Der große Diktator reloaded"Die Gier hat die Seelen der Menschen vergiftet", sagte der Redner. Und: "In dieser Welt gibt es Raum für alle, und die gute Erde ist reich und vermag einem jeden von uns das Notwendige zu geben." Diese Worte könnten sich gut und gern auf die heutige Situation beziehen. Sie stammen aber aus einem Spielfilm von 1940: "Der große Diktator" von Charlie Chaplin. Ein einfacher Friseur, der zufällig dem "Führer" ähnelt, schlüpft durch eine Reihe von Zufällen in dessen Rolle und nutzt die Gelegenheit, um eine flammende Rede für mehr Menschlichkeit zu halten - ein ergreifender Höhepunkt der Filmgeschichte. Würden doch auch unsere Politiker einmal "ausgewechselt" durch derart kluge und mitfühlende Doppelgänger! Unser Autor Georg Rammer bringt die Rede Chaplins geschickt mit Fakten aus der aktuellen Politik in Verbindung.
Von Georg Rammer Erst hatte ich gezögert: War es passend, einen Vortrag über Hass und Rassismus - als Folge neoliberaler Politik - mit der Schlussrede des jüdischen Friseurs (Charlie Chaplin) aus "Der große Diktator" abzuschießen? Aus einem Film von 1940 - deutsche Truppen haben gerade Paris besetzt? Doch nach dem kurzen Video kam spontan Beifall auf: Offensichtlich hatte Chaplin mit seiner emotionalen Rede vielen aus dem Herzen gesprochen. Er scheint etwas auszudrücken ( https://www.youtube.com/watch?v=YeaCD9-qum0 ), wonach sich Menschen auch heute sehnen - angesichts einer Politik, die keine Rücksicht auf Interessen, Bedürfnisse oder gar Gefühle der Menschen nimmt. Lassen wir den Friseur Charlie einige "ganz normale" Nachrichten der letzten Tage kommentieren, Meldungen, die keineswegs ein großes Echo in den Medien ausgelöst haben. German Foreign Policy zitiert Daten der EU-Statistikbehörde eurostat (24.3.2017): Danach waren in Ungarn im Jahr 2015 36,1 % der Unter-18-Jährigen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, in Griechenland waren es 37,8 %, in Bulgarien 43,7 %, in Rumänien 46,8 %. Der prozentuale Anteil lag in der Union bei 23,7 % der Bevölkerung. "Damit liegt sie deutlich über der Zahl der Armen etwa im weitaus bevölkerungsreicheren China." Aber unsere politischen Repräsentanten rühmen sich in ihrer Erklärung zum EU-Geburtstag in Rom voll Pathos: Europa ist eine "Gemeinschaft des Friedens, der Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit!" Chaplin sagt: "Wir alle haben den Wunsch, einander zu helfen. Das liegt in der Natur des Menschen. Wir wollen vom Glück des Nächsten leben - nicht von seinem Elend. Wir wollen nicht hassen und uns nicht gegenseitig verachten. In dieser Welt gibt es Raum für alle, und die gute Erde ist reich und vermag einem jeden von uns das Notwendige zu geben." Während die EU-Politiker Flüchtlinge mit aller Gewalt daran zu hindern suchen, nach Europa zu gelangen, meldet die taz am 21.3.2017, dass auf der Route von Libyen nach Europa in diesem Jahr bereits 481 Menschen gestorben sind. Die BNN bringen am 25.3.2017 eine dpa-Meldung, wonach bei einem Unglück im Mittelmeer bis zu 250 Menschen ums Leben gekommen sind. Der Sprecher der Internationalen Organisation für Migration Di Giacomo schrieb auf Twitter: "Das Massaker von gestern erinnert uns daran, dass im Mittelmeer eine Tragödie stattfindet." "Die Gier hat die Seelen der Menschen vergiftet - sie hat die Welt mit einer Mauer aus Hass umgeben - hat uns im Stechschritt in Elend und Blutvergießen marschieren lassen", sagt Chaplin. Das Internationale Rote Kreuz veröffentlichte neulich Zahlen zum Kriegsland Jemen. Dort hungern 60 Prozent der Menschen, das sind 17 Millionen. Es sei die größte humanitäre Katastrophe in der (an Katastrophen nicht armen) Welt. Dort interveniert eine von Saudi-Arabien geführte Koalition arabischer Staaten militärisch mit Luftangriffen und einer Seeblockade. Das hindert aber die deutsche Bundesregierung mitnichten an Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien. Am 16.3.2017 kündigt der Deutschlandfunk einen Beitrag an: "Waffenexporte nach Saudi-Arabien sind für deutsche Rüstungsschmieden ein einträgliches Geschäft. Die deutsche Bundesregierung schiebt diesem Treiben kaum einen Riegel vor - trotz der Menschenrechtslage dort und dem Jemen-Krieg." Der Rüstungskonzern Rheinmetall freut sich: Die guten Geschäfte mit Waffen und Munition haben ihm einen dicken Gewinnsprung beschert. "Der Überschuss stieg 2016 um 32 Prozent (…), der Umsatz um 8 Prozent" (dpa, 24.3.2017). Der Stern berichtet weiter, dass Rheinmetall zusammen mit zwei anderen Rüstungskonzernen Panzer in der Türkei bauen will (stern.de, 20.3.2017). Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate profitieren ebenfalls von deutschen Waffenlieferungen. Übrigens: Deutschland weigert sich, an UN-Verhandlungen zum Verbot von Atomwaffen teilzunehmen, obwohl laut einer Forsa-Erhebung 93 Prozent der BundesbürgerInnen für ein Atomwaffenverbot stimmen und 85 Prozent sich für einen Abzug der Atomwaffen aus Deutschland ausgesprochen haben (vgl. Stefan Korinth bei Telepolis). Die Bundesregierung boykottiert die Verhandlungen, um für Deutschland die Option auf Atomwaffen offenzuhalten! Chaplin: "Unterwerft euch nicht diesen Gewalttätern, die euch verachten und versklaven, die euer Leben in starre Regeln zwingen und euch befehlen, was ihr tun, was ihr denken und was ihr fühlen sollt! Sie drillen euch, sie päppeln euch auf und behandeln euch wie Vieh, um euch schließlich als Kanonenfutter zu verbrauchen. Unterwerft euch nicht diesen Unmenschen - Maschinenmenschen mit Maschinengehirnen, Maschinenherzen." Die jüngsten Nachrichten über Tote und Waffenexporte, Armut und Entscheidungen gegen die Bevölkerung ließen sich schier endlos fortsetzen: Über die Tricks von Monsanto und den Beitrag der Behörden, um Glyphosat vor einem Verbot zu retten (BUND: Gekaufte Wissenschaft), über die Geheim-Verhandlung der EU-Kommission mit Japan über das Freihandelsabkommen Jefta, einschließlich der massiv kritisierten Schiedsgerichte und "regulatorische Kooperation", die die Parlamente entmachtet. Wieder kommen Dokumente nur deshalb an die Öffentlichkeit, weil sie (diesmal von der taz) geleakt werden. Und demnächst stimmt der Bundestag über Grundgesetzänderungen ab, um den Weg zur Privatisierung beim Bau und Betrieb von Autobahnen zu ermöglichen. Entgegen allen Warnungen von Bundesrechnungshof und Sachverständigen will die große Koalition das Projekt durchsetzen, das Konzernen zu Lasten der BürgerInnen Milliardengewinne zuschanzt und Sigmar Gabriels (SPD) Zusicherungen Lügen straft. "Ihr, das Volk, habt die Macht - die Macht (…), Glück hervorzubringen. Ihr, das Volk, habt die Macht, das Leben frei und schön zu gestalten - aus diesem Leben ein wundersames Abenteuer werden zu lassen. Lasst uns also - im Namen der Demokratie - diese Macht anwenden - vereinigt euch! Lasst uns kämpfen für eine neue Welt, für eine gesittete Welt, in der jedermann die Möglichkeit hat zu arbeiten, die der Jugend eine Zukunft und die dem Alter Sicherheit zu geben vermag." Die pathetische Schlussrede Charlie Chaplins kann so berührend sein, weil viele Menschen die Hoffnung auf Gerechtigkeit und Menschlichkeit verlieren angesichts einer Welt voll Krieg und Rassismus und Menschenverachtung und einem unbelehrbaren, nicht lernfähigen neoliberalen System der Menschenfeindlichkeit. Je nach Mentalität überwiegt die Angst vor dem abzusehenden Anwachsen der Krisen und Kriege oder das Bedürfnis, die Verhältnisse von Grund auf zu ändern und humaner zu gestalten. Die Gesellschaft ist auch in dieser Hinsicht gespalten in "rohe Bürgerliche" und aktive Kritiker. "Die geballte Wucht, mit der die Eliten einen rabiaten Klassenkampf von oben inszenieren, und die Transmission der sozialen Kälte durch eine rohe Bürgerlichkeit, die sich selbst in der Opferrolle wähnt und deshalb schwache Gruppen ostentativ abwertet, zeigen, dass eine gewaltförmige Desintegration auch in dieser Gesellschaft nicht unwahrscheinlich ist" (Wilhelm Heitmeyer, Hg.: Deutsche Zustände, 2011, S. ). Umso mehr wächst auch die tiefe Sehnsucht nach einem Leben, das nicht beherrscht wird von Konkurrenz und Gier, angeblichen Sachzwängen und einer Missachtung menschlicher Bedürfnisse nach Frieden, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und einem sinnvollen Leben. Ein solches Leben wird immer schwerer. Denn die Neoliberalen haben ihr Ziel, die Gesellschaft und die Menschen nach ihrem sozialdarwinistischen Modell zu formen, weitgehend erreicht. Und die herrschende Politik der "westlichen Wertegemeinschaft" arbeitet hart auf eine Eskalation der Kriegsgefahr, der hegemonialen Expansion wirtschaftlicher und strategischer Interessen und der menschenfeindlichen Abschottung Europas hin - die Grundlage für Flucht, Rassismus und Befeuerung rechter Gewalt (und den IS). Menschen kommen nicht als Rassisten oder IS-Kämpfer auf die Welt. Was macht sie dazu? Kleinkinder sind hilfsbereit und zeigen Mitgefühl - wenn ihre Umwelt es zulässt und fördert. Und jede soziale Gruppe benötigt Kooperation statt rücksichtslosen Wettbewerb um zu überleben. Aber Hunderte von Millionen Babys erblicken das Licht einer Welt, in der Krieg herrscht, in der ihnen ein Platz bei den Verlierern zugewiesen wird und Armut die Leute quält. Eine Welt, in der ihr Alltag nicht von Mitgefühl und Solidarität, sondern von Angst und Kampf ums Überleben, von Verachtung, Abwertung und Ausbeutung geprägt ist. Die neoliberal radikalisierte Politik arbeitet darauf hin, wieder Kriege gewinnen zu können. Chaplin sagt: "Hasst nicht. Nur der Unglückliche kann hassen - der Ungeliebte, der Pervertierte!" Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 30.03.2017. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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