Dietrich Bonhoeffer und der PazifismusVon Theodor Ebert - Vortrag auf der Tagung "Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit …" des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins in der Evangelischen Akademie Iserlohn am 25.5.2002Erweiterung der Überlegungen des Beitrags "Bonhoeffer und Gandhi oder: Hätte sich der Hitlerismus gewaltfrei überwinden lassen? Eine Rückbesinnung 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In: Th. Ebert Opponieren und Regieren mit gewaltfreien Mitteln, Pazifismus. Grundsätze und Erfahrungen für das 21. Jahrhundert, Bd. 1, Münster: LIT, 2001, S. 105-124. Dieser Beitrag ist hier auf der Lebenshaus-Website veröffentlicht . Inanspruchnahme Bonhoeffers durch PolitikerDer Dietrich Bonhoeffer Verein hat sich am 6.12.2001 in der Mitteilung an die Presse dagegen gewandt, dass Dietrich Bonhoeffer neuerdings wiederholt in Anspruch genommen wird, militärisches Eingreifen zu rechtfertigen. In der Bundestagsdebatte am 16.November2001 zur Intervention der USA in Afghanistan und zum anschließenden Einsatz der Bundeswehr in Kabul im Rahmen eines UN-Mandates hatte Dr. Peter Struck, der Fraktionsvorsitzende der SPD, aus "Widerstand und Ergebung" den Satz zitiert: "Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll." Der Dietrich Bonhoeffer Verein hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Bonhoeffer mit diesem Satz auf die langfristigen Folgen unseres Handelns zielte und sich gegen Kurzschlusshandlungen wandte, die im jeweiligen Milieu opportun sind bzw. einen heroischen Eindruck machen. Alles was der Dietrich Bonhoeffer Verein in diesem Zusammenhang der Presse mitteilte, war goldrichtig, aber ich fürchte, dass diese Inanspruchnahme Dietrich Bonhoeffers für die Rechtfertigung von militärischen Kampfhandlungen anhalten wird. Ich habe den Text der kürzlichen Rede von George W. Bush im Plenum des Deutschen Bundestages noch nicht gelesen, aber ich habe in einem ZDF-Spezial aufgeschnappt, dass auch George W. Bush nicht davor zurückscheute, Bonhoeffer zu zitieren. Ich weiß nicht welchen Satz oder welches Wort. Doch das ist Bushs Redenschreibern auch völlig egal. Es geht darum, einen Märtyrer des Widerstands gegen das Böse und einen Ex-Pazifisten für den eigenen militärischen Kampf gegen das Böse in Anspruch zu nehmen. Dieses Verfahren ist erfolgversprechend, weil Bonhoeffer ins Umfeld derjenigen gehört, die das Hitlerregime durch einen Staatsstreich zu beseitigen suchten. Bonhoeffer wird dadurch zum christlichen Kronzeugen für den Tyrannenmord und die militärische Gewalt als Ultima ratio. Was einem Bush von cleveren Redenschreibern in den historischen Erguss hineingebastelt oder im Falle von Struck vom Genossen Eppler anempfohlen wird, brauchen wir aus theologischer und politologischer Sicht nicht sonderlich ernst zu nehmen. Das sind Versatzstückchen politischer Rhetorik. Gravierender ist, dass ein versierter Ethiker und systematischer Theologe wie der Berliner Bischof Dr. Wolfgang Huber, den man über Bonhoeffers Theologie nun wirklich nicht mit Pressemitteilungen zu belehren braucht, in ähnlicher Weise mit der Denkfigur der militärischen Intervention als ultima ratio operiert und sich vermutlich darin durch Bonhoeffer gedeckt weiß. Oder sich gedeckt wähnt? Der kritische Punkt ist Bonhoeffers Entscheidung, sich im Umfeld des Amtes Canaris den Verschwörern anzuschließen und an der militärischen Beseitigung des Hitler-Regimes mitzuarbeiten. Meines Wissens hat Bonhoeffer dies nicht unter Berufung auf die Lehre Jesu begründet, aber da er als Märtyrer der Kirche eben doch eine Art Vorzeigechrist ist, gilt sein Tun so gemeinhin als christlich gerechtfertigt. Wenn wir in der Beschäftigung mit Bonhoeffer in der Friedensethik weiter kommen wollen, genügt es nicht, wenn wir seine pazifistischen Positionsbestimmungen - zum Beispiel die Andacht in Fanö, die im Titel unserer Tagung zitiert wird, zustimmend aufgreifen. Wir müssen Bonhoeffers Entscheidungsprozess - und das heißt seine Entwicklung vom (theoretischen) Pazifisten zum (praktischen) Verschwörer und (potentiellen) Mit-Attentäter noch einmal kritisch verfolgen und uns fragen, wie wir diesen Weg heute einschätzen und welche Schlussfolgerungen wir heute im Blick auf unsere Verantwortung für kommende Generationen ziehen. Dies will ich im Folgenden tun. Ich will im Blick auf die historische Situation nach den pazifistischen Alternativen fragen, die für Bonhoeffer bestanden hätten und die zumindest auch zu verantworten gewesen wären, wenn man das Ziel hatte, Hitler effektiv an der Fortsetzung seiner Verbrechen zu hindern, also dem Rad in die Speichen zu greifen oder es auf andere Weise zu bremsen. Im Zusammenhang mit dem Einsatz des Zivilen Ungehorsams wird unter Berufung auf Thoreau häufig das Bild vom Sand im Getriebe gebraucht. Legitimität von Wenn-FragenEs geht also um eine Wenn-Frage an die Geschichte. Was wäre geschehen, wenn die Akteure, deren tatsächliches Handeln wir aus der Geschichte kennen, anders gehandelt hätten? Was hätte ein Bonhoeffer tun können, wenn er bei der ursprünglichen Absicht geblieben wäre, wie ein Gandhi nach gewaltfreien Methoden des Widerstands gegen das Hitlerregime zu suchen? Hätte er diese Möglichkeit mit den Vikaren in Finkenwalde erörtern und trainieren können? Ich habe viele Semester Geschichte studiert, bevor ich dann kurz vor dem Abschlussexamen zur Politischen Wissenschaft überwechselte. Einer der Gründe für den Wechsel war, dass Wenn-Fragen in der Politologie legitim, unter Historikern jedoch tabu sind. Die Aufgabe der Geschichtsschreibung ist es zu erklären, warum Menschen in der Vergangenheit so und nicht anders gehandelt haben. Dabei wissen wir doch als Individuen aus der Rekonstruktion eigener Entscheidungen, dass es immer mehrere Möglichkeiten gibt und dass wir darum auch für die Folgen unserer prinzipiell freien Entscheidungen Verantwortung tragen. Und wir wissen auch, dass winzige Änderungen weitreichende Folgen haben können und dass es Situationen gibt, in denen von der Entscheidung eines Einzelnen sehr viel abhängt. Es ist zwar honett, sich bei der Beobachtung der Handlungen anderer zunächst einmal darum zu bemühen, zu verstehen, warum diese vielleicht anders gehandelt haben, als wir uns dies gewünscht hätten. Doch wenn es um die Verantwortung für kommende Generationen geht, dann muss man auch überlegen, welches denn die Folgen der dubiosen Entscheidungen waren und welches wahrscheinlich die Langzeitfolgen der von uns gewünschten Handlungen gewesen wären.Zur Problematik der Wenn-Fragen und der Möglichkeit einer "entfatalisierten Betrachtungsweise" siehe die methodischen Reflexionen von Vladimir Horsky: Prag 1968. Systemveränderung und Systemverteidigung, Stuttgart U. München 1975, S. 356-375. Ich möchte solche Wenn-Fragen im Folgenden auch an das Handeln Bonhoeffers richten und auf pazifistische Alternativen hinweisen, auch wenn ich diese Szenarien dann im Rahmen eines Vortrags nicht in allen Details durchspielen kann. Wenn ich dabei gelegentlich erörtere oder andeute, warum Bonhoeffer diese Alternativen nicht wahrgenommen hat, wird sich abzeichnen, in wie hohem Maße Bonhoeffer von seiner Umwelt, besonders von den Menschen, mit denen er verkehrte, geprägt war. Da wir heute in einer anderen Umwelt leben und mit anderen Menschen verkehren, können wir auch anders handeln als ein Bonhoeffer. Das heißt, es gibt heute eine pazifistische Praxis, die er vielleicht ahnte und suchte, die sich ihm jedoch nicht eröffnete und für die er in seinem nahen Umfeld keine Anregungen bekam und für die er keine Unterstützung fand.So hat er unter den Vikaren in Zingst und Finkenwalde für seinen aus den USA mitgebrachten und von Jean Lassere geförderten Pazifismus nicht von vornherein Verständnis gefunden. Eberhard Bethge berichtet, dass die Vikare in Zingst am 1. Mai 1935 im Rundfunk Hitlers Ankündigung des neuen Wehrgesetzes gehört hätten. "Sie überlegten, wann es an sie käme, die Uniform anzuziehen. Die meisten freuten sich darauf und ahnten noch gar nicht, wie ihrem Direktor dabei zumute war … Der Wunsch war damals in der Bekennenden Kirche verbreitet, aus den eigenen Reihen möglichst viele Reserveoffiziere zu stellen …"(E. Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Theologe, Christ, Zeitgenosse, München1983, S. 494. Ich beginne mit Bonhoeffers Andacht bei der ökumenischen Versammlung auf der Insel Fanö am 28. August 1934.Kirche und Völkerwelt. In: Dietrich Bonhoeffer: Predigten - Auslegungen - Meditationen. I. 1925-1935, München 1984, S. 461-464. Auf diese Andacht ist die deutsche Friedensbewegung in den 80er Jahren zurückgekommen, weil Bonhoeffer darin auch ein Friedenskonzil der Kirchen der Welt vorgeschlagen hat. Bonhoeffer sagte, die Weltchristenheit müsse an alle Völker das frohmachende Wort vom Frieden richten - frohmachend "weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet …". Da könnte man ja nun sagen: Das sind die Sprüche, die man - heute, damals nicht! - von den Kirchen so kennt, die auf Kirchentagen und während der jährlichen Friedensdekaden schön klingen, aber im Ernstfall keine praktischen Konsequenzen haben. Wenn man jedoch die Bonhoeffersche Andacht in Fanö genau liest, stößt man auf eine interessante Frage, der nachzugehen sich lohnt. Da gibt es eine für das Jahr 1934 außerordentlich aufregende politologische Fragestellung. Bonhoeffer macht zunächst auf biblischer Basis eine dogmatische Aussage und stellt dann -selbstkritisch - seine Frage. "Kämpfe werden nicht mit Waffen gewonnen, sondern mit Gott. Sie werden auch dort noch gewonnen, wo der Weg ans Kreuz führt." Dieser doppelte dogmatische Vorsatz ist ein Kondensat des Alten Testaments und des Neuen Testaments. Im Alten Testament wird die ausschlaggebende Bedeutung des Vertrauens auf Gott betont. Ich zitiere den Propheten Hosea, der den Israeliten folgendes Gebet empfiehlt: "Wir suchen nicht mehr Hilfe bei den Assyrern, wir vertrauen nicht mehr auf unsere Pferde und Streitwagen, wir wollen nicht mehr das Machwerk unserer Hände als unseren Gott anrufen! Denn du hast Erbarmen mit dem, der keinen Beschützer hat." Das war 1983 das Motto der Friedenswoche in dem schutzmachtbesessenen West-Berlin. Und zu Bonhoeffers Theologie der "Nachfolge" gehört, dass im äußersten Falle auch das, was als brutale Unterdrückung eines Volkes beginnt, nicht zur endgültigen Niederlage werden muss, sondern sich in einen Erfolg der zunächst Unterdrückten verwandeln kann.Ich spreche hier von "Erfolg" und nicht von "Sieg", weil es im gewaltfreien Widerstand keine Sieger und Besiegten gibt, sondern eine neue Lage, in der auch die bisherigen Unterdrücker zumindest annehmbare Korrekturen für ihr weiteres Leben antreffen. Das sind vorerst dogmatische, also wegweisende Aussagen. Doch solcher Glaube muss nun jeweils gelebt, also im politischen Alltag umgesetzt werden. Und im Blick auf dieses Problem der operativen Umsetzung des Glaubens stellt Bonhoeffer seine aufregende, wie ich behaupten will, politologische Frage: "Wer von uns darf denn sagen, dass er wüsste, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn ein Volk - statt mit der Waffe in der Hand - betend und wehrlos und darum gerade bewaffnet mit der allein guten Wehr und Waffe den Angreifer empfinge?" Er gibt auf diese Frage in Fanö keine Antwort. Er hat diese Frage 1934 auch noch nicht beantworten können. Er nimmt sich damals erst vor, nach einer Antwort zu suchen. Er plant eine Reise zu Gandhi nach Indien, um vor Ort die Wirksamkeit gewaltfreier Kampftechniken zu studieren. Auf der Suche nach einer AntwortBonhoeffer kam nicht mehr dazu, diese Frage zu beantworten, weil er die Indienreise aufgegeben hat zugunsten der Ausbildung von Vikaren der Bekennenden Kirche im Predigerseminar in Zingst und Finkenwalde. Ich möchte aber an seiner Frage festhalten, weil es wichtiger ist, am Vermächtnis der unerledigten Fragen Bonhoeffers zu arbeiten, als ihn durch Sondermarken der Bundespost und allerlei Feiern zum Heiligen zu stilisieren. Ganz zu schweigen von einem Film, dessen Verzeichnung eines Gottesdienstes, in dem die Gestapo nicht ‘unauffällig’ beobachtete und anschließend zugriff, sondern durch einen schneidigen Sprecher mitten im Gottesdienst ein offenes NS-Bekenntnis erzwingen ließ. Diese Szene fälscht die tatsächliche Gottesdienstsituation. Man könnte sagen, sie ist eben auf amerikanische Kinobesucher zugeschnitten. Das Ärgerliche ist jedoch ihre Funktionalität für die angeblich alternativlose Entscheidung Bonhoeffers. Der Sinn dieser Szene ist es, den Zuschauer auf das Optieren Bonhoeffers für den Weg der Verschwörung vorzubereiten. Doch solche blasphemischen, demonstrativen Auftritte von NS-Funktionären in Gottesdienstes hat es meines Wissen in den Gottesdiensten Martin Niemöllers oder Helmut Gollwitzers in Dahlem nicht gegeben und mir sind auch keine anderen vergleichbaren Auftritte in anderen Kirchen bekannt. Die Konfrontation im Gottesdienst haben die Nazis gescheut.Martin Niemöller: Dahlemer Predigten 1936/37. Mit einem Vorwort von Thomas Mann, München: Kaiser, 1981. Wenn Studenten im Blick auf das Abfassen von Seminararbeiten, Diplomarbeiten und Dissertationen von mir wissen wollen, worauf ich denn achte, wenn ich herauszufinden suche, ob es sich möglicherweise um eine wertvolle wissenschaftliche Arbeit handelt, nenne ich als erstes Kriterium: Stellt der Verfasser eine interessante Frage, auf die es noch keine oder eine möglicherweise unzulängliche Antwort gibt? Kann man die Frage Bonhoeffers in Fanö denn beantworten? Was wäre, wenn ein Volk oder mehrere Völker einseitig abrüsteten und sich nun im Falle einer Aggression nicht passiv verhielten, sondern betend den Angreifer empfangen würden? Was heißt hier "beten"? Was heißt hier "empfangen"? Das sind auch spannende Fragen, die sich aber primär an Glaubensgemeinschaften richten, und die ich jetzt hier als Politologe nicht einfach beantworten kann. Es wäre jedenfalls zu einfach, wenn ich jetzt nur sagen würde, "beten" und "empfangen" sind identisch mit "gewaltfreiem Widerstand leisten", obwohl dies durchaus eine Antwort sein kann auf die Frage der Betenden "Was sollen wir tun"? Es gibt eben nicht nur historische Beispiele für Unterdrückung und Verfolgung, sondern auch Beispiele für anhaltenden gewaltlosen Widerstand, der auf kürzere oder längere Sicht zum Abschütteln der Fremdherrschaft führte. Ich möchte jetzt aber nicht über den Ruhrkampf von 1923 und die dänischen und norwegischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg sprechen, sondern will zunächst einmal verfolgen, wie Bonhoeffer mit seiner eigenen Frage umgegangen ist. Er sah wahrscheinlich in Gandhis Satyagraha-Strategie des gewaltfreien Widerstandes eine mögliche Antwort. Dies können wir daran erkennen, dass er über Jahre ziemlich hartnäckig den Plan verfolgte, "ein halbes Jahre oder länger" mit Gandhi zusammenzuarbeiten. Wir wissen dies aus Briefen an seinen Bruder Karl-Friedrich und an seine Großmutter, wie sie in Eberhard Bethges großer Bonhoeffer-Biographie zitiert werden. Dieses Interesse Bonhoeffers an der Gandhischen Verbindung von Spiritualität und politischem Widerstand ist auch in den oppositionellen kirchlichen Kreisen des nationalsozialistischen Deutschland nicht verstanden worden. Man hat sich Bonhoeffers Indienplan nur als verrückte Kuriosität weitererzählt. Karl Barth schrieb im Oktober 1936 an Bonhoeffer, dass das Einzige, was er lange Zeit von ihm gewusst habe, die "seltsame Nachricht" gewesen sei, er beabsichtige nach Indien zu gehen ",um sich dort bei Gandhi oder einem anderen dortigen Gottesfreund irgendeine geistige Technik anzueignen".Brief vom 14. Oktober 1934. In: Bonhoeffer-Auswahl 3. Entscheidungen 1936-1939, hg. von Otto Dudzus, Gütersloh 1970, S. 33-36. Gandhi hatte Bonhoeffer - auf Anfrage - tatsächlich eingeladen, ihn zu begleiten, aber es kam nicht mehr zu dieser Reise, weil Bonhoeffer dann - wie gesagt - die Leitung des Predigerseminars in Finkenwalde übernahm. Hätte ihn die Zusammenarbeit mit Gandhi befähigt, die in Fanö aufgeworfene Frage zu beantworten? Es ist faszinierend, sich diese Männer im Dialog vorzustellen, den phantasievollen indischen Widerstandspraktiker und Massenorganisator einerseits und den deutschen Kenner des Nationalsozialismus und der Bekennenden Kirche andererseits. Martin Buber hat mit einigem Recht Gandhi vorgeworfen, dass er die Möglichkeiten eines jüdischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus falsch einschätze und dass die Lage der Inder in Südafrika der Lage der Juden in Deutschland nicht gleiche.Hans Lamm (Hg.): Mahatma Gandhi und Martin Buber: Juden, Palästina und Araber. Vom Gestern zum Morgen, Band 4, München: Ner-Tamid-Verlag, 1961. Tatsächlich hatte Gandhi in seiner näheren Umgebung keinen Kenner dieses totalitären Systems der Nationalsozialisten. Bonhoeffer hätte über diese Kenntnisse in hervorragendem Maße verfügt, und so hätten sich aus den Gesprächen der beiden realistische Strategien sowohl für den Widerstand in Deutschland wie auch für den Widerstand in eventuell von Deutschland angegriffenen Ländern ergeben können. Bonhoeffer ahnte 1934 wahrscheinlich bereits, dass es zu einem Zweiten Weltkrieg kommen würde, und dass dann Völker vor der Frage stehen würden, wie sie dem Angreifer begegnen sollten. Im Zweiten Weltkrieg wurde auf den deutschen Angriff fast überall militärisch geantwortet. Darum wissen wir nicht, wie die Nationalsozialisten auf die von Bonhoeffer erwogene Art des Empfangs reagiert hätten.Nur in den Niederlanden ist nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten von Pazifisten einigermaßen systematisch über den gewaltlosen Widerstand als ausschließliches Mittel der - wie sie es nannten - "pazifistischen Volksverteidigung" nachgedacht worden. Gernot Jochheim hat in seiner Dissertation über die Entwicklung der Theorie der gewaltlosen Konfliktaustragung in den Niederlanden diese Traditionslinie verfolgt und die Broschüre "Pazifistische Volksverteidigung" im Rahmen einer Schrift über die Soziale Verteidigung dokumentiert. (G. Jochheim: Soziale Verteidigung. Verteidigung mit einem menschlichen Gesicht. Eine Handreichung, Düsseldorf: Patmos, 1988, S. 92-99). Die Bedeutung des "Zurückschießens" und des Daseinskampfes für das nationalsozialistische SelbstverständnisMan muss jedoch bedenken, dass Hitler zur Legitimation seines Angriffs auf Polen den angeblichen Überfall auf den Sender Gleiwitz und zwei weitere Zwischenfälle von deutschen SS-Leuten in polnischen Uniformen inszenieren ließ, um dann behaupten zu können, seit dem Morgen des 1. September 1939 würde nun "zurückgeschossen". Das haben viele Deutsche geglaubt, weil sie über keine anderen Informationsmöglichkeiten als über die von Goebbels gesteuerten Medien verfügten. Aber nun nochmals die prophetische Frage Bonhoeffers in Fanö 1934 "Wer von uns darf denn sagen, dass er wüsste, was es für die Welt bedeuten könnte, wenn ein Volk - statt mit der Waffe in der Hand -betend und wehrlos und darum gerade bewaffnet mit der allein guten Wehr und Waffe den Angreifer empfange?" Wir wissen seit 1981, wie das aussieht: betende polnische Arbeiter auf der Lenin-Werft in Danzig. Was wäre gewesen, wenn die angeblich "zurückschießenden" deutschen Soldaten nicht auf einen - wie man so sagt - heldenhaften, aber doch ganz unzulänglichen militärischen Widerstand der Polen, sondern auf ein betendes, gewaltlosen Widerstand leistendes Volk gestoßen wären? Wir dürfen nicht annehmen, dass die Gebete und die Argumente der Polen die deutschen Aggressoren sofort in wunderbarer Weise überzeugt hätten. Ich gehe bei meinen Überlegungen von den damals real existierenden nationalsozialistischen Verhaltensweisen aus und nehme nur bei den Polen fiktiv die von Bonhoeffer anvisierte christliche Verhaltensweise an. Unter dieser Voraussetzung hätte man durchaus mit nationalsozialistischen Unterdrückungsaktionen brutaler Art rechnen müssen. Darüber war sich auch Bonhoeffer im Klaren und darum verwies er auf das Kreuz. Die Christen haben ja als ihr Kennzeichen dieses bösartigste Hinrichtungsinstrument der Weltgeschichte. Es ist also leider anzunehmen, dass deutsche Aggressoren 1939 auf unbewaffneten gewaltlosen Widerstand mit einer Strategie der brutalen Unterdrückung reagiert hätten. Meine Schlussfolgerung aus dem Studium Hitlerscher Besatzungspolitik im Zweiten WeltkriegEinen vorzüglichen Überblick bietet Werner Rings: Leben mit dem Feind. Anpassung und Widerstand in Hitlers Europa 1939-1945, München: Kindler, 1979. Zum Widerstand in den besetzten Gebieten siehe Jacques Semelin: Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa. Aus dem Französischen von Ralf Vandamme, Frankfurt a. M.: dipa Verlag, 1995. ist, dass diese vor keiner Unterdrückungsmethode zurückschreckte, ihr jedoch der gewaltlose Widerstand die größten Probleme machte und sie am effektivsten hinderte, ihre Politik durchzusetzen. Zu gröhlen "Und heute (ge)hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt" ist einfach. Doch wären die Deutschen nach einem gewonnenen Krieg nicht innerhalb von Jahrzehnten als Besatzer gescheitert? Mit ein paar Millionen Deutschen, die sie eventuell aus dem Reich hätten abziehen können, wäre nicht einmal in Europa, geschweige denn in Übersee ein einigermaßen funktionierendes Herrschaftssystem aufzubauen gewesen. Ob die Fremdherrschaft relativ milde ist oder brutal: Widerstand provoziert sie immer. Das zeigt der Vergleich der dänischen und der polnischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Von den Grenzen totalitärer HerrschaftWenn man die Grenzen der Machbarkeit totalitärer Herrschaft kennen lernen möchte, dann hat das Experiment nationalsozialistischer Herrschaft in Polen den Vorzug, dass die Nazis hier im Blick auf die Fähigkeit zu skrupelloser Unterdrückung kaum Überbietbares aufzuweisen haben. Dort sind sie ganz besonders rücksichtslos verfahren, und dort hatten sie auch fünf Jahre Zeit, ihre Herrschaft zu festigen. Man kann darum wohl die These formulieren: Wenn es zwischen 1939 und 1944 in Polen nicht gelungen ist, Fremdherrschaft trotz Widerstand zu befestigen, dann ist es wahrscheinlich - zumindest mittels Brutalität - überhaupt nicht möglich. Der historische Befund ist ausreichend geklärt. Nach der militärischen Niederlage hat der polnische Widerstand, der sich neben gewaltloser auch bewaffneter Formen bediente, zwar große Opfer gefordert, aber er hat die nationalsozialistische Wahnvorstellung widerlegt, dass die germanischen Herrenmenschen sich mit ihrem Willen zur Macht gegenüber diesen slawischen Untermenschen durchsetzen könnten. Ich verweise auf die Forschungen von Wolfgang Jacobmeyer, der sich bei seinem Urteil nicht nur auf die Selbsteinschätzung des polnischen Widerstands, sondern gerade auf die Stimmen der Unterdrücker beruft, die ihr Scheitern sicher ungern eingestanden haben. In einem Aufsatz über "Widerstand und nationale Selbstbehauptung gegen die deutsche Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg in Polen" schreibt er: "Das vielleicht schlüssigste Urteil über die deutsche Besatzungspolitik in Polen als die eigentliche Urheberin des Widerstands liegt im Bereich des SS-Sturmbannführers Dr. Strickner aus dem Reichssicherheitshauptamt im Oktober 1944 vor. Dort heißt es, es hätten Aussiedlungen, wirtschaftlicher Raubbau, Zwangsarbeiter- und Ernährungspolitik zu einem solchen Anwachsen der Tätigkeit und Macht der Widerstandsbewegung geführt, "dass praktisch von einem Staat im Staate gesprochen werden kann. Die infolge des Menschenmangels unzureichenden deutschen Bekämpfungsmaßnahmen unterstützten die Widerstandsfähigkeit besonders stark!"W. Jacobmeyer: Widerstand und nationale Selbstbehauptung gegen die deutsche Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg in Polen. In: Gewaltfreie Aktion, 71/72,1987, S. 60. Nun könnte man behaupten: Wenn die Nationalsozialisten den Krieg gewonnen hätten, dann hätten sie ihr Personal auf die Unterdrückung des Widerstands konzentrieren können. Aber wie hätten sie denn die riesigen Territorien ihrer Kriegsgegner besetzen sollen? Einige besonders brutale Vernichtungsmethoden sind - aufgrund der vorliegenden Erfahrungen - auch nur unter Kriegsbedingungen vorstellbar. Es hat in Deutschland auch vor Kriegsausbruch bereits Konzentrationslager und politische Morde in alarmierender Zahl gegeben; doch die eigentlichen Vernichtungslager wurden erst während des Krieges errichtet. Sie fanden in Deutschland wenig Beachtung, weil sich die Aufmerksamkeit auf das Geschehen an den militärischen Fronten konzentrierte. Wenn hingegen in einem diktatorisch regierten Land keine militärischen Kämpfe stattfinden, richtet sich die Aufmerksamkeit im In- und Ausland unweigerlich auf die Existenz der Konzentrationslager. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Besatzungsherrschaft hätte sich bei waffenlosem Widerstand vielleicht über Jahrzehnte hingezogen, vielleicht wäre die deutsche Herrschaft aber auch viel schneller in eine Krise geraten. Die natürliche Sterblichkeit der "Führer" und sich daraus ergebende Nachfolgekrisen sind ein Problem jeder Diktatur. Doch wenn der Widerstand schließlich Erfolg gehabt hätte, dann hätte es auch keinen Grund gegeben, diese Staaten, die sich gewaltlos selbst befreit hätten, militärisch aufzurüsten, und man würde es ihnen heute glauben, dass sie auch in Zukunft allen Versuchen, diktatorische Herrschaft auszuüben, sofort Widerstand leisten würden. Welch eine Errungenschaft wäre es, wenn es heute Staaten gäbe, die aus innerer Stärke keine Waffen wollten, insbesondere aber Atomwaffen als etwas politisch völlig Nutzloses erachten würden! Das war das Indien, von dem Gandhi träumte und für das er auch noch Jahrzehnte mit gewaltfreien Mitteln weitergekämpft hätte. Die Zahl der indischen Satyagrahis war zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit Indiens und der Teilung Indiens viel zu gering, um auf der staatlichen Ebene eine Politik mit gewaltfreien Mitteln zu betreiben. Was bedeutet die Entscheidung Bonhoeffers für den militärischen Widerstand?Ich habe Bonhoeffer als pazifistischen Fragesteller eingeführt, aber es ist bekannt, dass er den pazifistischen Weg, auf den ihn sein Freund Jean Lassere, Autor des Buches "Der Krieg und das Evangelium"War and the Gospel, London 1962. gebracht hat, nicht zu Ende gegangen ist, sondern dass er sich an der militärischen Verschwörung, die am 20. Juli 1944 zum Versuch eines Staatsstreichs führte, beteiligt hat. Ist er darum ein Zeuge für die Unmöglichkeit, den Nationalsozialismus mit gewaltfreien Mitteln zu überwinden? Offensichtlich sind ihm keine erfolgversprechenden gewaltfreien Mittel eingefallen. Doch dies ist kein ausreichender Beweis dafür, dass es diese nicht eventuell doch gegeben hätte. Vielleicht hat er sich nur nicht ausreichend um diese gewaltfreien Mittel gekümmert. Die Entscheidung, die Suche nach gewaltfreien Wegen aufzugeben, ist in jedem Falle willkürlich, nicht zwangsläufig. Man darf sie auf gar keinen Fall religiös überhöhen, was Bonhoeffer auch nicht getan hat. Es gibt in der Bibel Stellen, die den Eindruck göttlicher Schlachtanweisungen erwecken. Gandhi ist auf Vergleichbares in der Bhagawadgita gestoßen. Er hat diesen Basistext des Hinduismus konsequent im gewaltfreien Sinne ausgelegt. Es diente einem guten Zweck, doch methodisch gesehen fand ich sein Verfahren hanebüchen. Solche exegetischen Verrenkungen haben wir bei der Bergpredigt nicht nötig. Doch darüber dürfen wir nicht verdrängen, dass es im Alten Testament Stellen gibt, in denen das Volk Gottes - quasi mit seiner Hilfe - Feinde vernichtet oder die Verfolger ersäuft werden. Wir ziehen das Alte Testament heute im Gottesdienst nur noch selektiv heran. Wir beten einige Psalmen gerne und häufig. Doch es gibt andere, von denen wir nur einige Zeilen ob ihrer poetischen Qualität schätzen, zum Beispiel den Beginn des 137. Psalms "An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hingen wir an die Weiden, die daselbst sind." Doch wenn wir diesen Psalm zu Ende lesen, dann kann es nur noch grausen: "Wohl dem, der deine (Babels) junge Kinder nimmt und zerschmettert sie an dem Stein!" Welch ein Gegensatz zu Jeremia 29,7. "Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe lassen wegführen, und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohl geht, dann geht’s euch auch wohl." Doch man muss nicht das Neue gegen das Alte Testament, also die christlichen Ergänzungen der Heiligen Schrift gegen die hebräische Bibel ausspielen, wenn man die Auffassung vertritt, dass sich Religionen entwickeln können. Heuristische Überlegungen zu den möglichen Entdeckungen fortgesetzter Suche gehören meines Erachtens zu jeder Religion. Darum müssen wir auch mit Bonhoeffers Zeugnis kritisch umgehen. Sonst laufen wir Gefahr, Bonhoeffer noch zum Kronzeugen für die militärische Gewalt als Ultima ratio zu machen. Die ehemaligen Pazifisten, die in bestimmten Situationen Gewalt befürworten, sind für den Pazifismus und die Ethik der Nachfolge eine weitaus bedeutendere Herausforderung als diejenigen, die immer schon Eisen gefressen haben. Der Reifeprozess und Reifegrad des Bonhoefferschen Pazifismus ist bislang nicht ausreichend untersucht worden. Wahrscheinlich hat er sich im Jahre 1934, als er seine berühmte Andacht in Fanö hielt, als prinzipiellen Pazifisten verstanden, zumindest hat er seine Frage so gestellt. Doch unter dem Eindruck der Entwicklung des nationalsozialistischen Terrorregimes hat er sich dann entschlossen, den Versuch, Hitler gewaltsam zu beseitigen, seinerseits zu unterstützen.Ähnliches gilt für Albert Einsteins Entscheidung, nach der Machtergreifung der Nazis im Jahre 1933 in den Anrainerstaaten Nazi-Deutschlands nicht länger die Kriegsdienstverweigerung zu empfehlen. Nach Kriegsbeginn hat er sogar den Bau der Atom-Bombe durch einen Brief an den amerikanischen Präsidenten angeregt. Diese Grundsatzentscheidung hat er nach 1945 revidiert zugunsten der Entwicklung der gewaltfreien Konfliktaustragung. Die Albert Einstein Institution in Boston ist in den USA die wichtigste Forschungseinrichtung für gewaltfreie Konfliktaustragung. Es ist ihm - wie gesagt - nichts Besseres eingefallen; theologisch gerechtfertigt - unter Berufung auf die Lehre Jesu - hat er es meines Wissens nicht. Es ist also auch im Sinne seiner eigenen Theologie der "Nachfolge" durchaus erlaubt, sein Handeln kritisch zu bedenken und nach gewaltfreien Alternativen zu fahnden. Dass noch im Februar 1943 in Berlin durch eine Straßendemonstration von Angehörigen die Freilassung "arisch versippter" Juden erreicht werden konnte, gibt doch zu denken. Fragen wir doch mal ganz unverschämt: Was hat Bonhoeffer denn getan, um die Möglichkeiten des gewaltfreien Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu entdecken und zu entwickeln? Wir wissen nur, dass er nach der Machtergreifung Hitlers zunächst zu Gandhi reisen wollte, um das gewaltfreie Handwerk zu lernen. Dann blieb er jedoch in Deutschland und betrieb in Finkenwalde mehr oder weniger traditionelle Vikarsausbildung - mit Elementen des gemeinsamen Lebens, aber doch ohne jedes explizite Training in gewaltfreiem Handeln. Davon hatte Bonhoeffer - notabene in praktischer Hinsicht - keine Ahnung. Er hielt den Vikaren eine Vorlesung über "Nachfolge". Diese war zwar theologisch und literarisch brillant, aber sie enthielt nicht einmal Spurenelemente der strategisch-taktischen Information über gewaltfreies Handeln in der Nachfolge. Bonhoeffer hatte ein autoritäres Verständnis von "Nachfolge". Jesus ruft und dann marschieren die Jünger hinterher. Dieses autoritäre Verständnis der Nachfolge steht der gruppendynamischen Vermittlung von gewaltfreien Verhaltensweisen im Wege.Zu den Problemen der Gruppendynamik beim Einüben des gewaltfreien Widerstands siehe: Th. Ebert: Ziviler Friedensdienst - Alternative zum Militär. Grundausbildung im gewaltfreien Handeln, Münster: Agenda, 1997. Ich habe auch keine Hinweise darauf, dass man in Finkenwalde wenigstens Gandhi-Texte gelesen hätte, was doch leicht möglich gewesen wäre. In den zwanziger Jahren sind mehr Gandhi-Texte in deutscher Sprache erschienen als zwischen 1945 und 1968. Ich meine ohnehin, dass Bonhoeffer aus dem Studium von Gandhis strategischen Schriften und aus Fallstudien über gewaltlose Kampagnen mehr hätte lernen können als vom bloßen Aufenthalt in Gandhis Umgebung.Ich sage dies auch aufgrund meiner eigenen Eindrücke von Gandhis Ashram in Sevagram im Jahre 1997.Ich verweise auf mein unveröffentlichtes, ausführliches Reisetagebuch und einen zusammenfassenden Bericht in Th. Ebert: Opponieren und Regieren mit gewaltfreien Mitteln. Pazifismus, Bd. 1. Münster 2001, S. 39-70. Die strategische Erörterung mit Gandhi hätte ergiebig sein können, aber warum hat Bonhoeffer denn von Finkenwalde aus nicht an Gandhi geschrieben? Dieser pflegte doch zu antworten. Mir ist hier einiges rätselhaft. Und es gab in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz, in Frankreich und besonders in Großbritannien in kirchlichen Kreisen mehrere Experten auf dem Gebiete der gewaltfreien Konfliktbearbeitung. Auf die niederländischen und belgischen Anarchisten und Sozialisten habe ich bereits hingewiesen. Man kann also auf gar keinen Fall behaupten, dass Bonhoeffer durch den Verzicht auf die Indienreise von der Möglichkeit, sich über die gewaltfreie Konfliktbearbeitung zu informieren, abgeschnitten gewesen wäre. Warum keine Gandhi-Lektüre?Bonhoeffer hätte die wichtigsten strategischen Texte Gandhis aus "Young India" für die Vikare in Finkenwalde nicht einmal übersetzen müssen. Er hätte sie nur beschaffen oder aus seiner eigenen Bibliothek in die Bibliothek von Finkenwalde stellen und dann mit den Vikaren behandeln müssen. Warum hat er es nicht getan? Wahrscheinlich stand er im Banne der herkömmlichen Vikarsausbildung, die auch nach E. Bethges Auskunft - bis auf die Vorlesung über "Nachfolge" - herkömmlichen Mustern folgte. Die Lektüre von Gandhi-Texten zum Teil der Vikarsausbildung zu machen, wäre auch in der Bekennenden Kirche etwas Unerhörtes gewesen. Es gab zwar auch in kirchlichen Kreisen eine gewisse Gandhi-Rezeption, doch dieser ging es meist um apologetische Abgrenzungen des Christentums von Gandhis Lehren, kaum um Fragen der Strategie und Taktik der gewaltfreien Aktion.Vgl. Beate Jahn: Politik und Moral. Gandhis Herausforderung für die Weimarer Republik. Kassel: Weber, Zucht & Co, 1993. Ich erinnere mich, dass erst in der Folge der APO von 1968 und als Reaktion auf die weiterhin konservative theologische Ausbildung an der .Kirchlichen Hochschule in Berlin die Sozialwissenschaftlichen Studien in die Ausbildung am Praktischen-Theologischen Ausbildungsinstitut der Berliner Kirche eingegliedert wurden - eine Errungenschaft, die nach der Wende von 1989 wieder verschwand. Als der konsequente Pazifist und spätere evangelische Märtyrer der Kriegsdienstverweigerung Dr. Hermann Stöhr das Predigerseminar in Finkenwalde besuchte, kam es zu keinem fruchtbaren Gedankenaustausch mit Bonhoeffer und auch zu keinen Widerstandsverabredungen im Sinne der gewaltfreien Aktion. Dafür gibt es sicher mancherlei Gründe. Stöhr verfolgte in der Ökumene eine etwas andere Linie als Bonhoeffer. Doch dass die Möglichkeiten der gewaltfreien Aktion in Finkenwalde nicht einmal erörtert wurden, und Bonhoeffer in der Zeit nach Finkenwalde für diese Methoden wohl zunehmend unsensibel wurde, erkläre ich mir damit, dass er einen Strategiewechsel und in dessen Folge auch Milieuwechsel vollzogen hatte und damit für gewaltfreie Alternativen mental blockiert war. Er befasste sich zunehmend mit der Frage, ob und wie Hitler von seinen Freunden in Offiziers- und Adelskreisen gewaltsam gestürzt werden könnte. Verständlich war dies, denn er war bitter enttäuscht vom Lavieren und dem Anpassungskurs der sogenannten Bekennenden Kirche. Zu pazifistischen Basisorganisationen hatte er wenig Kontakt. Man müsste dies mal untersuchen. Wie hat sich das Verhältnis zu Jean Lassere entwickelt? Hat er mit Pazifisten Briefe gewechselt? Das Tragische ist, dass Bonhoeffer es anscheinend aufgegeben hat, nach einer gewaltfreien Strategie des Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu suchen. Wahrscheinlich hat es für Bonhoeffer im Zusammenhang mit der Anwendung des gewaltlosen Widerstands den Begriff der "Strategie" gar nicht gegeben. Diese Sicht der Anwendung von Satyagraha hätte er in Indien bei Gandhi und Nehru eventuell lernen können.Siehe Gene Sharp: Gandhi as a Polical Strategist with Essays on Ethics and Politics. Boston: Poter Sargent Publishers, 1979. Bei historischer Betrachtungsweise muss man aber auch feststellen, dass das strategische und taktische Denken im Blick auf den Einsatz gewaltfreier Aktionen erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzte. Die Vorstellung, dass es auf dem Felde der gewaltfreien Aktion ein Pendant zu Carl von Clausewitz "Vom Kriege" bedürfe, war dem europäischen und amerikanischen Pazifismus - auch einem Jean Lassere - noch ziemlich fremd. Der wichtigste Pionier des strategischen Denkens war Krishnalal Shridharani, dessen "War without Violence. A Study in Gandhi’s Method and its Accomplishments" aber auch erst 1939 bei Harcourt, Brace und Company in New York erschien. Wenn also Bonhoeffer nicht einen eigenen, originellen Durchbruch zum strategischen Denken - eventuell in einer Kombination von gewerkschaftlichen Erfahrungen und Konzepten Gandhis geschafft hätte, dann wäre die wahrscheinlichste Folge einer anhaltenden Beschäftigung mit gewaltfreiem Widerstand die Frage gewesen, wie er persönlich und die Christen sich zur Kriegsdienstverweigerung stellen sollten. Das schließe ich aus der Untersuchung des Weges von Hermann Stöhr.Eberhard Röhm: Sterben für den Frieden. Spurensicherung: Hermann Stöhr (1898-1940) und die ökumenische Friedensbewegung. Stuttgart: Calwer Verlag, 1985. Wenn Bonhoeffer sich für die Kriegsdienstverweigerung entschieden hätte, dann wäre die Signalwirkung sicher weitaus größer gewesen als im Falle von Stöhr. Wahrscheinlich hätte ihn die NS-Justiz ähnlich behandelt wie Dr. Stöhr, aber die Kriegsdienstverweigerung des Theologen Dr. habil. Dietrich Bonhoeffer, der aus einer angesehenen Familie stammte, wäre für die Evangelische Kirche eine weit größere Herausforderung gewesen als die Kriegsdienstverweigerung und Verurteilung des unbekannten Sozialwissenschaftlers Dr. Hermann Stöhr. Möglicherweise hätte eine Kriegsdienstverweigerung Bonhoeffers erhebliche Weiterungen gehabt und wahrscheinlich hätte Bonhoeffer ähnlich wie Stöhr auch noch die Möglichkeit gehabt, seine Entscheidung zu begründen. Und ich bin sicher, dass entsprechende Briefe und Ausarbeitungen in der Nachkriegszeit keine geringere Rolle gespielt hätten als die Sammlung seiner Zeugnisse in "Widerstand und Ergebung". Wir sollten uns hüten, hier nachträglich vom Schreibtisch aus eine Martyriumsempfehlung abzugeben. Wenn unsereiner sich fragt, was er an Stelle Bonhoeffers getan hätte, dann wird man sich wahrscheinlich eingestehen, dass man gar nicht erst nach Deutschland zurückgekehrt wäre, sondern die Bonhoeffer angebotene Dozentur in den USA angetreten hätte. An seiner Stelle hätte ich dies wahrscheinlich getan und wäre dann beim Kriegseintritt der USA vor der Frage gestanden, ob und wie ich für mein Krieg führendes Gastland Partei ergreife. Viele Emigranten haben dies getan bis hin zur Rechtfertigung des Bombardements deutscher Städte. Doch es hat vor und nach dem amerikanischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg einen amerikanischen Pazifismus gegeben. Eine herausragende Figur des amerikanischen Pazifismus und potentieller Gesprächspartner Bonhoeffers wäre Abraham Johannes Muste gewesen. Er hatte im Ersten Weltkrieg wegen seiner pazifistischen Position sein Pfarramt aufgeben müssen und war dann während des Zweiten Weltkriegs für die International Fellowship of Reconciliation tätig, der auch Hermann Stöhr angehörte.Th. Ebert: Abraham Johannes Muste (1885-1967). In: Hans Jürgen Schultz (Hg.): Liebhaber des Friedens, München:dtv, 1989,S. 74-85. Wenn man sich auf die Suche nach Alternativen einlässt, dann gerät man von einer Spekulation in die andere und von einem Szenario in das nächste. Doch es ist sinnvoll, solche Fragen zu stellen. Jede Entscheidung kennt ihre Dilemmata. Im Blick auf die Entscheidung Bonhoeffers muss ich feststellen: Mit dem Entschluss, an der Verschwörung der Militärs teilzunehmen, setzte Bonhoeffer auch seiner Fähigkeit, gewaltfreie Lösungen im Sinne der Fragen von Fanö und auf der Spur der Bergpredigt zu suchen, ein Ende. Er hörte auf, auf diesem Felde kreativ zu sein. Die mentale Blockade ging meines Erachtens sogar soweit, dass er nicht mehr wahrnahm, was selbst in seiner unmittelbaren Umgebung sich auf dem Felde der gewaltlosen Aktion ereignete. Er war im Februar/März 1943 in Berlin, als durch die "Fabrikaktion" die in der Rüstungsindustrie tätigen Juden sämtlich festgenommenen Sammelstellen gebracht und nach Auschwitz transportiert wurden. Damals haben in der Rosenstraße tausende Frauen gegen den Abtransport ihrer "arisch versippten" Männer demonstriert und nach einer Woche Straßendemonstration ihre Freilassung erreicht. Infolge solcher Proteste von Ehefrauen wurden sogar einige bereits nach Auschwitz Abtransportierte wieder nach Deutschland zurückgebracht.Gernot Jochheim: Frauenprotest in der Rosenstraße, Berlin 1993. Nathan Stoltzfus: Widerstand des Herzens. Der Aufstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße 1943. Aus dem Amerikanischen von Michael Müller. München: Hanser 1996. Wir haben kein Indiz dafür, dass Bonhoeffer diesen Frauenprotest auch nur wahrgenommen, geschweige denn unterstützt hätte. Er war durch seine Entscheidung für die militärischen Mittel ganz und gar eingebunden in das Amt Canaris und in die Verschwörung, welche durch Attentate, die Mitte März erfolgen sollten, Hitler zu beseitigen und den Krieg zu beenden suchte. Anfang April wurde Bonhoeffer dann verhaftet. Darf man da nicht fragen: Was hätte es bedeutet, wenn ein Mann von der Energie und dem intellektuellen Format Dietrich Bonhoeffers eine Grundsatzentscheidung für die gewaltfreie Aktion gefällt und im Sinne dieser Strategie alles zu bewegen gesucht hätte, was zu bewegen war? Es ist zu banal, wenn man jetzt behaupten wollte, dass im Dritten Reich mit gewaltfreien Mitteln nichts zu bewegen war.Siehe dazu die neue Studie der Werkstatt für gewaltfreie Aktion (Hrsg.): Gewaltfrei gegen Hitler. Gewaltloser Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seine Bedeutung für heute, 76185 Karlsruhe, Alberichstr. 9, 117 S. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis der erfolgreiche Protest in der Rosenstraße nicht länger aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde. Er passte nicht ins offizielle Bild, zu dem als Rechtfertigung für Anpassung und Unterwerfung gehörte, dass öffentlicher Protest gegen den NS-Regime aussichtslos gewesen sei und quasi automatisch zur Vernichtung der Beteiligten geführt habe. Dafür gab es sicherlich viele grauenhafte Belege, aber der militärische Widerstand war auch nicht ohne Risiko und war in der Konsequenz des gescheiterten Versuchs am 20. Juli 1944 erschreckend kostspielig. Milieubedingtheit von Bonhoeffers EntscheidungIch erörtere das hier, weil ich mich gegen die fatalistische Geschichtsbetrachtung wende. Ich bin aus pazifistischer Sicht nicht davon überzeugt, dass Bonhoeffer die einzig mögliche und einzig sinnvolle Entscheidung getroffen hat, als er sich den Versuchen, Hitler mit militärischen Mitteln zu beseitigen, anschloss. Und wenn uns heute die militärische Sicht der Dinge durch die Verehrung für Bonhoeffer auferlegt werden soll, dann müssen wir eben auch Bonhoeffer kritisieren, denn letzten Endes ist das Offenhalten von Martin Niemöllers Frage "Was würde der Herr Jesus dazu sagen?" und der Fragen Bonhoeffers in Fanö wichtiger als die Legitimierung dessen, was Bonhoeffer getan hat. Wir haben heute viel umfangreichere Möglichkeiten, uns über die gewaltfreien Mittel zu informieren und uns in deren Gebrauch zu üben. Wahrscheinlich werden uns die kommenden Generationen dann auch Versäumnisse vorwerfen, wie ich jetzt Bonhoeffer vorgehalten habe, was er versäumt hat. Bonhoeffer hat in einem bestimmten Milieu gelebt. Dort war die Suche nach gewaltfreien Strategien nicht üblich. Das galt für die Evangelische Kirche und das galt auch für die Kreise seiner großbürgerlichen Verwandtschaft und die seiner adligen Verlobten. Es braucht einen also nicht zu wundern, dass er nach der verpassten Reise zu Gandhi sich das gewaltfreie Handeln nicht als Autodidakt angeeignet hat. Es ist erstaunlich, wie weit er gedanklich - trotz dieser Einbindung in ein bestimmtes Milieu - gekommen ist. Im Vergleich dazu sind unsere heutigen gedanklichen Eskapaden in Richtung Soziale Verteidigung und Ziviler Friedensdienst nur Stümperei. Doch darauf kommt es jetzt nicht an. Wichtig ist, dass wir begreifen, welche großen Möglichkeiten wir - im Unterschied zu ihm - heute haben und dass wir sie dann auch nutzen. Meine Lehre als Konfliktforscher - zusammengefasst in den beiden neuen Büchern über den Pazifismus - läuft darauf hinaus, dass es gute Gründe dafür gibt, sich grundsätzlich für eine Politik mit gewaltfreien Mitteln zu entscheiden und sich darauf persönlich festzulegen, so dass die Menschen in der eigenen Umgebung wissen, woran sie mit unsereinem sind. Man hat dann nicht Patentrezepte für alle Konfliktsituationen, aber man weiß die Richtung, in der man zu suchen hat. Ob einem dann etwas Erfolgversprechendes einfallen wird und ob man den Mut haben wird, es auch zu tun, weiß man nicht im Voraus. Aber das ist ja ein alter Spruch von einem gewissen Jesus: Suchet, so werdet ihr finden. Klopfet an, so wird euch aufgetan. Theodor Ebert, geb. 1937 in Stuttgart. Bis 2002 lehrte er am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin Politische Wissenschaft mit Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung. Von 1982 bis 1996 war er Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirchen in Berlin und Brandenburg. Seit 1969 Herausgeber von "Gewaltfreie Aktion. Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit". FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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