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Ungleichgewicht

Von Ludwig Schumann

Viele Menschen sind tot, aber einige sind töter. Jedes Opfer von Krieg und Anschlägen ist eines zu viel. Aber wenn fünf Opfer eines Anschlags in einer europäischen Großstadt über Wochen die Nachrichten bestimmen, während unsere Medien über hunderte Tote von NATO-Bombenangriffen in den arabischen Ländern großzügig hinwegsehen, dann kann man schon von Rassismus sprechen. Zumindest von einem krassen Ungleichgewicht.

Der Begriff der "Befreiung" wurde früher gern als Synonym für "zielgerichtete Gewalttat" mit tödlichem Ausgang für den Unterdrückenden verwendet. In den modernen asymmetrischen Kriegen hat der Begriff einen Bedeutungswandel erfahren. Er wird nun gern als Begriff für eine zielgerichtete Gewalttat mit tödlichem Ausgang für den zu Befreienden missbraucht. Siehe Aleppo. Siehe Mossul. Siehe bald in ar-Raqqa.

"Ja", sagte meine Nachbarin, "diese furchtbaren Bilder aus Aleppo. Man will das gar nicht mehr sehen." "Ja", antwortete ich, "und diese furchtbaren Bilder aus Mossul." "Da habe ich aber noch keine gesehen." "Eben", sagte ich. "Im Gegensatz zu den bösen russischen und syrischen Bomben machen die guten amerikanischen Bomben keine Bilder." "Sie sind zynisch", sagte sie. "Ich wäre gern fröhlich", antwortete ich.

Dazwischen erreichen uns Meldungen, die uns nicht mehr erreichen: 16. Februar 2017: Auto-Bombe explodiert in Bagdad. Mindestens 45 Tote. 15. März 2017 Damaskus. Im dortigen Justizpalast sprenge sich ein Attentäter in die Luft. Mindestens 31 Menschen kamen ums Leben. Ein zweiter Anschlag wurde auf ein Restaurant verübt. Eine Meldung. Vielleicht noch ein Schulterzucken, ein gehauchtes "Schlimm!" Am 17. März sterben Dutzende von Zivilisten bei einem US-amerikanischen Luftangriff auf Ziele in Mossul. Fällt Ihnen auf, dass man in Aleppo immer ziemlich genau wusste, wie hoch die Verluste unter der zivilen Bevölkerung waren? Gut, aber in Mossul untersucht man den Fall jetzt. Es wird keinen Schuldigen geben. So zynisch das ist, aber einen Krieg ohne Kollateralschäden (was für einen wunderbaren Begriff hat man dafür gefunden) führen zu wollen, ist schlicht eine Nachricht aus dem Märchenbuch. Also: Bedauerlich. Gibt eine kurze Meldung für die Nachrichtensender. Und damit sind die irakischen und syrischen Opfer abgehakt.

In London, am 22. März, ein Terrorangriff mit fünf Toten und ca. 40 Verletzten. Zitat: "Die internationale Staatengemeinschaft rückt in diesem Moment näher zusammen." Der amerikanische Präsident meldet sich zu Wort. Der Eiffelturm wird lichtabgeschaltet. Das Brandenburger Tor scheint in den Farben der britischen Flagge auf. Auf einer Sitzung der UN legt man eine Schweigeminute ein. Verstehen Sie mich recht: Es ist keine Frage, dass der gewaltsame Tod eines Menschen nicht hingenommen werden darf. Aber fällt uns dieser schreiende Rassismus in der Wertung der Opfer überhaupt noch auf?

Jean Ziegler, der bewundernswerte Schweizer Globalisierungsgegner, sprach in einem Interview , das er dieser Tage dem Deutschlandfunk gab, davon, dass Frankreich im vorigen Jahr für 18 Milliarden EURO Rüstungsgüter nach Saudi-Arabien für dessen Vernichtungskrieg gegen die schiitischen Rebellen im Jemen verkauft hat. Der "Erfolg" dieses unseligen Krieges ist, dass die Wirtschaft des Landes gänzlich zusammenbrach und der Jemen mitten in eine katastrophale Hungersnot gebombt wurde. Mit europäischen, auch mit deutschen Waffen. Konzerne, Staat und Rüstungsarbeiter verdienen im vollen Wissen der angerichteten Katastrophe. 18 Milliarden. Noch viele Milliarden nach Deutschland und zu den Rüstungsfirmen der USA. Der saudi-arabische Markt darf der Waffenindustrie nicht verloren gehen. Mr. Trump will die Militärausgaben um mehr als 40 Milliarden Dollar steigen lassen.

Nach einem Bericht des "Tagesspiegels" vom 25. März erhoffte UN-Generalsekretär António Guterres, dass der Welthungerhilfe bis Ende März 4 Milliarden Dollar zur Verfügung stehen, um 20 Millionen Menschen zu retten. Ganze zehn Prozent davon haben ihm die Staaten zur Verfügung gestellt, die mindestens 2 Prozent ihres Haushalts für Rüstungsausgaben ausgeben wollen, inklusive den USA, die gerade ihren Rüstungshaushalt gewaltig aufstocken wollen. Die Hoffnung, kann ich dann nur vermuten, ist, dass diese Verhungernden schon so geschwächt sind, dass sie sich ganz gewiss nicht mehr auf den Weg nach Europa machen können. Das finden Sie auch wieder zynisch? Ich auch. Aber der Zynismus liegt auf der Seite der Nichthandelnden. Am Geld kann es ja nicht liegen. Freilich flösse es dann an der Rüstungsindustrie vorbei.

Wie ich dazu komme, das eine Thema mit dem anderen zu vermengen? Weil sie zusammen gehören. Wenn fünf tote Europäer einen so gewaltigen Traueraufmarsch weltweit wert sind, während wir gelassen Hunderte von Terrortoten in den arabischen Ländern hinnehmen, während wir gelassen zusehen, wie im Namen unserer "Wertegemeinschaft" ebenfalls Hunderte tote Zivilisten in Kauf genommen werden - und für die Toten ist es ziemlich egal, ob die Bombe, die sie zerreißt, aus russischer oder amerikanischer Produktion stammt, ganz davon abgesehen, dass die wunderbaren amerikanischen Befreier auch in Syrien Uranmunition verwenden, man also im Namen des Profits kaltlächelnd in Kauf nimmt, dass die zu Befreienden über die möglichen Verwundungen hinaus lebenslange Schäden oder Schäden an den Nachgeborenen behalten -, muss man da nicht von einem inzwischen wertebestimmenden Rassismus reden, der uns befallen hat? Der inzwischen Usus gewordene Umgang mit der Flüchtlingsproblematik, besser gesagt, mit den Menschen, die da auf der Flucht sind, seitens der europäischen politischen Elite beschämt ja nicht einmal mehr das Wahlvolk. Die Einrichtung von Konzentrationslagern ist nicht nur politisches Ziel, sondern, beispielsweise in Griechenland, aber auch in anderen europäischen Ländern, finstere Realität. Dagegen gibt es kaum nennenswerten Protest.

Jean Ziegler übrigens hat das kürzlich in einem Interview im Spiegel noch mal vorgehalten: Am Ende der Zeit dieser von Klassenkämpfen gezeichneten Welt stehe als Erwartung der Kommunismus. Der Kommunismus Zieglerscher Prägung hat nun wenig mit unserem Bild eines ja nicht einmal erlebten Kommunismus zu tun, der hier ja im real existierenden Sozialismus stecken blieb. Sein Bild ist das der gerechten Gesellschaft, die ohne Beschränkungen nicht gerecht bleiben kann, die dann tatsächlich auch die Probleme des Klimawandels, das Welthungerproblem, einer friedlicheren Welt, also einer Politik, die sich ausschließlich am Wohl des Menschen orientiert, entwickeln kann.

Mir fehlt da manchmal der Glaube, aber ich ziehe meinem Hut vor diesem inzwischen zweiundachtzigjährigen großartigen Menschen, der sich nicht aufs Altenteil abschieben lassen will, weil er sich den Menschen, denen es elend geht, existentiell verbunden weiß.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 27.03.2017.

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Veröffentlicht am

28. März 2017

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