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Hildegard Goss-Mayr: Der Blick zurück - der Internationale Versöhnungsbund im Wandel der Zeit

Von Hildegard Goss-Mayr - Vortrag bei der Versöhnungsbund-Tagung im November 2013

Über die Umsetzung der Gewaltfreiheit in einer zunehmend revolutionären Weltsituation

Wir müssen uns an die geschichtliche Situation 1959 erinnern. Im Februar dieses Jahres erlangte Fidel Castro mit Hilfe kommunistischer Unterstützung die Regierungsgewalt in Kuba. Wir wissen von der Angstwelle und der Reaktion in den USA. Alle, die links engagiert waren, wurden als kommunistisch abgestempelt und es gab eine richtige Hexenjagd gegen die pazifistischen Gruppen.

Es gab auch eine - durchaus berechtigte - Angst vor einem neuen Atomkrieg. Als in Kuba Raketen aufgestellt wurden, kam es zur Kubakrise und die Welt stand wirklich am Rande eines Atomkriegs. Die Menschen waren von Angst erfüllt. Lediglich durch das Einlenken der beiden Präsidenten der USA und der UdSSR, und auch durch Vermittlung von Papst Johannes XXIII, konnte diese Katastrophe verhindert werden. In der südlichen Hemisphäre begann um diese Zeit die Phase der Entkolonialisierung mit Aufständen, einer Reihe von Kriegen und dem Ende der Kolonialzeit. Meistens kamen dann Diktaturen an die Macht, die von Ost oder West gefördert wurden. Die Welt war ja damals in Ost und West geteilt und beide Seiten versuchten die unabhängig werdenden Staaten für ihre Seite zu gewinnen. Wir erinnern uns an die Stellvertreterkämpfe, die damals stattgefunden haben, vor allem in Afrika.

In Lateinamerika gab es zu dieser Zeit eine enorme Diskrepanz zwischen Arm und Reich. Ein großer Teil der lateinamerikanischen Bevölkerung lebte in wirklich großem Elend und die Widerstandsbewegungen begannen sich zu entwickeln. Durch die Tatsache, dass es Fidel Castro in Kuba gelungen war, die Macht an sich zu reißen, kam es zu einer Euphorie des gewaltsamen Befreiungskampfes. In Lateinamerika entstanden Guerillabewegungen, die jedoch sehr stark von Intellektuellen, also von den gebildeten Schichten, getragen wurden, während das Volk im Großen und Ganzen zurückhaltend war und die Repression fürchtete, die es immer erlebt hatte.

Über den Idealismus dieser zumeist jungen, linksgerichteten Leute in Lateinamerika möchte ich ein kleines Beispiel erzählen: Juliao war der intellektuelle Führer der Bauernligen im Nordosten von Brasilien. 1964 kam es in Brasilien als erstem Land in Lateinamerika zu einer Machtübernahme durch das Militär, und als die Militärdiktatur errichtet wurde, wurde Juliao gefangen genommen. Aus dem Gefängnis schrieb er folgenden Brief an seine Tochter, die erst nach seiner Gefangennahme geboren worden war:

"Ganz plötzlich habe ich verstanden, dass ein Mann, der Vater ist, freiwillig 49 Jahre seines Lebens für das Recht eintauscht, seine zwei Monate alte Tochter, die er noch nicht kennt, sei es auch nur für 10 Minuten, in seinen Armen zu halten. Es gibt nur eines, Isabella, was man mir nicht hätte entreißen können, um mir zu gestatten, dich in Händen zu halten: meinen Stolz Revolutionär zu sein; denn dieser existiert, lebt in jedem von uns; er ist ein heiliges Erbe, das wir von der Menschheit empfangen haben und unversehrt an die Menschheit weitergeben müssen. Es ist das Ideal, das höchste Trachten; man möge es nennen, wie man will: für die einen ist es der Glaube, für andere die Vernunft oder die Freiheit, wiederum für andere die Güte oder die Liebe. Mich von diesem Erbe lösen hieße, mich von mir selbst und auch von dir zu trennen, hieße, … deine ganze Reinheit verraten." (Goss-Mayr, Die Macht der Gewaltlosen, S.61, 1968)

Das zeigt, mit welchem Idealismus damals junge Menschen überzeugt waren, dass etwas anders werden, dass eine Revolution stattfinden muss. Bis zu einem gewissen Grad gab es diese Euphorie auch bei uns in Europa in der 68er-Generation. Welche Herausforderungen stellen sich in dieser neuen Weltsituation für die Friedensbewegung? Wir treten für die notwendigen Veränderungen in Konzepten und Strukturen ein, und dabei musste geklärt werden: Ist die Gewaltfreiheit eine revolutionäre Kraft oder nur ein Beruhigungspflästerchen? Es ging also um die Klärung des Verständnisses der gewaltfreien Revolution und deren Verwurzelung im Evangelium, oder bei anderen, die nicht christlich waren, im Humanismus. Und wie kann ihre Anwendung in den Konflikten aussehen? - Das war der Hintergrund dieser neuen Situation.

Ost-West-Arbeit

In Wien hatten wir 1957 ein neues Büro in der Schottengasse eröffnet, mit Hilfe von Nevin Sayre, der die nötigen finanziellen Mittel für die Miete dieser Räume zur Verfügung stellte. Dieses Büro wurde jedoch nicht "Versöhnungsbund" genannt - das Wort wurde damals nicht akzeptiert. Es wurde "Zentrum für Soziale und Internationale Verständigung" genannt, was ein Versuch war, in dieser Situation anzukommen. 1958 heirateten mein Mann, Jean Goss, und ich, und von der Zeit an leiteten wir das Büro in der Schottengasse, wo wir auch lebten. Das war nicht immer einfach, da Tag und Nacht Leute kommen und uns aufsuchen konnten.

Bei der Auseinandersetzung mit der Umsetzung der Gewaltfreiheit in dieser Situation war die erste Etappe ein Versuch des Dialogs. Wir standen ja im Kalten Krieg und die gegenseitige Verteufelung war ganz schlimm. Wir legten damals einen Schwerpunkt auf die Ost-West-Arbeit. Mein Mann und ich, die wir im Internationalen Versöhnungsbund angestellt waren, versuchten, über den Eisernen Vorhang hinweg Kontakte aufzubauen und den Dialog mit dem Gegner, oder das "Gespräch mit dem Feind" - das war damals ein Schlagwort - aufzubauen. In dieser Zeit war das natürlich eine unerhörte Pionierarbeit.

Zunächst waren in der Schottengasse die Arbeit des österreichischen Zweiges und die internationale Arbeit mehr oder weniger miteinander verbunden. Nach und nach trennten sich dann die Arbeitsbereiche. Wir organisierten in der Schottengasse vor allem Jugendseminare, die junge Menschen auf das Gespräch mit dem Feind, also den Ost-West-Dialog, vorbereiten sollten. Wir konnten damals ganz hervorragende Fachkräfte einladen, kommunistische Theoretiker sowie Theologen und Intelektuelle wie z.B. Friedrich Heer, die über die Bergpredigt und das Gebot der Feindesliebe schrieben und dazu arbeiteten, um uns so die Voraussetzungen für die Aufnahme von konkreten Ost-West-Gesprächen zu erarbeiten.

Zur Zeit Chruschtschows fand 1957 in Moskau das erste Weltjugendfestival statt, zu dem Jugendliche aus der ganzen Welt eingeladen wurden. Wir schlugen damals vor, dass auch vom Versöhnungsbund eine kleine Delegation nach Moskau fahren soll - unter der Bedingung, dass wir uns auch dort frei ausdrücken und unsere Haltung vertreten können. Dafür bereiteten wir auch ein Flugblatt über das Verständnis des Versöhnungsbundes und die positiven Werte, die jedem Mensch innewohnen, in russischer Sprache vor. So fuhren dann also ein paar von uns nach Moskau. Wir nahmen dort natürlich an den öffentlichen Veranstaltungen teil, aber wir legten auch immer wieder ein paar Flugblätter aus. Bald bemerkten wir natürlich, dass wir beobachtet wurden - das war selbstverständlich, nicht? Wir suchten die Tolstoianer auf und trafen den Enkel des Sekretärs von Leo Tolstoi, der uns berichtete, wie es den Tolstoianern, die Kriegsdienstverweigerer in der Sowjetunion waren, erging. Wir organisierten einen Gottesdienst in der damals einzigen katholischen Kirche in Moskau und sahen, wie die Menschen, die zum Gottesdienst gekommen waren, weinten, weil sie seit der russischen Revolution nicht mehr mit Menschen aus dem Westen gesprochen hatten. Wir nahmen auch mit der russisch-orthodoxen Kirche Kontakt auf und versuchten, russisch-orthodoxe Theologen nach Österreich zu einer Tagung einzuladen. Am Ende unseres Aufenthalts ereignete sich eine Szene, die als eine kleine Anekdote zu verstehen ist:

Es gab immer noch einen Stoß von Flugblättern, die mein Mann Jean am Roten Platz verteilte (damals war eine Grippeepidemie ausgebrochen und ich selbst lag in einem Spital und wurde mit Joghurt gefüttert). Am Roten Platz waren sehr, sehr viele junge Menschen und die stürmten alle heran und wollten ein Flugblatt haben, weil es ja damals so etwas sonst gar nicht gab. Das war ein Durcheinander und die Polizei schritt ein und sagte: "Sie verraten dieses Festival und wir werden Sie verhaften!" Aber Jean antwortete: "Lesen Sie zuerst den Text. Es steht nichts darin, das gegen das Wohl der sowjetischen Jugend ist." Sie haben es gelesen und dann gesagt: "Na gut, Sie können das verteilen - aber mit Disziplin!" Und die Leute mussten sich in einer Reihe aufstellen und Jean verteilte die Blätter. Der Vorfall kam natürlich ins Fernsehen und das war nur deshalb möglich, weil er während des Festivals passierte. Aber danach stellten uns junge Leute stundenlang Fragen: "Woher habt ihr diese Sicht, dass alle Menschen die gleiche Würde haben?" Es waren viele, viele Fragen - die jungen Menschen haben stundenlang diskutiert, und erst am Schluss, als sie zu uns gesagt haben: "Aber ihr habt uns noch nicht alles gesagt, da ist noch eine Kraft in euch, eine Freude, die wir kennenlernen müssen!" - da haben wir gesagt: "Ja, das ist für uns die Kraft des lebendigen Gottes in uns." Und dann war Gott eben nicht mehr Opium des Volkes, sondern Kraft zu leben, zu menschenwürdigem Leben. Mit einigen von diesen Leuten hatten wir noch viele Jahre hindurch Kontakt.

Zwei Jahre später, 1959, fand dann auch in Wien ein Weltjugendfestival der kommunistischen Jugend statt. Wie sich einige vielleicht noch erinnern können, wurde das vom Bundesjugendring, dem Zusammenschluss der österreichischen Jugend, abgelehnt und ein Gegenfestival organisiert. Wir sagten uns aber: Da kommen diese jungen Leute einmal zu uns und wir wollen sie in einem Gegenfestival als unsere Feinde abstempeln? Wir machen das Gegenteil, wir organisieren ein offenes Haus! Wir führten das ganze Jahr über, in dem die Vorbereitungen liefen, Gespräche mit den Verantwortlichen - einem Bulgaren, einem Franzosen und einem Mann aus der DDR. In der Vorbereitungsphase organisierten wir ein Seminar für ungefähr dreißig junge Leute aus verschiedenen Zweigen des Versöhnungsbundes, um uns vorzubereiten und uns mit dem Marxismus und den grundlegenden Fragen auseinanderzusetzen, die uns als Menschen gemeinsam sind. Das sollte uns auf diesen Dialog vorbereiten.

In der Schottengasse führten wir dann Leute aus Delegationen zusammen, die an die entgegensetzen Enden von Wien platziert worden waren, damit sie sich nicht treffen konnten. Das waren zum Beispiel Israelis und Palästinenser, Holländer und Indonesier, Chinesen und Russen. Wir versuchten, sie zumindest in kleinen Gruppen bei uns in der Schottengasse ins Gespräch zu bringen. Leider ist uns das mit Chinesen und Russen nicht gelungen - damals gab es eine tiefe Spaltung zwischen der Sowjetunion und China. Dafür ist es uns mit anderen - mit Israelis und Palästinensern, mit Holländern und Indonesiern - gelungen. Und wir feierten auch einen großen ökumenischen Gottesdienst, den wir ebenfalls im Rahmen des Festivals vorbereiten konnten. Es gab damals eine sehr heftige Auseinandersetzung mit der katholischen Diözese von Wien. Aber am Ende schrieb ich einen Bericht, den ich auch Kardinal König schickte. An einem Abend rief er mich an, um sich zu bedanken und merkte an: "Ihr habt wirklich das Beste getan, was während dieses Festivals gemacht werden konnte."

Vom Büro in der Schottengasse aus organisierten wir verschiedene Veranstaltungen und Konferenzen. So konnten wir das erste Treffen zwischen Deutschen, Polen und Österreichern nach dem Krieg durchführen sowie die erste Theologentagung mit orthodoxen, evangelischen und katholischen Theologen seit der russischen Revolution. Im April 1968 fand die letzte Ost-West-Tagung in Wien statt, die ein gewisser Höhepunkt war zu der aufbrechenden Frage: Gibt es eine Revolution ohne Gewalt? Es waren Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Belgien, Frankreich, der Tschechoslowakei, der Sowjetunion, Bolivien, Uruguay, Indien und Österreich anwesend. Ernst Schwarcz, damals Vorsitzender vom österreichischen Versöhnungsbund, hatte einen kleinen Verlag und gab dann unser Buch "Revolution ohne Gewalt. Christen aus Ost und West im Gespräch" heraus, auf dessen Vorderseite Che Guevara, Fidel Castro und Martin Luther King abgebildet waren. Das Buch enthielt interessante und sehr wertvolle Beiträge, in denen ausgedrückt wurde: Ja, wir stehen für die Revolution im Sinne von "Re-volvere" - für die Überwindung des Unrechts, das besteht. Aber nicht mit Gegengewalt, sondern aus der Kraft der Gewaltfreiheit. Im selben Frühjahr - also 1968 - wurde der Prager Frühling niedergeschlagen. Die offiziellen Kirchen und vor allem die Paulusgesellschaft, die in Salzburg ihren Sitz hatte, übernahmen dann die Ost-West-Arbeit. Unsere Arbeit war, so meine ich, die erste Ebene: Der Versuch, den Dialog mit dem Gegner aufzubauen und immer davon auszugehen, zunächst das Positive im anderen zu sehen und zu bejahen.

Abrüstung

Im zweiten Schritt, dem wir uns während der nächsten zwei Dekaden widmeten, ging es hauptsächlich um Abrüstung: Die eine Ebene waren die Ostermarschbewegung und die Menschenrechtskampagnen. Die zweite Ebene war die gewaltlose Befreiungsarbeit in Lateinamerika und die damit verbundene Solidaritätsarbeit. Ich möchte nur einige von den zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Zeitepoche bis zu den 90er-Jahren hervorheben, die uns - ich sage das mit großer Dankbarkeit - unterstützt haben: Edith Petrou, unsere erste Sekretärin; Friedrich Glasl, der erste vom Versöhnungsbund beratene Zivildiener, der heute ein renommierter Experte für gewaltfreie Konfliktlösung ist; Liesl Fritsch und ihren Ehemann Joshua, der leider sehr früh verstorben ist und Sekretär des Versöhnungsbunds war; Otto Lackmeier, Gerhard Burda, Maria Wolf; Martin Rokita und Erwin Rennert, die vor allem für die Zeitschrift viel beigetragen haben; Reinhard Lindner von der evangelischen Kirche, Heinz Gerstinger, ein Dramaturg und Schriftsteller, später langjähriger Vorsitzender des österreichischen Zweiges, und Ernst Schwarcz, auch langjähriger Vorsitzender, der den Druck der Zeitschrift "Christ in der Welt" durch seinen Verlag bewerkstelligte und Diplomatentreffen in der Zeit des Kalten Krieges im Quäkerhaus durchführte; und das Ehepaar Yvonne und Erwin Waldschütz, die zum 30-jährigen Bestehen der UNO-Menschenrechtscharta eine Wanderausstellung über Menschenrechte gestalteten, die an zahlreichen Orten in Österreich gezeigt wurde.

Die Arbeit in Lateinamerika

Es war tatsächlich eine vorrevolutionäre Zeit in Lateinamerika, und die Lateinamerika-Arbeit stand zwischen 1962 und 1975 im Mittelpunkt der internationalen Arbeit von Jean und mir. Man kann sich denken, wie schwierig das war: Wir waren auf der einen Seite konfrontiert mit den unterdrückerischen vorherrschenden Regimen - die sich nach und nach militarisierten und dann als Militärdiktaturen etablierten, und, auf der anderen Seite, mit den kleinen Guerillabewegungen, die als Rechtfertigung für die Errichtung von Militärdiktaturen herangezogen wurden. Dieser Prozess wurde von den USA aus unterstützt. Zwischen diesen Machtblöcken musste man sich fragen: Gibt es einen gewaltfreien Weg? Können wir einen gewaltfreien Weg aufbauen?

1962 waren mein Mann und ich das erste Mal für vier Monate in Lateinamerika, um die Situation kennenzulernen, und danach lebten wir ein Jahr in Brasilien, wo wir versuchten eine erste gewaltfreie Bewegung aufzubauen. Sehr wichtig dafür war eine Tagung 1966, organisiert von Earl Smith, einem amerikanischen Pastor, der seit 30 oder 40 Jahren in Uruguay arbeitete und sehr viele Kontakte hatte. Diese Tagung - eine "Consulta" (Befragung) - fand in Montevideo statt: Welchen Standpunkt sollen wir als Christen und Christinnen in dieser vorrevolutionären Zeit einnehmen? Gibt es einen gewaltfreien Weg oder gibt es ihn nicht, ist er eine Fantasie? Für die Tagung war es ganz wichtig, dass auch Leute wie Lanza del Vasto, der bekannte Gandhischüler und Begründer der Gemeinschaft der Arche, Danilo Dolci aus Sizilien und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Martin Luther King anwesend waren. Es war ja damals auch gerade die Zeit der Befreiungsarbeit für die afroamerikanische Bevölkerung in den USA. Auf der Tagung konnten Jean und ich anhand von Beispielen deutlich machen, was Gewaltfreiheit bedeutet.

Von dieser Zeit an wurden wir in alle Teile des Subkontinents eingeladen, um Seminare, die meistens eine Woche dauerten, durchzuführen und, von der Problematik der Bevölkerung ausgehend, Schulungskurse über das gewaltfreie Engagement abzuhalten. Das hat dazu geführt, dass 1971 das erste Kontinentaltreffen in Alajuela, Costa Rica stattfand. Dazu auch eine kleine Episode: In der Vorbereitung hatten wir versucht, Dom Hélder Câmara, der als "der rote Bischof" galt, nach Costa Rica einzuladen. Den Erzbischof von Costa Rica konnten wir nach und nach zu einer Zustimmung bewegen, aber Dom Helder durfte keinen öffentlichen Vortrag halten, sondern nur zur Tagung kommen. Die Tagung fand schließlich statt, aus allen Teilen Lateinamerikas waren Leute von den kleinen gewaltfreien Gruppen anwesend. Auf einmal fuhr eine Anzahl von Bussen vor und Studentinnen und Studenten füllten den ganzen Versammlungsraum und riefen: "Dom Hélder Câmara an die Universität!" Wir haben natürlich keinen Widerstand geleistet. Er wurde "entführt" und hat zwei Stunden lang an der Universität NICHT gesprochen, also KEINEN Vortrag gehalten, jedoch hat er auf Fragen geantwortet.

Drei Jahre später, 1974, war es dann soweit, dass in Medellin die Gründung der lateinamerikanischen gewaltfreien Bewegung "Servicio Paz y Justicia" stattfinden konnte und ein Verantwortlicher gewählt werden sollte. Die Wahl fiel auf Adolfo Pérez Esquivel. Man muss aber bedenken, dass 1974 in allen lateinamerikanischen Staaten bereits die Militärherrschaft errichtet war. Die Arbeit als Koordinator für ganz Lateinamerika zu übernehmen war eine ungeheuer riskante Sache. Adolfo hat Familie - er hat drei Kinder - und so erbat er sich eine Nacht Bedenkzeit. Am nächsten Morgen sagte er dann Ja, er sei bereit, die Arbeit zu übernehmen, aber er bat um Unterstützung von uns allen. Zwei Jahre darauf war das 30-Jahr-Jubiläum der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und Adolfo rief für ganz Lateinamerika eine Kampagne für die Durchsetzung der Menschenrechte aus. Das war den Regierenden zu viel. Adolfo wurde verhaftet.

Vor seiner Verhaftung verbrachte er aber zunächst noch einige Zeit in Europa. Grete Scherer, Vorstandsmitglied des Versöhnungsbundes, brachte ihn mit seinen Kindern, die wir über die schwedische Botschaft aus Argentinien herausbringen konnten, in Wien in ihrem Landhaus unter. Adolfo selbst kehrte dann aber zurück. Er wurde verhaftet und war eineinhalb Jahre im Gefängnis. Es erging ihm fast wie so vielen anderen politischen Gefangenen: Er war bereits in einem Flugzeug, um ins Meer abgeworfen zu werden. Einzig und allein die internationale Solidarität hat ihn gerettet - im letzten Moment erhielt der Kapitän des kleinen Flugzeugs den Befehl umzukehren. Von dieser Zeit an war Adolfo in einem Folterzentrum, aber er ist am Leben geblieben.

In diesem Zusammenhang möchte ich dem damaligen Lateinamerika-Komitee meinen ganz, ganz aufrichtigen Dank aussprechen. Es wurde von Wien und von Österreich aus eine unerhörte Solidaritätsarbeit geleistet. Dann, ausgehend von verschiedenen Staaten Europas, kam es zu einem Zusammenschluss dieser Solidaritätsarbeit für die Unterstützung der gewaltfreien Gruppen in Lateinamerika. Erwähnt werden muss auch die Zeitschrift "Lateinamerika Rundbrief", das einzige Medium, das ständig über die gewaltfreien Aspekte der Revolution berichtete. Er war in ganz Europa - und ich glaube auch in der ganzen Welt - die einzige Zeitschrift, die das getan hat. Adolfo erhielt 1980 den Friedensnobelpreis. Das war eine enorme moralische und politische Stärkung für die Bewegung. Auf dem Weg zum Empfang des Nobelpreises kam er auch nach Wien, wo er im überfüllten Stephansdom sprach. So viele Menschen hatten Interesse, arbeiteten mit und waren für die Lateinamerikaarbeit engagiert! Selbst Kardinal König kam, um Adolfo zu begrüßen und ihn in seiner gewaltfreien Haltung zu bestärken.

Und danach…

In den 80er-Jahren begann dann die Epoche, in der wir vor allem zur Friedenserziehung arbeiteten. In Europa gab es zu dieser Zeit eine starke Friedensbewegung gegen die Rüstung. Und wiederum - so glaube ich sagen zu dürfen - hat der Versöhnungsbund einen Aspekt in diese Bewegung hineingetragen, der einzigartig war: die Verbindung von Spiritualität und Praxis. Diese gab es praktisch nur durch die Hilfe des Versöhnungsbundes: das Buch "Der Mensch vor dem Unrecht" hatte damals vier Auflagen. 15.000 Exemplare sind für so ein kleines Fachbuch eine sehr große Anzahl und es konnte den Menschen damals wirkliche Hilfe leisten. Wir - sowohl der österreichische VB-Zweig als auch mein Mann und ich - hielten zu der Zeit sehr viele Seminare.

Bis 1990 arbeiteten Jean und ich auch in den Philippinen, wo wir mithalfen "PeoplePower", also die gewaltfreie Revolution, aufzubauen und durchzuführen. In Afrika versuchten wir dasselbe. In Zaire, dem heutigen Kongo, arbeitete mein Mann noch. Nach seinem Tod habe ich dann weiter in Madagaskar, Ruanda, Burundi, der Elfenbeinküste und im Tschad geholfen, die gewaltfreien Bewegungen zu unterstützen. An den Schluss möchte ich das Credo stellen, das die philippinische Gruppe zum Beschluss ihres gewaltfreien Widerstands verfasst hat.

Credo von AKKAPKA, der philippinischen gewaltfreien Bewegung:

"Wir sind ein Volk Gottes. Wir glauben an Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden. Vor allem aber an den absoluten Wert des Menschen und die Solidarität aller Völker. Wir widersetzen uns allen Formen von Unrecht und Unterdrückung, die gegenwärtig in unserer Gesellschaft vorherrschen: Den autoritären Regierungsformen, der Diskriminierung der Armen, den schweren Verletzungen der Menschenrechte, der Fremdherrschaft über unser Wirtschaftssystem, unsere Politik und Kultur. Wir verpflichten uns zum Aufbau und zur Erhaltung einer gerechten philippinischen Gesellschaft. Doch in allem, was wir tun, geloben wir niemals zu töten, niemals zu verletzen, unsere Unterdrücker zur Wahrheit zu führen und in unserem Kampf geeint zu bleiben. Dass dieses Credo zu unserer Lebensweise werde, darum bitten wir Gott in Demut, er möge uns mit seiner Hilfe zur Seite stehen."

Quelle: Spinnrad Nr. 2 / 2014 - Zeitschrift des Internationalen Versöhnungsbundes - Österreichischer Zweig . Der Vortrag redigiert von Irmgard Ehrenberger und Lucia Hämmerle.

Veröffentlicht am

25. Juli 2014

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