Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Sonnhild Thiel: “Gewalt hat keine Zukunft”

Vortrag bei der Tagung des Lebenshauses Schwäbische Alb "’We shall overcome!’. Gewaltfrei für die Vision einer Welt ohne Gewalt und Unrecht. Drei biographische Zugänge" am 15.10.2016 in Gammertingen

Von Sonnhild Thiel

Sozialisation, Familiengründung

Geboren wurde ich 1941 im Sudetenland, meine ersten Jahre sind deshalb vom Krieg geprägt. Das Herausgerissenwerden aus dem Schlaf, in Bunker rennen, Schutz suchen vor Tieffliegern im Wald während einer Evakuierungsmaßnahme, Unruhe: das alles hat Spuren hinterlassen. Jahrelang hatte ich Alpträume mit brennenden Häusern und Soldaten, die mich umzingeln. Bis in die Jugendzeit hatte ich panische Angst, wenn ich in der Nacht Flugzeuge hörte. Bis heute vermeide ich nach Möglichkeit Flüge.

Ich wuchs in einem kleinbürgerlichen liebevollen Elternhaus auf, das keinerlei Druck auf mich ausübte. Nur einmal wurde ich von meinem Vater geschlagen - ich war zwölf Jahre alt - und ich fand: zu recht.

Als Jugendliche beeindruckte mich der Film "Die Brücke" von Bernhard Wicky und das Buch "Wo warst du Adam" von Heinrich Böll sehr. Mir wurde die Unsinnigkeit von Krieg so voll bewusst. Über dieses Thema konnte ich allerdings mit meinen Eltern kaum sprechen, es kam keine Resonanz.

Seit meiner Konfirmation sang ich im Kirchenchor mit und war in der kirchlichen Jugendarbeit engagiert. Im Herbst 1960 begegnete ich Ulli Thiel bei einer Rüstzeit für jugendliche Mitarbeiter unserer Kirche in Baden. Da hatten wir aber noch keine Augen füreinander, erst bei der Sommerfreizeit 1961 entdeckten wir unsere gegenseitige Sympathie. Von da an schrieben wir uns viele Briefe bis wir 1966 heirateten.

Im Frühjahr 1962 machte ich Abitur und ging danach, um Geld zu verdienen, als Hilfsarbeiterin in eine Fabrik. Ich war in einer Abteilung eingesetzt, in der nur Frauen arbeiteten, die keine körperlich schwere Arbeit verrichten konnten. Ich war überrascht, dass ich - als Jüngste - bald die Beichtmutter für viele Frauen wurde, egal ob es Beziehungsprobleme mit dem Partner oder Probleme mit den Kindern waren. Ich hörte meistens nur zu. Man wollte mich sogar zur Vorarbeiterin machen. Da sagte ich erst, dass ich nur einige Monate bleiben wollte. Durch die Erfahrungen  während der fünf Monate dauernden Fabrikarbeit kam ich auf die Idee, Sozialarbeiterin zu werden, zumal ich ein neues Ziel suchte, da sich mein ursprüngliches Ziel zerschlagen hatte.

Meine Ausbildung machte ich in Kassel am Evangelischen Seminar für soziale Berufsarbeit von April 1963 bis April 1966, die jeweiligen Praktika absolvierte ich meist in Karlsruhe, weil Ulli dort die Lehrerausbildung durchlief und wir vorhatten, Karlsruhe zu unserem zukünftigen Wohnort zu machen. In Karlsruhe ist eine der sechs Gemeinden unserer Kirche in Baden und Ulli sollte den Pfarrer beim Religionsunterricht und im Jugendkreis unterstützen. Unsere Lebensplanung sah ganz bürgerlich aus: Familie mit vier bis fünf Kindern und tätige Mitarbeit in der Kirchengemeinde.

Gleich am Anfang unserer Ehe leistete Ulli im Karlsruher Diakonissenkrankenhaus Zivildienst. Durch einen Mitzivildienstleistenden kam er in Kontakt zur Karlsruher IdK (Internationale der Kriegsdienstgegner, eine der Vorläuferorganisationen der späteren Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen, der DFG-VK). Er wurde bald in den Vorstand gewählt.

Geprägt durch die Aufbruchstimmung der 68er bekamen wir bald mit unserer Kirchengemeinde Ärger und es kam Anfang der 70er zum Bruch. Wir wollten verändern, aber das war mit der Kirchengemeinde damals nicht möglich. Ulli stieg voll in die DFG-VK Arbeit ein.

Bis zur Geburt unserer Tochter Christiane 1969 arbeitete ich als Sozialarbeiterin in einem sozialen Brennpunkt in Pforzheim. Unsere zweite Tochter wurde 1970 geboren. Bald stellte sich heraus, dass sie viel Betreuung brauchte, da keine Bewegung spontan kam. Die Sprachentwicklung war sehr gestört. Ich konzentrierte mich auf die Förderung von Barbara: Termine bei Ärzten, Psychologen, Gymnastikübungen, allgemeine Intelligenzübungen.  Ulli, der inzwischen als Sonderschullehrer für Sprachbehinderte und Schwerhörige ausgebildet war, machte Sprechübungen mit ihr.

1972 traten Ulli und ich in die SPD ein, ich arbeitete im Ortsverein der SPD bis zu meinem Austritt 1991 mit. Außerdem machte ich Büroarbeiten für die DFG-VK zu Hause. Da wir der Überzeugung waren, dass niemand unsere  Kinder besser fördern könnte als wir, entschieden wir für uns, dass ein Lehrer-Gehalt reicht und ich nicht wieder in den Beruf zurückkehre.

Durch den Erfolg, den wir mit der Förderung unserer Tochter Barbara erlebten, fanden wir uns stark genug, noch ein behindertes Kind in unsere Familie aufzunehmen. So kam der gehörlose Markus mit zweieinhalb Jahren im April 1976 zu uns.

Friedensstafette

Die erste große überörtliche Aktion der DFG-VK, die Ulli organisierte und die ihn entsprechend zeitlich forderte, war die Abrüstungsstafette im Jahr 1976, die von Konstanz über Ulm und dann durch viele Städte in Baden-Württemberg zog, dann bei Waldshut den Rhein in die Schweiz überquerte und  über  Zürich und Bern nach Genf ging. In jedem Ort gab es Aktionen.

Die ganze Planung fand in unserer damals 4-Zimmer-Wohnung in einem 8-Familienhaus statt. Diese Wohnung war von 1972 bis 1978 Gruppen- und Landesverbands-Adresse der DFG-VK. Im Kellerverschlag lagerte Material. In der Garage stand außer dem Auto die Abzugsmaschine für Wachsmatrizen. Größere Rundschreiben wurden im Hobbyraum aller Familien, in dem eine Tischtennisplatte stand, zusammengelegt. Der Materialvertrieb Pazifix war in seinen Anfängen. Plakate lagerten auf allen Schränken in der Wohnung.

In der Planungsphase der Friedensstafette haben wir zum ersten Mal bemerkt, dass wir vom Verfassungsschutz beobachtet wurden. Kontoauszüge der Postbank trafen mit bis zu drei Wochen Verspätung bei uns ein. Man wollte doch wissen, wer unsere Spender waren.

Adresse der Friedensbewegung: Karlsruhe, Alberichstraße 9

Als Familie hätte uns die 4-Zimmer-Wohnung gereicht, aber so ging es nicht mehr weiter. Wir entschlossen uns, ein Haus zu kaufen. Ohne groß zu suchen entdeckten wir, dass in der Gegend, in der die Sonderschule für Hör- und Sprachbehinderte, an der Ulli unterrichtete, endlich ein eigenes Gebäude beziehen sollte - bisher war sie in der Stadt auf drei Standorte verteilt - Reihenhäuser entstehen sollten. Das bedeutete in Zukunft fünf Minuten Schulweg für Ulli, Barbara und später auch für Markus. Da ich in unserer Familie für Finanzen und Behördenkram zuständig war, überließ Ulli alles mir. Durch glückliche Umstände hat das mit der Finanzierung auch gut geklappt und so lebten wir seit August 1978 in der Alberichstr.9. Endlich Platz für Familie und Friedensarbeit. Oft arbeiteten auch andere Menschen mit in unserem Haus, Freiwillige von der Church of the Brethren aus den USA, von amnesty international "ausgeliehene" Menschen, die gerichtlich verordnete Sozialstunden ableisten mussten - amnesty in Karlsruhe  konnte sie aber kaum beschäftigen - und ab 1988, als wir die Landesgeschäftsstellen-Arbeit abgegeben hatten, der neue Landesgeschäftsführer.

Wir lebten wie eine Handwerker-Familie im 19. Jahrhundert: Privatleben und Arbeit im selben Haus. Ich war deshalb trotz der vielen Arbeit immer für die Kinder erreichbar und ansprechbar zu sein. Die Arbeit konnte ich mir selbst einteilen. Und Ulli war nach der Schule am Nachmittag zu Hause.

Mit allen drei Kindern nahmen wir an Dreijahreskonferenzen der WRI (War Resisters’ International) teil, wenn sie in die Ferienzeit fielen und in Europa stattfanden. So waren wir in Holland, Dänemark und Italien. Bei den beiden letzten Dreijahreskonferenzen konnten wir noch jeweils eine Woche privaten Urlaub anhängen.

Friedenskarawane in Jugoslawien

Als die  Kinder etwas größer waren, nahm ich an internationalen Treffen teil. So war ich 1983 bei der Weltfriedenskonferenz in Prag, 1987 bei der Weltfrauenkonferenz in Moskau und 1991 mit der internationalen Friedenskarawane in Jugoslawien. Es sollten Kontakte zwischen den BürgerInnen Europas und Jugoslawiens hergestellt und  die Kräfte gestärkt werden, die mit friedlichen Mitteln die Probleme lösen wollten. Diese Friedenskarawane begann in Triest mit 400 Personen und reiste durch Lubljana, Zagreb, Subotica, Novi Sad, Belgrad bis nach Sarajewo. Die drei Tage Sarajewo waren für  uns ein Höhepunkt. Dort lebten alle Ethnien und Religionen friedlich miteinander. Die vielen Menschen, mit denen wir sprachen, wollten weiterhin zusammen leben. Das machte Hoffnung!

Von diesen positiven Erlebnissen berichtete ich in einem Diavortrag in sechs Städten Süddeutschlands. Als im April 1992 die Belagerung von Sarajewo begann, stürzte ich in mein tiefstes Loch in meinem friedensbewegten Leben.

Die Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm am 22.10.1983

Das größte und schönste, was wir in der Friedensarbeit erlebt haben, war die Menschenkette. Die Idee dazu kam von Ulli, der die beiden "Lager" in der Friedensbewegung, die im Herbst 83 in Süddeutschland gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen auf die Straßen gehen wollten, zu verbinden suchte. Es standen zur Diskussion eine traditionelle Demo mit Großkundgebung in Stuttgart - oder eine gewaltfreie Blockade-Aktion in Neu-Ulm, wo die neuen Atomraketen stationiert werden sollten. Mit der Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm sollten beide bisher vorgeschlagenen Aktionen verbunden werden. Vor Beginn der Kettenbildung sollte blockiert werden und nach der Menschenkette sollten Großkundgebungen in Stuttgart und Neu-Ulm stattfinden.

Anfangs stieß dieser Vorschlag nicht nur auf Zustimmung. Viele hatten Angst, dass
dies nicht zu bewältigen sei.

Über die Menschenkette zu berichten, wäre ein Extra-Vortrag. (Siehe auch Artikel auf Lebenshaus-Website zur "Menschenkette 1983" )

Kontakte zur nichtstaatlichen Friedensbewegung der DDR

Sehr positiv und stärkend empfanden wir auch Kontakte zur nichtstaatlichen Friedensbewegung in der DDR, die wir seit Anfang der 80-er Jahre hatten. Zwei- oder dreimal besuchten wir das Christliche Friedensseminar in Königswalde. Das war eine total andere Erfahrung. Unsere Freundschaft zu Georg Meusel, der später das Martin-Luther-King-Zentrum in Werdau gründete, beruht darauf. Die Schwierigkeiten, die man uns machte, waren im Vergleich zu den Schwierigkeiten, die sie dort hatten, harmlos. Wir haben viel gelernt aus den Methoden unserer Freunde, die mit Phantasie irrsinnige Anordnungen des Staates umgingen.

Ab diesen Besuchen standen wir auch unter Beobachtung der Stasi.  Nach der Wende durften wir die Stasi-Akten einsehen, in die Verfassungsschutzakten, die wir auch anforderten, aber nicht.

Olaf-Palme-Friedensmarsch

Dieser Marsch war ein gemeinsames Friedensprojekt zwischen Ost- und Westdeutschland und der Tschechoslowakei. Initiiert wurde dieser Friedensmarsch von der DFG-VK, dem Friedensrat der DDR und dem Friedenskomitee der CSSR. Neben staatlichen Vertretern der Friedensbewegung wurde es auf Drängen der westdeutschen Mitinitiatoren auch dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR gestattet, an dem Friedensmarsch teilzunehmen. Der Marsch war bereits im Frühjahr 1987 im Neuen Deutschland angekündigt worden und fiel mit dem Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik vom 7. bis 11. September 1987 zusammen.

Der Olof-Palme-Friedensmarsch war eine drei Länder übergreifende Friedens-Demonstration. Der Marsch setzte sich aus mehreren Pilgerwegen zusammen, die vom 1. bis zum 19. September 1987 quer durch das Staatsgebiet der DDR führten und an denen sich auch Gruppen der politischen Opposition in der DDR legal beteiligen konnten.

Zeitgleich gab es Märsche an den Grenzen entlang und in den einzelnen Ländern. Ich nahm an dem Marsch zwischen Heidelberg und Heilbronn teil (14. - 19. Sept.), wo am 19. September die westdeutsche Abschlusskundgebung stattfand.

Bei unserem Abschnitt waren Teilnehmer/innen aus Japan, Russland, Schweden und der DDR (Friedensrat) mit dabei.

Ärger, den man uns vom Staat machte

Weniger Schönes haben wir durch die vorgesetzten Schulbehörden von Ulli erlebt. Er war diesen nicht nur wegen seines Engagements für Kriegsdienstverweigerung und Abrüstung ein Dorn im Auge, auch sein Engagement für Berufsverbote-Opfer passte ihnen nicht und auch nicht die Ausstellung "Nie wieder Faschismus", die er 1982 mit seiner damaligen 8. Klasse an der Schule machte.

Er hatte im Schulamt zwei Anhörungen Ende der 70-er Jahre, weil  er einen Aufruf gegen Berufsverbote unterzeichnet hatte.  Bei der zweiten Anhörung drohte man mit Disziplinarmaßnahmen. Schulräte kamen auch unangemeldet in den Unterricht. Da Ulli aber immer seinen Unterricht korrekt machte, konnte man ihm nichts anhängen. Und einschüchtern ließ er sich nicht. Man wäre ihn so gerne los geworden, schaffte es aber nicht.

"Kriegsdienstverweigerer planen Sabotage an Militäranlagen"

So lautete eine Überschrift auf der Titelseite der Frankfurter Rundschau am 2.2.1981.
In unserer Zeitschrift Südwest-Kontakte war das Protokoll einer Landeskonferenz abgedruckt, auf der u.a. Ideen gesammelt wurden, was man gegen die geplante Stationierung der Atomraketen unternehmen könne. Alles, was genannt wurde, kam ins Protokoll. Bei dieser Landeskonferenz war auch eine Freiwillige der Church of the Brethren dabei, die davon berichtete, was die Brüder Berrigan in den USA gegen Militärpläne gemacht haben. So kam das Wort Sabotage in das Protokoll.

Der militärische Abschirmdienst hatte einem militaristischen Journalisten bei der Frankfurter Rundschau (Ulrich Mackensen) dieses Protokoll  zugespielt, der mich am 1.2. telefonisch interviewte. Herr Mackensen wollte nicht warten, bis Ulli wieder aus der Schule kam, so gab ich - naiv wie ich war - Auskunft. Nach diesem Artikel merkte ich, wie man durch Fragen bzw. Nichtfragen in eine Ecke gedrängt werden kann.

Am 11.2.1981 musste auf Seite 1 der Frankfurter Rundschau die Gegendarstellung abgedruckt werden, zumal es auch viele Protestschreiben an die Frankfurter Rundschau gab.

Wortlaut: "Es ist falsch, daß die Landesgruppe Baden-Württemberg der DFG-VK im Rahmen einer bundesweiten ‘Friedensstafette gegen Atomraketen’ Sabotage an Militäranlagen plant. Richtig ist, daß die DFG-VK Ba-Wü. nie Sabotage als Beschädigung oder Zerstörung militärischer Einrichtungen geplant hat oder plant, da ihr Programm zur Gewaltlosigkeit verpflichtet.

Es ist falsch, daß ‘Südwest-Kontakte’ ein internes Rundschreiben ist. Richtig ist, daß Südwest-Kontakte eine Zeitschrift ist, die von jedem abonniert werden kann.
Es ist falsch, daß Frau Thiel wörtlich gesagt hat : ‘Ich glaube aber kaum, daß Sabotage verwirklicht wird.’ Richtig ist, daß ihr eine derartige Frage von Herrn Mackensen gestellt wurde und sie darauf mit einem klaren Nein antwortete."

"Zerbrochenes Gewehr" - Aktion, die Spaß gemacht hat

Im Januar 1985 verschickte der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen die Anordnung an alle Oberpostdirektionen, dass Briefe, die das Zeichen Hände zerbrechen Gewehr auf der Anschriften-Seite haben, nicht mehr befördert werden dürfen, da das die Assoziation zur Kriegsdienstverweigerung hervorrufen könnte.

Als wir Ende Januar ein Rundschreiben einlieferten, mussten wir es wieder mit heim nehmen. Da es aber wegen anstehender Termine raus musste, hatte Ulli die herrliche Idee, das Zeichen zu überkleben. Das war natürlich eine große Arbeit, aber es hat Spaß gemacht. Auf dem leuchtend gelben Überkleber stand : "Briefe mit dem ‘zerbrochenen Gewehr’, das sich unter diesem Aufkleber befindet, werden seit dem 14.1.85 von der Bundespost nicht mehr befördert. Umschläge mit diesem ‘zerbrochenen Gewehr’ werden schon seit Jahrzehnten verwendet. Nur in den Jahren 33-45 gab es ein Verbot." Nach zwei Monaten, Ende März, wurde auch dieses auf der Anschriftenseite verboten. Wir strichen deshalb den Text des Aufklebers durch und machten die kleine Notiz dazu "siehe Rückseite". Dort klebte der Aufkleber und ein selbstgefertigter Stempel klärte auf: "Seit dem 27.3.85 werden Briefe mit diesem Text im Absenderabschnitt von der Post boykottiert."

Viele Freunde wurden aktiv und schickten die folgenden Monate die kreativsten Briefe herum. Mir liegt noch einer vor, auf dem ist auf der Vorderseite der Grundgesetz-Artikel 4,3 zitiert, auf einem anderen steht vorne "Zerbrochenes Gewehr". Die meisten Exemplare haben wir aber an Georg Meusel in die DDR für seine Briefmarkenausstellungen geschickt. Diese Sendung kam leider nie an.

Zu meinem 75. Geburtstag schrieb Georg mir : "… unsere lange und ‘unverbrüchliche’ Freundschaft begann, wie bei mir so manchesmal, durch Briefmarkenanliegen, indem ich irgendwo Deine Adresse gefunden und Dich um Bedarfsbriefumschläge aus der Friedensbewegung für meine Ausstellungsarbeit gebeten hatte. Viele haben mich erreicht. Eine dicke Sendung mit besonderen Stücken kam nicht an. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie von der Post-Stasi beschlagnahmt wurde oder schon auf BRD-Seite von Euren Kommunistenjägern."

Der Bundesverband hatte im August 1984 dagegen geklagt, dass das Verbandsemblem nicht mehr im Freistempler verwendet werden darf. Nach einem positiven Urteil für die DFG-VK hat die Post Berufung eingelegt. Im Januar 86 nahm die Post diese Berufung zurück.

Ich nehme an, dass wir sie auch durch unsere Briefaktionen genervt hatten.

"Aktion Koffer packen"

Im Frühjahr 1985 hofften die Schulbehörden, Ulli los zu werden, da gegen uns beide ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Eine Bestrafung ab sechs Monaten wäre ein Grund gewesen, Ulli aus dem Beamtenverhältnis zu entlassen. Uns wurde vorgeworfen, durch das Verbreiten des Flugblattes "Aktion Koffer packen" zu Straftaten aufgerufen zu haben.

Nachdem am 1. Januar 1984 der Zivildienst auf 20 Monate verlängert wurde, machten wir über Flugblätter die "Aktion Koffer packen" bekannt, bzw. wir berichteten über Zivildienstleistende, die vorhaben, ihren Zivildienst nach 15 Monaten und 3 1/2 Tagen abzubrechen (die 3 1/2 Tage waren die durchschnittliche Dauer, die die Reservisten nach ihrem Bundeswehrdienst leisten mussten und mit eben diesen Reservistenübungen wurde die Verlängerung des Zivildienstes begründet). Wir haben nicht dazu aufgerufen, den Zivildienst nach dieser Zeit abzubrechen, sondern sogar auf die rechtlichen  Konsequenzen dieser gewaltfreien Aktion hingewiesen. Unsere Sympathie für diese Aktion war aber durchaus erkennbar.

Jedenfalls hatten wir deshalb zwei Hausdurchsuchungen in den "Geschäftsräumen" der DFG-VK. Die fanden auch statt, während Ulli in der Schule war. Drei der sieben Herren in Zivil gingen nach kurzer Zeit wieder vor die Tür, weil es in unserem "Friedenskeller" einfach zu eng für so viele Menschen war. Man nahm einen Stapel der beanstandeten Flugblätter mit. Dann standen sie nach einigen Tagen wieder vor der Tür, nachdem das Bundesverfassungsgericht die neue Zivildienstdauer für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärte. Auf meine Nachfrage, ob sie nicht nochmal gekommen wären, wenn das Bundesverfassungsgericht anders abgestimmt hätte, haben sie das bejaht. Einer hat noch hinzugefügt, dass die Meinung darüber, wie die Abstimmung läuft, innerhalb der Staatsanwaltschaft gespalten war. Auf die Frage, wer dieses Flugblatt erhalten habe, meinte ich, dass es viele Friedensgruppen in ganz Deutschland erhalten haben, die es dann weiter verteilten. Außerdem hätten wir vor Monaten dieses Blatt den Südwest-Kontakten beigelegt. Daraufhin hat man die Bezieher-Adressen mitgenommen. Diese Kartei gab ich nur unter Protest heraus. Nach einer Woche bekam ich die Adressen wieder.

Im Juni erhielten wir die Nachricht, dass das Verfahren eingestellt wurde. Warum, stand da nicht drin. Im Nachhinein haben wir erfahren, dass die "Straftat" verjährt war. In solchen Fällen ist die Verjährung ein Jahr. Die Anklage fand knapp ein Jahr nach der ersten Verbreitung des Flugblattes durch uns statt. Übrigens hat den Anstoß zur Hausdurchsuchung ein besonders scharfer Staatsanwalt aus Koblenz gegeben, dem ein solches Flugblatt in die Hände gekommen war und der die Karlsruher Staatsanwaltschaft  auf uns hetzte.

Friedensarbeit nach dem Kalten Krieg

Die Hoffnungen, die wir mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Paktes hatten, erfüllten sich nicht. Im Gegenteil. Deutschland hat sich an einem völkerrechtswidrigen  Krieg beteiligt. Dadurch dass sich die Grünen von ihrem einen Grundpfeiler "Pazifismus" verabschiedet haben, wurde die Friedensbewegung geschwächt und gespalten.

Beim Irak-Krieg - in diesem Jahrtausend  - konnten wieder viele Menschen mobilisiert werden, da sich die Bundesregierung offiziell nicht an diesem Krieg beteiligte.

Arbeit seit Ullis Tod

Ich versuche nicht nur in seinem Sinne weiterzuarbeiten, sondern auch, weil ich der Überzeugung bin, dass diese Arbeit richtig und wichtig ist. Natürlich fehlt Ulli an allen Ecken und Enden. Ich habe verschiedene Menschen angesprochen, die mitdenken und mitarbeiten. Ich kann nur im Team arbeiten. Und das ist wichtig, weil jede/r andere Stärken hat. Nur zusammen ist es sinnvoll und macht sogar Freude.

Kurz zusammengefasst: Es gibt Weggabelungen, an denen man sich entscheiden muss, wohin man geht. Je nachdem wie man sich entscheidet, nimmt das Leben eine entsprechende Richtung. Ich habe immer versucht, dort wo ich hingestellt war, mein Bestes zu geben. Das große Los meines Lebens war Ulli (und ich umgekehrt seines).

Den Satz, den ich für meinen Vortrag im Lebenshaus Gammertingen gewählt habe, "Gewalt hat keine Zukunft", ist zutiefst meine Überzeugung. Und was für einen langen Atem man haben muss, wenn man in diese Richtung arbeitet, will ich in einer ganz persönlichen Geschichte veranschaulichen. Meine Mutter, eine herzensgute Frau, sagte 1968, als wir zu unserem ersten Ostermarsch gingen: "Wenn euch die Polizei verprügelt, geschieht es euch recht. Man geht nicht auf die Straße!" 1983, als sie die Planungsphase der Menschenkette bei uns hautnah miterlebte, sagte sie: "Hoffentlich nützt es was!" 2008, zwei Jahre vor ihrem Tod, als meine Mutter so sehr verzweifelt über die vielen Kriege und Gewalt war, waren ihren Worte : "Wahrscheinlich habt ihr doch recht mit eurer Gewaltfreiheit."

Sonnhild Thiel, Jg. 1941, Sozialarbeiterin. Seit 1966 verheiratet mit Ulli Thiel (gest. 2014). 1969 Ausstieg aus der bezahlten Berufsarbeit  zugunsten der Familie und für gesellschaftspolitische Arbeit innerhalb der Kirchengemeinde, SPD (1972 - 1991) und in der Friedensbewegung. Da vor allem in der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK, zuerst noch DFG-IdK). In den 70er Jahren Mithilfe in der Karlsruher Ortsgruppe und vor allem zuständig für den Aufbau des Materialangebotes, aus dem dann der bundesweite Pazifix-Versand wurde. Betreuung des Pazifix Materialvertriebs bis 2010. In den 70er und 80er Jahren mit Ulli zusammen Geschäftsführung des DFG-VK Landesverbandes und ab Mitte der 90er Jahre wieder verantwortlich für die Gruppe in Karlsruhe. In den 90er Jahren im Arbeitsausschuss der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden. Versandadresse für Bücher der Werkstatt bis Februar 2016.

Weblink:

Veröffentlicht am

05. November 2016

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von