Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Martin Niemöller: Gegen das Europa der Reichen

Vor 125 Jahren, am 14. Januar 1892, wurde Martin Niemöller in Lippstadt geboren. Er war U-Bootkommandant im Ersten Weltkrieg, Pfarrer, führender Vertreter der Bekennenden Kirche, persönlicher Gefangener Adolf Hitlers, Kirchenpräsident sowie Präsident im Weltrat der Kirchen und ein leidenschaftlicher Friedensaktivist. Martin Niemöller, der am 6. März 1984 in Wiesbaden starb, führte ein Leben im Widerstand und mit Widersprüchen. Anlässlich seines 125. Geburtstags erinnern wir an diese bedeutsame Persönlichkeit nachfolgend mit einem Beitrag, den Martin Niemöller im Mai 1977 für die französische Zeitung "Le Monde" geschrieben hat."Le Monde" vom 16.05.1977. Übersetzung aus dem Französischen von. Klaus Geyer und Sylvia Zacharias.

Gegen das Europa der Reichen

Von Martin Niemöller

Ich kann einem so unvollständigen und parteiisch konstruierten Gebilde den Namen "Europa" nicht geben; und ich habe auch die Unterzeichnung des Nordatlantischen Paktes (NATO), welche ein paar Jahre später die Geburt des Warschauer Paktes provozierte, immer lebhaft bedauert. Von einem "Europa" zu sprechen, ist schon deshalb eine Täuschung, als dieses nur sechs bzw. neun Staaten umfaßt, nicht aber den organisatorischen Zusammenschluß aller Länder zwischen dem Atlantik und dem Ural. Man versucht, uns damit zu teilen: nicht mehr nur in Nationen, sondern jetzt auch noch in Interessengruppen, die gegeneinander abgerichtet werden. In einer Situation, wo sich allein die Frage danach stellt, ob die Menschheit überleben kann oder nicht, ist dies besonders beklagenswert.

Im Jahre 1945 hatte ich mir gewünscht - und ich habe dies damals in einer Denkschrift den Amerikanern gegenüber niedergelegt -, daß Deutschland aus den Konflikten und Frontstellungen der Nachkriegszeit herausgehalten werden könnte. Aber man brauchte die deutsche Armee; denn man hatte schon verstanden, daß von nun an kein europäisches Volk mehr so verrückt sein würde, sich schlagen zu  wo1len. Keines - ausgenommen das unsere, leider!

Nur voller Traurigkeit kann ich mich heute in einer französischen Zeitung an die Europäer wenden, um an sie zu appellieren, die Verfassung eines Europas zurückzuweisen, in dem notwendigerweise diejenigen dominieren würden, die mein Land in Wirklichkeit regieren: Bankiers und Industrielle. Ich tue dies, weil von neuem sie es sind, die eine Bedrohung für die Freiheiten und den Fortschritt der europäischen Völker wie der verelendeten Massen in der Dritten Welt darstellen.

Wie weit es mit uns gekommen ist, kann man am System der "Wanzen in den Mauern" sehen (Mikrophone zum Abhören), das mir noch sehr gut aus der Zeit Hitlers bekannt ist und nun wieder allgemein praktiziert wird. Berufs"verbote" breiten sich aus wie eine Pest. Und wenn - wie die hessischen Landtagswahlen es anzeigen - demnächst die Christdemokraten die sozialdemokratische Partei in der Regierung ablösen, dann wird dies alles noch schlimmer werden. Es gibt schon genügend Zeichen, daß wir dabei sind, ein Polizeistaat zu werden, in dem die Polizei dem Kapital zu Diensten ist - oder vielmehr den Herren der Wirtschaft, der Produktion und des Profits. Mit einem Mal erscheint die geringste Opposition bereits wie eine Majestätsbeleidigung gegen den Staat. Unsere Gedankenfreiheit ist abgeschafft: wir haben kein Recht mehr, das zu denken, was wir wollen, sondern nur noch das aufzusagen, was uns die Mächtigen diktieren.

Dies alles ist besonders bedenklich, wo es um die wesentlichen Fragen unseres nationalen Lebens geht: es ist nicht mehr erwünscht, daß das Volk sich zu diesen Lebensfragen, die seine Gegenwart und Zukunft betreffen, äußert - insbesondere wenn es sich um Atomfragen handelt. Die Engländer sagen: "Right or wrong, my country"; bei uns dagegen ist das Maß für Recht oder Unrecht das Portemonnaie!

Die Sozialdemokraten, die mit der Annahme des Godesberger Programms aufgehört haben, Sozialisten zu sein, sind heute auch keine demokratische und volksverbundene Partei mehr. Bald werden sie von den Christdemokraten abgelöst sein, von denen sie bereits heute nichts Wesentliches mehr trennt. Und das wäre nur gerecht. Wären sie nämlich klug gewesen, dann hätten sie die Macht abgegeben, bevor sich die ökonomische Situation verschärfte. So aber werden die anderen keine Mühe haben, ihren Platz einzunehmen.

Die europäischen Sozialisten sollten gut darüber nachdenken, was das für ein Europa wäre, in dem die Vereinigten Staaten und eine von der CDU regierte Bundesrepublik die Führung hätten. Wer kann dann noch glauben, daß es gelänge, die wichtigste Zukunftsaufgabe anzupacken, nämlich mit Unterstützung der Gewerkschaften die Wirtschaft so zu kontrollieren und zu organisieren, daß jeder lebende Mensch auf dem Planeten sein Existenzminimum erhält? Wichtigstes Kennzeichen einer Regierung, die auf die Unterstützung der Volksmassen und die Achtung der kommenden Generationen aus wäre, hätte die Verantwortung für die gesamte Menschheit zu sein. Zur Zeit aber sorgt man sich nur um den Profit: interessant sind allein die Konsumenten, die gut zahlen; die anderen können zum Teufel gehen oder den Hungertod sterben - was aufs selbe hinauskommt.

Wenn ein Wirtschaftsprogramm von seinem Grundsatz her das Ziel hätte, die hungernden Massen zu ernähren, also die Produktion und gerechte Verteilung der lebensnotwendigen Güter zu organisieren, dann wäre dies ein wirklich sozialistisches Programm, ganz gleich mit welchem Etikett es versehen wäre. Und es hätte meine Unterstützung. Im Augenblick sehe ich jedoch nirgends eine Chance, weder in Europa noch anderswo, daß ein solches Bewußtsein universeller Verantwortung zur treibenden Kraft in der Politik werden könnte. Ich wünschte, die UNO wäre ein entsprechendes Verwaltungsorgan und hätte die vornehmste Aufgabe, jedem Menschen sein Existenzminimum zu sichern und die Regierenden immer wieder an diesen ersten Zweck jeden politischen Handelns zu erinnern. Es wird jetzt entscheidend darauf ankommen, nationalistische oder Block-Interessen einzudämmen, und auch darauf, daß die Reichen aufhören, ihre Privilegien auf Kosten der anderen zu erhalten und auszubauen. Alle Anstrengungen von einzelnen und Organisationen, die nicht auf Regierungsebene arbeiten, können jedoch nicht die Tendenz wenden; was die Europäer fertig bringen müssen, ist vielmehr eine Änderung von Strukturen und eine Verwandlung der Mentalitäten. Sonst werden sie eben dieses verbrecherische Spiel weiterspielen, ihre partikularen Annehmlichkeiten auf den "Schwingen der Arbeitslosigkeit" zu befestigen und auszubauen: durch die Ausplünderung der armen und langsam strangulierten Länder steht ihnen immer ein wichtiges Reservoir an billiger Arbeitskraft zur Verfügung.

* * *

Für mich bedeutet all dies die lebendige Verneinung jeder Demokratie. Ehemals waren es die preußischen Junker, die wir als Sklavenhalter und -händler bezeichneten; heute trifft diese Bezeichnung für ganze Nationen zu und ich kann mich kaum darüber freuen, wenn solche "Sklavenhalter"-Regierungen uns die allgemeine Wahl eines Europa- Parlaments vorschlagen, dessen wichtigste Aufgabe es sein wird, die Herrschaft der Reichen über die Welt weiter auszubreiten und zu befestigen. Zu diesem Europa der Reichen kann ich nur sagen: ich weise es zurück.

Es ist im übrigen nicht verwunderlich, daß es sich um ein nuklear es Europa handelt. Lassen Sie mich ein Problem genauer bezeichnen: ich kann die Politik der Bundesrepublik nicht gutheißen, wenn sie zur Produktion der Atombombe durch so gefährliche Regierungen wie die in Südafrika und Brasilien mit beiträgt und wenn sie sich jetzt anschickt, im Gefolge der amerikanischen Politik und unter Verletzung der Verträge unsere Armee mit Atomwaffen auszurüsten. Von noch größerer Bedeutung scheint mir aber die Tatsache zu sein, daß sich heute schon das kleinste europäische Land genauso wie jedes dazu entschlossene Land in der Dritten Welt mit einer solchen alles verspottenden wie schreckenserregenden Bewaffnung ausrüsten kann. Wer von nun an den Krieg will, kann auch die Bombe haben - es ist nur noch eine Geldfrage. Und weder die Parlamente noch die öffentliche Meinung haben bei dieser Entwicklung mitsprechen dürfen - nicht einmal dort, wo es die Einrichtung der Volksabstimmung gegeben hat. Damit haben die Systeme demokratischer Volksvertretung, auf die der Westen immer so stolz gewesen ist, ihren Konkurs erklärt.

* * *

Weit ernster aber als dieses Spiel mit den Möglichkeiten, die Menschheit zu vernichten, ist die totale Abwesenheit jedes Verantwortungsgefühls, die hier zum Ausdruck kommt. Stellen wir uns nur einen Augenblick vor, Hitler hätte über ein atomares Arsenal verfügt . . ! Lassen Sie mich an dieser Stelle einen authentischen Ausspruch zitieren, den Einstein einmal gegenüber einem meiner Freunde in Princeton getan hat. Als die beiden an einem Friedhof vorbeikamen, wandte sich Einstein plötzlich um und sagte: "Auf meinem Grabstein soll geschrieben stehen: "Hier ruht ein Gauner wider Willen." Und in der Tat: auf einem wissenschaftlichen und technischen Gaunertum, dessen Grundlage eine dem Geld verpflichtete Wissenschaft ist, beruht heute die ganze Politik der reichen Länder. Man trifft Entscheidungen, man schafft Tatsachen, deren Konsequenzen man nicht kennt oder nicht kennen will: Konsequenzen, die zumindest unvorhersehbar und unberechenbar sind und die Existenz zukünftiger Generationen noch über Jahrtausende ständig in Frage stellen können. Es ist offensichtlich, daß jeder Nuklear-Staat zwangsläufig wegen der hier drohenden Gefahren zu einem Polizei-Staat werden muß - wie der unsere. Doch keine Polizei wird jemals in der Lage sein, uns vor den Folgen unserer unverantwortlichen Entscheidungen von heute zu schützen. Wäre ich jünger, würde ich deshalb an allen Demonstrationen gegen den Bau und die Inbetriebnahme von Atomkraftwerken teilnehmen. Diese wichtigen Kundgebungen sind für mich ein gewisses Hoffnungszeichen: nämlich Zeichen für das Erwachen eines neuen verantwortlichen politischen Gewissens.

Ein paar einfache Dinge muß man heute immer und immer wieder sagen: der Mensch ist nicht ein isoliertes Individuum, sondern zuallererst ein gesellschaftliches Wesen. Von daher stellt sich als erste Frage: Wie werden wir zusammenleben? Die Wahrnehmung der Verantwortung für die gesamte Menschheit ist unser einziger wirklicher Schutz. Jeder Wille, andere zu beherrschen, kann wie jede imperialistische Politik doch am Ende nur zur großen Katastrophe führen. Die Menschen werden sich der Grenzen ihres Wissens wie auch der unbegrenzten Gefahren, in die sie durch ihr Nichtwissen geraten, bewußt werden müssen. Und deshalb muß gesagt und entsprechend entschieden werden: wir stoppen jeglichen Bau von Atomkraftwerken und jede nukleare Produktion, bis wir wirklich deren Folgen für unsere Nachkommen kennen. So und nicht anders lese und verstehe ich jedenfalls das Evangelium im Kontext des Europas der Reichen.

Wir müssen lernen, im Zeithorizont von Generationen und unter einer planetarischen Perspektive zu denken. Wir müssen für die Menschheit, im historischen wie im geographischen Sinne, verantwortlich sein und endlich Raum und Zeit ernst nehmen: den Raum, den wir schamlos verwüsten, und die Zeit, die denen gehört, die nach uns kommen, - falls wir ihr Dasein nicht schon im voraus in eine Hölle verwandelt haben. Ein blinder Glaube an das materielle Wachstum, das sich ungeschoren sein Teil vom Mehrprodukt nimmt, ist ebenso radikal anzugreifen wie die Übermacht einer Minderheit und die wachsende Unterentwicklung, d. h. der Hungertod unzähliger Menschen. Einer Zivilisation, die sich weigert, den Armen Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, also drei Vierteln der Bewohner dieses Planeten, kann man kaum das Prädikat "frei" geben.

Die Front der Reichen muß zerbrochen werden! Eine brüderliche Menschheit ist zu bauen!

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, März 1978, 39. Jahrgang, S. 123ff.

Fußnoten

Veröffentlicht am

15. Januar 2017

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