit im ersten Lebensjahr liegt in Afghanistan bei 66 von 1.000 (in Deutschland beträgt sie vier von 1.000, allerdings in den ersten fünf Lebensjahren). Armut und Elend werden aktuell unter anderem dadurch verschlimmert, dass zahlreiche Flüchtlinge in Zelten leben und zur Zeit täglich annähernd 5.000 weitere Flüchtlinge aus Pakistan nach Afghanistan abgeschoben werden. Der herannahende Winter ist am Hindukusch bitter kalt.

37 Jahre

Positive Entwicklungen kann lediglich die Bundeswehr erkennen, die laut eigenen Angaben in Afghanistan nicht Krieg führt, sondern sich dort "engagiert".15 Jahre nach 9/11: Afghanistan braucht "Geduld und Ausdauer". www.bundeswehr.de 12.09.2016. "In überwiegendem Maße" gelinge es der afghanischen Armee, "ein sicheres Lebensumfeld für die Bevölkerung zu gewährleisten", erklärt der Leiter der "Einsatzgruppe Afghanistan" im Einsatzführungskommando der Bundeswehr, Oberst Jörn Jakschik. Die Ausbildung der afghanischen Soldaten mache "gute Fortschritte", wird Jakschik zitiert; "sichtbare Ergebnisse" seien "insbesondere in der Operationsführung erzielt worden". Man müsse nur "weiterhin Geduld und Ausdauer" zeigen; Afghanistan benötige eben "einen langen Atem". Konkrete Zeitangaben vermeidet der Oberst. Afghanistan befindet sich - auch dank der bundesdeutschen Aufstandsunterstützung der 1980er Jahre und der Aufstandsbekämpfung der Bundeswehr in den Jahren ab 2001 - seit fast 37 Jahren ohne längere Unterbrechung im Krieg.

Quelle: www.german-foreign-policy.com vom 14.09.2016.

Fußnoten

Veröffentlicht am

26. September 2016

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