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Martin Niemöller: Christenheit in der Welt

Vor 125 Jahren, am 14. Januar 1892, wurde Martin Niemöller in Lippstadt geboren. Er war U-Bootkommandant im Ersten Weltkrieg, Pfarrer, führender Vertreter der Bekennenden Kirche, persönlicher Gefangener Adolf Hitlers, Kirchenpräsident sowie Präsident im Weltrat der Kirchen und ein leidenschaftlicher Friedensaktivist. Martin Niemöller, der am 6. März 1984 in Wiesbaden starb, führte ein Leben im Widerstand und mit Widersprüchen. Anlässlich seines 125. Geburtstags erinnern wir an diese bedeutsame Persönlichkeit nachfolgend mit einem Vortrag, den Martin Niemöller  am 18. Juni1972 in Bad Dürrenberg (DDR) und am 7. September 1972 in Braunlage (Harz) gehalten hat. 

Christenheit in der Welt

Von Martin Niemöller

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Bild der Welt, in der wir leben und zu der wir gehören und die von unserm Herrn Jesus Christus seiner Gemeinde als Missionsfeld zugewiesen wurde, gewaltig verändert, und wir Christen empfinden wieder sehr deutlich, dass hinter dem Christuswort "In der Welt habt ihr Angst"Joh. 16,33. auch nach bald zweitausend Jahren noch eine ernstzunehmende Wirklichkeit steht.

Es ist uns alten Leuten heute kaum noch vorstellbar, mit welcher selbstverständlichen Sicherheit unsere Väter und wir selber zu Beginn dieses Jahrhunderts damit rechneten, dass mit den schnellen und bahnbrechenden Fortschritten innerhalb der sogenannten "christlichen Welt" auch der christliche Glaube sich mit wachsender Schnelligkeit über die ganze Erde hin ausbreiten würde, so dass der Tag nicht mehr gar so fern sein könnte, an dem es nur noch eine Religion, nur noch einen Glauben unter uns Menschen geben würde.

Von diesem Optimismus waren die großen christlichen Zusammenkünfte - wie etwa die Welt-Missions-Konferenz von Edinburgh im Jahre 1910 - getragen, und an dieser zuversichtlichen Hoffnung konnte selbst der erste Weltkrieg nichts ändern. Vielmehr besann man sich, als er schließlich 1918 zu Ende gegangen war, in weiten Kreisen der Christenheit darauf, dass wir Christen als Jesu Jünger mit unseren Kirchen doch "Salz der Erde" und "Licht der Welt"Matth. 5,13 f. sein sollen. Und so wurde angesichts dieser gemeinsamen Berufung und Verantwortung der Drang nach weltweiter ökumenischer Gemeinschaft (im Glauben wie im Handeln) lebendig, ein Drang, den auch der zweite große Krieg nicht hat unterdrücken können.

Mit 1946 begann das "ökumenische Zeitalter", als sich die Kirchen in den Ländern der Siegermächte mit den Kirchen in Deutschland und in den Ländern, die auf Hitlers Seite mitgekämpft hatten, wieder zusammenfanden, um den Auftrag ihres gemeinsamen Herrn nun auch gemeinsam anzufassen und zu erfüllen. 1948 in Amsterdam wurde der "Ökumenische Rat der Kirchen" - gewöhnlich "Weltkirchenrat" genannt - begründet, der von Anfang an in enger Verbindung mit dem Internationalen Missionsrat plante und arbeitete, der dann später auch eine Abteilung im Weltkirchenrat wurde.

Noch aber standen große Kirchen abseits, ohne sich an der allen Jüngern Jesu, also auch allen ihren Kirchen, gegebenen Aufgabe in Zusammenarbeit mit den andern zu beteiligen. Das waren auf der einen Seite konfessionell intolerante Gruppen lutherischer wie baptistischer Kirchen in Nord-Amerika, auf der anderen Seite die russisch-orthodoxe Kirche und die anderen Kirchen im sowjetischen Bereich. Das wurde anders mit der dritten Weltkirchenversammlung 1961 in Neu-Delhi. Damals wurde die russisch-orthodoxe Kirche als Mitglied in den Weltkirchenrat aufgenommen, der die übrigen orthodoxen Kirchen der östlichen Welt alsbald folgten. In Neu-Delhi wurden auch die Anträge von zwei südamerikanischen Pfingstkirchen auf Mitgliedschaft angenommen, so dass mit Ausnahme einzelner Teilgruppen, jetzt alle christlichen Kirchen, die Jesus Christus als Gott und Heiland bekennen, in der Ökumene beieinander sind. Nur die größte, die Römisch-Katholische Kirche, steht immer noch draußen, obgleich die lose Fühlung, die schon vorher aufgenommen war, mit dem Amtsantritt Johannes XXIII. wesentlich enger wurde, indessen unter Paul VI., trotz seiner sympathischen Anteilnahme, bislang nicht zu einer offiziellen Mitgliedschaft geführt hat. Und bis dahin mag es auch noch eine ganze Weile dauern.

Jedenfalls ist auch zwischen der Römisch-Katholischen Kirche und der übrigen Christenheit die Zeit des erbitterten Geltungskampfes vorüber; und die gesamte Christenheit ist - wenigstens in ihren leitenden kirchlichen Instanzen - gewillt, "gemeinsam zu erfüllen, wozu sie berufen ist", wie das seit 1961 in der "Basis", dem Grundartikel des Ökumenischen Rates, zu lesen steht.

Damit wurde - wenigstens ist das mein Verständnis dieser (gar nicht einmal geplanten) Entwicklung - zugegeben und anerkannt, dass die Kirche (oder wie immer wir die auf Erden lebende Schar der an Jesus Christus glaubenden Menschen, der "Christen", nennen mögen) nicht für sich selber da ist, sondern für ihren Herrn, dem sie zugehört, und damit für die Aufgabe, die dieser Herr ihr aufträgt. Es war die "Bekennende Kirche", die in der Erkenntnis ihrer Schuld, ihrer Unterlassungssünden, zu dem Schuldbekenntnis von 1945 und von da zu der klaren Überzeugung geführt wurde, dass die Kirche, die Christenheit, gerufen und beauftragt ist, "Kirche für die Welt" zu sein. Wir hätten das früher wissen können und sollen, und heute drückt uns die Sorge - und oft will es mehr sein als Sorge, oft will es zur Angst werden -, ob wir unsere Schuld nicht zu spät erkannt und unsere Schuldigkeit nicht zu spät zu erfüllen begonnen haben?

Wir Christen sind dieser Welt, dieser Menschenwelt, in der wir leben und für die unser Herr Jesus Christus uns am Ende seiner Erdentage einen Auftrag hinterlassen hat, vieles von diesem Auftrag schuldig geblieben. Wir hätten dieser Welt die Frohe Botschaft, das "Evangelium", bringen und bezeugen sollen, die Botschaft nämlich, dass Gott uns als Mensch in dem Menschen Jesus begegnen und uns in seiner Nachfolge (das heißt im gelebten Glauben an ihn) zu wahren Menschen werden lassen will, zu Menschen, die er, der Vater, als seine Kinder annimmt und die er an seinem Leben teilnehmen lässt. Das meint Erlösung von aller Sorge um uns selber, von Sünde und Schuld, von Angst und Verzweiflung; das meint Befreiung zu Vertrauen und Hingabe an ihn, zu einem wirklich persönlichen Verhältnis, das uns mit allen, die er liebt, in brüderlicher Liebe, also in Freiheit, verbindet. Und das ist die Erfüllung unseres Sehnens nach Mitmenschlichkeit, Ohne die es keine rechte Menschlichkeit und keine wahre Gotteskindschaft gibt und geben kann! Was aber haben wir aus diesem Angebot, aus diesem Auftrag gemacht oder stillschweigend werden lassen?! "Die Christen müssten mir erlöster aussehen, wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte!" So hat einmal vor bald hundert Jahren ein deutscher Philosoph und Dichter gesagt und hat damit wohl einen sehr wunden Punkt angerührt, der uns daran erinnert, was wir der "Welt" schuldig geblieben sind!

Dies Bewusstsein, dass die Gemeinde Jesu Christi der gesamten Menschheit, der ganzen Welt gegenüber eine unabdingbare Verpflichtung zum Dienen hat, ist heute wohl in der ganzen Christenheit wachgeworden und hat den in langen Jahrhunderten gewachsenen Herrschaftsanspruch der Kirche als einen ganz unchristlichen Selbstbetrug entlarvt. Jesus wurde zum Herrn, weil er sich selbst "entäußerte", nicht für seine eigenen Interessen, nicht für sich selbst lebte, sondern, dem Willen des Vaters gehorsam, sein Leben zum Dienst und Opfer für den Nächsten, für seine Mitmenschen hingab. "Darum hat ihn auch Gott erhöht und ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist."Phil. 2.9. - Dass die Christenheit nur leben kann, wenn sie "Kirche für die Welt" ist und nicht für sich selber lebt und nicht auf die Erhaltung ihres eigenen Lebens aus ist ("Wer sein Leben erhalten will, …, Matth. 16,25), das wird heute in keiner christlichen Kirche mehr bestritten. Das heißt jedoch nicht, dass die Versuchung nun etwa ein für allemal abgetan und überwunden wäre: sie kommt immer wieder und in immer neuer Gestalt an uns heran.

Wir haben uns einmal - und noch in meiner Generation - eingebildet, die Christenheit bedeute etwas in der Welt, einfach schon deshalb, weil sie unter allen Religionen zahlenmäßig die größte war und ist. In der Hitlerzeit mussten wir erkennen, dass diese Annahme eine absolute Fehlspekulation gewesen war: in dem Augenblick, als Christentum nichts mehr galt, weil es in der Öffentlichkeit und von den weltlichen Machthabern als nutzlos oder gar als schädlich hingestellt wurde, als "man" den Gottglauben oder auch einen im Grunde gottlosen, nationalistischen Idealismus propagierte, da hagelte es Kirchenaustritte, wie es dann nach 1945, als der Wind von der anderen Seite wehte, wieder Tausende von Wieder-Eintritten in die Kirchen gab.

In den letzten 27 Jahren haben die christlichen, etablierten Kirchen - heute müssen wir sagen: leider! - eine Rolle gespielt, die ihnen in keiner Weise zukam. Die Christenheit ist - auch in den "christlichen" Völkern und Ländern - noch niemals eine Majorität gewesen, auch da nicht, wo jeder Untertan oder Bürger als "Christ" getauft war und als Glied einer christlichen Kirche registriert wurde. Und die heutigen christlichen Kirchen würden - nach meiner Überzeugung -, wenn man sie fragen würde, so gut wie ausnahmslos zugeben müssen, dass sie - was ihren Mitgliederbestand angeht - durchaus keine Jüngergemeinde Jesu sind oder auch nur sein wollen. Was sich bei uns - besonders bei uns in der "westlichen Welt", zu der ich ja nun gehöre - "Kirche" nennt, das ist ein, zahlenmäßig und verhältnismäßig, sehr großer Kreis von Menschen, die einmal getauft, vielleicht auch konfirmiert wurden und eine - wie sie meinen - "christliche" Weltanschauung vertreten, weil sie eine andere vielleicht nie kennengelernt oder auch über die ihnen überlieferte niemals nachgedacht haben.

Im Neuen Testament ist Kirche und Gemeinde noch dasselbe Wort, und es ist seit langem mein Wunsch, wir möchten nur noch von christlicher "Gemeinde" und nicht mehr von "Kirche" sprechen! Vieles würde dann sehr viel klarer und einfacher werden. Vor allem würde es dann keine "Kirchenführer" mehr geben können, die "im Namen der Kirche" Ansprüche und Forderungen erheben und vertreten, die der eine wahre Führer und Hirte seiner Gemeinde, Jesus, niemals gestellt hat oder stellen würde. Und wir Christen stünden dann wieder unmittelbar vor der Frage, ob wir - wie es die Bekennende Kirche zur Nazizeit bejaht und bekannt hat - Jesus Christus als den kennen und anerkennen, der das "eine Wort Gottes" ist, "das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben".Barmer Erklärung, These 1, in: Karl Kupisch, Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus (1871-1945), 272. Wir können ja die Aufgabe, "Licht der Welt" und "Salz der Erde" zu sein, nicht mit irgendwelcher Zuversicht und Hoffnungslosigkeit in Angriff nehmen, wenn wir uns auf die Errungenschaften unserer christlichen Väter oder auf unsere eigenen Möglichkeiten verlassen.

Man kann sehr wohl geteilter Meinung darüber sein, ob die Christenheit in ihrer bald zweitausendjährigen Geschichte der Welt, das heißt der Menschheit, irgend etwas Gutes gebracht hat: Kriege hat die sogenannte "christliche Welt" mehr gebracht als irgend jemand sonst; und man kann wohl nicht behaupten, dass dieses kriegerische Morden und Verwüsten auch nur aus guter Absicht und auf Gott wohlgefällige Ziele hin verübt worden wäre.

Und wenn Jesus mit starkem Nachdruck gesagt hat - und es ist, soweit ich sehe, eines der in ihrer Echtheit unbestrittensten Jesusworte -: "Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon!"Matth. 6,24., so werden wir wohl - wenn auch widerwillig - zugeben müssen, dass der Mammondienst nirgendwo und niemals solche Ausmaße angenommen und solche Verheerungen angerichtet hat wie in der "christlichen" Welt und durch sie in der übrigen Menschheit.

Und wenn nun das Atomzeitalter das Endergebnis technischen Fortschritts heute darstellt (und dieser technische Fortschritt ist ja von uns sogenannten "christlichen" Völkern zustandegebracht worden), dann mag man an den vermeintlichen Segenswirkungen der Christenheit in und an der Welt vollends irre werden. Nein, wir sollen uns nur nicht einbilden, eine starke und große Christenheit wäre die Rettung der Menschenwelt; der Retter ist eben doch nur einer, nämlich der Herr Jesus Christus allein! Und ihm ist nach dem Zeugnis der Schrift - und nach diesem Zeugnis erhebt er selber diesen Anspruch - "alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden".Matth. 28.18. So schickt er die elf Getreuen, die ihm von seiner Jüngerschar am Ende verbleiben, mit dem Auftrag auf den Weg, "aller Welt" die frohe Kunde zu bringen. Es geht ihm nicht um große Zahlen und schon gar nicht um Majoritäten, aber darum, dass von denen, die ihm als seine Jünger zugehören, ein Ruf weitergetragen, seine Botschaft ausgerichtet wird. Für das Übrige will er selber sorgen.

So wird uns denn tatsächlich nichts anderes übrigbleiben, als zunächst einmal zu erkennen und anzuerkennen, dass die wirkliche Christenheit nichts anderes ist und nichts anderes sein kann als die Schar der Menschen in allen Ländern und Völkern, in allen Erdteilen und Rassen, die auf das Wort hören, das Gott in Jesus an uns richtet, und die wissen, dass Gott uns einlädt und ruft, im "Glauben" ihn unseren Herrn sein zu lassen, bei dem, was wir tun oder lassen, nach seinem Willen zu fragen und seinen Willen zu erfüllen, also unseren Weg in seiner "Nachfolge" zu gehen.

Das heißt aber, dass Glaube oder Christsein nicht darin besteht, dass wir eine gute Meinung von Jesus haben oder dass wir sogar von der Richtigkeit seiner Worte und Weisungen überzeugt sind und sie als letzte und entscheidende Wahrheit vertreten, wo sie auf Zweifel oder Ablehnung stoßen. Das kann man alles tun und eben doch nichts tun; man kann dabei ein absolut wohlwollender, aber unbeteiligter Zuschauer bleiben und trotzdem seine eigenen Wege gehen.

Glaube ist aber mehr und etwas völlig anderes als eine Meinung oder eine Überzeugung - die machen wir uns selber und die können wir auch abändern, wenn uns das aus irgendwelchen Gründen als erwünscht oder als notwendig erscheint.

Glaube ist aber ein persönliches Verhältnis zwischen zwei Personen - und das können wir uns nicht selber machen, das können auch zwei Personen nicht zwischen sich "machen", sondern das ereignet sich, das geschieht auf eine Weise, die wir nicht selber machen und auch nicht zwischen uns und jemand anders verabreden und durch beiderseitiges Einvernehmen herbeiführen können. Glaube als das persönliche Verhältnis zwischen Jesus und mir, zwischen mir und Jesus ist ein - nun, wir mögen sagen - ein Wunder, ein Geschenk, biblisch ausgedrückt: ein Werk des heiligen Geistes. Dies persönliche Verhältnis: "ich bin dein, du bist mein!"Aus Vers. 11 des Liedes "Warum sollt ich mich denn grämen" von Paul Gerhardt., das haben wir nicht als einen festen Besitz; es will und muss gelebt werden, immer neu empfangen, immer neu gegeben werden, wenn es nicht dahinschwinden und sterben soll.

Und "Glaube" an Jesus Christus, christlicher Glaube als persönliche und lebendige Verbundenheit mit Jesus lebt deshalb in der "Nachfolge" und nicht anders. Dazu gehört aber zweierlei: das Gebet - der Apostel mahnt: "Betet ohne Unterlass!" Denn wir müssen ja wissen, welchen Weg der Herr uns eben jetzt vorangehen will, auf dem wir ihm nachfolgen sollen. - Das ist nicht mit christlichen "Grundsätzen" oder "Prinzipien", auch nicht mit christlichen "Plänen" oder "Programmen" zu machen. Diese können - und das ist oft geschehen - vom Wege Jesu weit abführen, weil wir uns da eben doch unversehens von unseren Ideen und Vorstellungen beeinflussen und bestimmen lassen. Die richtige Frage des Gebets um rechte Wegweisung ist die des Saulus vor Damaskus: "Herr, was willst du, dass ich tun soll?" oder, wenn wir schon einen Plan bereit haben: "Herr, wirst du mir helfen bei dem, was ich tun will? Wirst du mir dabei zur Seite stehen?" Das ist das Eine: es gibt keinen Glauben ohne diesen persönlichen Umgang mit dem Herrn, an den wir glauben!

Das zweite ist der Entschluss zum Handeln, zum Dienst für die Menschenbrüder, die auf unsere Hilfe warten. Dazu sagt uns der Jakobusbrief: "Der Glaube, wenn er nicht Werke hat (wenn er nicht zur Tat wird), ist er tot in sich selber"Jak. 2,17., oder wie Luther es ausgedrückt hat: "Es ist aber der Glaube ein lebendig, tätig und geschäftig Ding, das nicht aufhören kann, unablässig Gutes zu tun". - Und an Gelegenheiten dazu fehlt es der Gemeinde Jesu und uns Christenmenschen niemals - und zumal heute nicht. Nein, es geht hier ja nicht um "Gelegenheiten", die uns vielleicht willkommen sind, weil wir da einmal ein gutes Werk tun, von unserem Überfluss ein kleines Almosen loswerden können. Natürlich kümmern wir uns als Christen und als christliche Gemeinde um den christlichen oder auch nichtchristlichen Nächsten, der Hilfe nötig hat, und diese Art von Diakonie wird niemals aussterben dürfen und auch nicht aussterben können, wo Christenmenschen leben, die an Jesus als ihren Herrn und Heiland glauben. Das gehört nun einmal zum Glauben als unserem persönlichen Verhältnis zu ihm: "Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan!"Matth. 25,40.

Dass aber heute Hunderte von Millionen Menschen Hunger leiden und Hunderttausende - ich weiß nicht, ob täglich oder wöchentlich - Hungers sterben, während die Reichen und Satten (und das ist ausgerechnet die sogenannte "christliche" oder "ehemals christliche" Welt) im Überfluss leben und keinen Finger rühren oder nur so tun "als ob": Was sollen wir als Christen da tun, wir Christen, das kleine und - weiß Gott - nicht reiche oder einflussreiche Häuflein?

Oder der Krieg - ist es überhaupt ein Krieg? - in Vietnam, dies Völkermorden und dies Vergiften von Menschen und Vieh, von Saat und Ernte, von Erde und Wasser, von Bäumen und Gras? Wo man Tote zählt und befriedigt feststellt, dass es "nur" Asiaten und zum größeren Teil "Kommunisten" sind, die ihr Leben unter Bomben und Granaten, unter Napalm und Raketen verlieren mussten?! Die Kirchen - und ich meine jetzt nicht nur die Gemeinde der an Jesus Glaubenden - haben dagegen deutlich ihren Protest erhoben; aber die Mächtigen dieser Welt machen sich nichts daraus, weil sie genau wissen, dass die "Christenheit" keine Macht darstellt und dass jene Mächte, die an einer Fortsetzung dieser unmenschlichen Gewaltaktionen um des eigenen Vorteils willen interessiert sind, reicher und stärker sind als alle die, die - vielleicht ohne Christen zu sein oder sein zu wollen - den Willen Jesu tun, weil sie es nicht untätig mitansehen können, wie Menschen von anderen Menschen, ihren Mitmenschen, gepeinigt, gequält und gemordet werden.

Oder wir denken an Südafrika und Südamerika, wo Eingeborene oder Farbige als Menschen zweiter oder dritter Klasse behandelt werden und keinerlei Aussichten haben, dass auch nur ihre Kinder menschenwürdige Lebensbedingungen bekommen werden. - Die Erde ist eine sehr kleine Welt geworden, und es ist heute ganz selbstverständlich, dass wir - auch wir Christen - wissen, was bei unseren Antipoden vorgeht, was da gedacht und gewollt wird. Und wir haben Sorge, und wir haben - offen gestanden - Angst in dieser - so klein gewordenen - Welt! Wir sind auch sehr ratlos, weil wir nicht wissen, wie den armen Menschenbrüdern, um deretwillen doch Jesus, unser Herr, Mensch wurde, lebte und wirkte, litt und starb, geholfen werden soll. Als Glaubende, als Christen, die wir unsern Herrn kennen, haben wir keine Sorgen und Ängste um uns selber; wir kennen und wissen ja das Zeugnis eines Glaubensbruders aus alter, neutestamentlicher Zeit: "Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben - noch irgend etwas sonst - kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus da ist, unserm Herrn!"Röm. 8,38 f. - Aber: was soll aus den Brüdern, den Mitmenschen werden, deren Not und Leiden wir weder mittragen noch beseitigen können? Das ist wohl die letzte Frage, die der Christenheit, wenn sie sich als Jüngergemeinde Jesu versteht, die uns Glaubenden übrigbleibt!

Wir leben als kleine und im Grunde unbedeutende Minderheit in einer reichen, angeblich "christlichen" Welt, die doch nur dem eigenen Interesse lebt. Hier haben wir Christen eine Aufgabe, ähnlich der, die einst die Propheten in dem alten Gottesvolk zu erfüllen hatten. Wir müssen unseren Mitmenschen, unserer Gesellschaft sagen, dass wir Gottes Zorn und Gericht herausfordern, wenn wir so tun, als ginge uns all die Not um uns her nichts an, als könnten wir ungestraft Milliarden und Aber-Milliarden sinnlos vergeuden, um damit unsere Sicherheit zu garantieren, die so gewiss nicht zu gewinnen ist.

Und - das ist wohl das andere! - wir zögern, uns als glaubende Christen an den großen Unternehmungen zu beteiligen, die - ohne christlich sein zu wollen - daran arbeiten, der Not in der Welt da draußen Einhalt zu gebieten und den Rassen, Völkern und Menschen eine Überlebenschance zu eröffnen.

Wir haben lange gemeint, weil dieses Mühen mit politischen und wirtschaftlichen Interessen verknüpft ist, dürften wir Christen uns daran nicht beteiligen. Ich glaube, dass das ein Trugschluss und ein Kurzschluss ist - hoffentlich gewesen ist. Wenn Menschen an Hunger oder an Krankheit zugrunde zu gehen drohen, dann weiß ich als Christ doch, dass es Jesu Wille ist, dass hier geholfen wird. Und wer dazu beiträgt - vielleicht aus ganz anderen Motiven und mit ganz anderen Absichten -, der hilft - wissentlich oder unwissentlich - dem Willen Jesu zu seiner Erfüllung. Und dazu helfen wir als Christen gerne mit, und dazu lassen wir Christen uns jede Mithilfe gern gefallen, auch von Juden und Heiden, auch von Atheisten und anderen, die von Jesus nichts wissen und nichts wissen wollen!

Der Traum von der "christlichen Welt" scheint ausgeträumt zu sein. Aber das soll uns keine Angst machen und soll uns nicht verzagt und untätig werden lassen: der Herr Jesus Christus lebt und bleibt der Herr, auf den Verlass ist. Er sagt uns, was wir tun sollen, wenn wir ihn darum bitten, und das tun wir in dankbarer Zuversicht. Denn er ist bei uns und will durch uns sein Werk für die Welt tun, wenn wir auch nur wenige sind und inmitten einer leidenden, vielleicht gleichgültigen, vielleicht sogar feindlichen Welt leben müssen: Jesu Auftrag gilt, und ihm nachfolgen heißt, den Weg des Lebens gehen und anderen den Weg zeigen und sie auf diesem Weg begleiten.

Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, Mai 1973, 34. Jahrgang, S. 304ff.

Fußnoten

Veröffentlicht am

16. Januar 2017

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