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Europa der 28 Geschwindigkeiten

Ist es der Egoismus eines "Landkreises", der Brüssel bei CETA den nächsten Gau beschert, oder ist es das Zwittrige einer Staatenunion, die kein Unionsstaat sein will?

Von Lutz Herden

Von Geisterfahrten durch ein Labyrinth der Unwägbarkeiten war keine Rede, als vor dem jüngsten Gipfel in Brüssel und Berlin der Wunsch laut wurde, die EU möge sich wieder mehr auf eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik besinnen. Die Irrelevanz im Syrien- Konflikt sei nicht länger hinnehmbar. Sie zwinge zur Geschlossenheit, genauso wie der Umgang mit Russland und die Sorge ums weltpolitische Renommee.

Gab es ein Missverständnis? Der Gipfel selbst hat davon wenig bis nichts erkennen lassen und darüber belehrt, wie illusionär ein derartiges Ansinnen inzwischen wirkt, Weltfremdheit statt Realitätssinn bedient. Die deutsche Kanzlerin hatte sich entgegen ihrer sonstigen Vorsicht für neue Sanktionen oder zumindest neue Sanktionsdrohungen gegen Russland exponiert. Sie konnte auf die üblichen Verbündeten wie Frankreich, Großbritannien und Polen zählen, aber nicht Skeptiker wie Italien, Österreich, Griechenland und Ungarn überzeugen.

Und auch das war der Europäische Rat am 21. Oktober 2016 - mehr oder weniger beiläufig verkündete Ratspräsident Donald Tusk, dass ein seit mehr als einem Jahr über Europa schwebendes virtuelles Projekt endgültig auf jeden Praxistest verzichtet: die avisierte Verteilung von 160.000 Flüchtlingen in Quoten auf die EU-Staaten ist geerdet. Tusk: "Es gibt keine Begeisterung, um eine Quote umzusetzen." Punkt und Schluss!

Und wer glaubt eigentlich daran …

… dass die Konsequenzen eines harten Brexit nur Britannien treffen und in Kontinentaleuropa keine mentalen, politischen und so weiter Kollateralschäden hinterlassen? Entgegen aller Logik und schlüssiger Beweise wird unablässig darüber schwadroniert, dass die russische Führung die Europäische Union schwächen wolle. Wozu sollte sie sich dieser Mühe unterziehen? Die EU-Europäer können das besser und wirkungsvoller. Man muss sie nur machen lassen? Der nächste Gau kommt bestimmt.

Wäre Kanada nicht auf CETA angewiesen, stattdessen nur brüskiert und echauffiert, wäre dieses Abkommen so tot wie eine "gemeinsame" EU-Flüchtlingspolitik. Und es greift zu kurz, die Aufrührer in der Wallonie als Totengräber zu geißeln. Die EU scheitert an sich selbst. Dabei ist das Desaster beim CETA-Poker nicht allein einer seit der Osterweiterung überdehnten Mitgliedschaft geschuldet, die sich immer weniger koordinieren lässt.

Die latente Konfusion hat auch etwas mit der konstitutionellen Diffusion zu tun, die es innerhalb der Staatenassoziation gibt. Diese fristet das Dasein eines Zwitters aus Staatenunion und Unionsstaat, aus europäischem Staatenbund und europäischem Bundesstaat. Den keiner will, der aber durch die supranationalen Kompetenzen solcher Brüsseler Gremien wie des Ministerrates, der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments mehr als nur in Ansätzen vorhanden ist, ohne die EU-Staaten als solche abschaffen zu wollen, geschweige den zu können.

Was denen an Souveränität zusteht …

… oder entzogen wird, hätte eine EU-Verfassung regeln können. Sicher waren von einem derartigen geistigen und politischen Überbau keine Wunder zu erwarten, doch ein gewisser Kohäsionsschub schon. Leider lässt sich darüber nur spekulieren. Es fehlt jede Erfahrung, seit die negativen Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden im Frühjahr 2005 eine Magna Charta für das vereinte Europa verhinderten. Blieb sie der EU verwehrt - oder erspart?

Da dieser konstitutionelle Leerstand brisant und kein Zustand ist, wurde 2007 der Verfassungsersatz Lissabon-Vertrag ausgehandelt, der u.a. dekretiert, dass Handelspolitik in die Hoheit der Union fällt, die sich dabei allerdings schwerlich über die Rechte und vor allem die Interessen der Mitgliedstaaten hinwegsetzen kann.

Insofern existiert eine Vertragshoheit, die dort endet, wo sie in Durchsetzungsmacht mündet. Dieses Dilemma hat schließlich im Juni zu der Übereinkunft im Europäischen Rat geführt, dass in der EU 42 nationale bzw. regionale Parlamente zu CETA ihr Votum abgeben müssen. Damit war klar, dass die Verfassungsrealität in 28 Ländern bemüht wurde, um über die Legitimität einer Verhandlungsautorität zu befinden, deren Mandat von rechtlich minderer Qualität, weil nicht verfassungsgestützt war.

Welche Konsequenzen das hat, zeigt das CETA-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Oktober. Damit wurde zwar abgesegnet, dass der CETA-Vertrag vorübergehend in Kraft treten darf, aber die inhaltliche Konformität mit dem deutschen Grundgesetz erst noch zu prüfen sei.

So können europäische Verhandlungsmacht und deutsches Verfassungsecht kollidieren, wenn sich die Karlsruher Richter wieder damit befassen. Mit anderen Worten, auch wenn CETA am 27. Oktober doch noch unterzeichnet werden sollte, bleibt das Abkommen ein Provisorium, dessen Tage schnell gezählt sein können.

Wieder einmal zeigt sich …

… die rechtliche Fragwürdigkeit eines intergouvernementalen Vorgehens wie bei den CETA-Verhandlungen, das in Kernkompetenzen der Mitgliedstaaten und ihrer Parlamente eingreift, Das kann schnell in einen Interessenhader münden, wenn besonders ausgeprägte Partikularinteressen wie in der Wallonie ins Spiel kommen.

Auch sei nicht vergessen, wie deutsches Verfassungsrecht einst (2010 und 2013) mit den ins Auge gefassten Modalitäten für die beiden Euro-Rettungsfonds EFSF und ESM abgeglichen wurde. Deren Finanzarchitektur wurde seinerzeit gleichfalls mit Auflagen bedacht. Sie hatte nur deshalb Bestand, weil ansonsten die Gemeinschaftswährung womöglich nicht überlebt hätte.

Quelle: der FREITAG vom 24.10.2016. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

25. Oktober 2016

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