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Wahlen in der Türkei: Erdogan auf dem Wege zur Alleinherrschaft

Von Memo Sahin und Andreas Buro

Die türkische Politik war zu Beginn 2015 fast vollständig darauf ausgerichtet, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die dem Präsidenten eine uneingeschränkte Macht sichern sollte. Die Wahlergebnisse vom 7. Juni brachten jedoch der regierenden AKP eine zweifache schwere Niederlage. Sie verlor die absolute Mehrheit im Parlament, und die kurdische HDP überwand mit 13% die Zehnprozenthürde.

Doch Erdogan gab nicht auf. Da in der vorgeschriebenen Zeit keine Regierung mit parlamentarischer Mehrheit zustande kam, schrieb er Neuwahlen für den 1. November aus und setzte mit größter Entschlossenheit auf Terror in allen nur möglichen Bereichen, um durch Einschüchterung die Regierungsmehrheit wieder zu erreichen.

Was mit Terror gemeint war, wurde schnellstens in die Tat umgesetzt. Der Friedensprozess mit den Kurden wurden ausgesetzt. Die PKK wurde zum terroristischen Feindbild erklärt. Mit ihr könne es keinen Kompromiss geben. Mit dem Bombenanschlag am 20. Juli in der an Kobanê/Rojava grenzende Stadt Suruc wurden über 30 Freiwillige für den Wiederaubau von Kobanê ermordet. Gleich danach drang die türkische Luftwaffe in die Hoheitsgebiete Iraks ein und bombardierte sowohl die Stellungen der PKK als auch die umliegenden Dörfer der irakisch-kurdischen Zivilbevölkerung.

Diesseits der Grenze wurden heftige militärische Operationen geführt und über 10 kurdische Städte tagelang unter Beschuss genommen und verwüstet. Über hundert ZivilistInnen, darunter kleine Kinder und alte Frauen und Männer, wurden von Scharfschützen regelrecht hingerichtet.

Die Ausgangssperren - in Cizre z.B. über 11 Tage - bestimmten in Lice, Sur, Silvan, Varto usw. den Alltag. Selbst während der Militärherrschaft in den 1980er Jahren wurden die Ausgangsperren nur in der Nacht und für ein paar Tage ausgerufen. Zusätzlich zu diesen Repressionen wurden quer durch den kurdischen Teil der Türkei über 100 Regionen zu militärischen Sperrzonen erklärt.

In den türkischen Gebieten um Ägäis, Mittelmeer, Schwarzmeer und in den Megastädten wie Istanbul, Ankara und Izmir wurden binnen eines Tages Anfang September über 400 Anschläge auf die Parteibüros der HDP verübt; pogromähnliche Zustände und Lynchhysterien kennzeichneten die politisch geführte kurdenfeindliche Haltung in der türkischen Bevölkerung. Und am 10. Oktober gingen in Ankara auf einer Kundgebung von HDP und Gewerkschaften zwei Bomben hoch; über 100 Menschen mussten sterben.

Am 15. August erklärte Erdogan, dass sich das politische System der Türkei de facto geändert habe, und alles andere müsse sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Vorher war am 5. August von Premier Davutoglu an die Gouverneure ein Dekret gerichtet worden, in der der Einsatz des Militärs in den Städten befürwortet wurde. Ende August, am 31.8.2015, wurde wiederum per Erlass eine Kopfgeldprämie für  kurdische Akteure ausgeschrieben. Jeder, der einen "Terroristen" anzeige, werde bis zu vier Millionen Türkische Lira, umgerechnet 1,5 Mio. Euro, erhalten. Selbst Putschgeneräle von 1980 haben an solche Maßnahmen nicht gedacht.

Gezielte Angriffe auf die Medien und Journalisten nahmen parallel zu. Hetzkampagnen gegen die türkischen Medienkonzerne, wie Dogan (Hürriyet und CNN-Türk) und Koza-Ipek, das der Gülen-Bewegung nahe steht, führten zu tätlichen Angriffen. Einer der bekannten türkischen Journalisten, Ahmet Hakan, wurde mit Nasen- und Rippenbruch außer Gefecht gesetzt. Drei der Angreifer waren AKP-Mitglieder. Drei Tage vor den Wahlen wurden zwei Sender und zwei Tageszeitungen von Koza-Ipek unter staatliche Kontrolle gestellt.

Landesweit wurden Angst und Schrecken verbreitet. Unter diesen Umständen und Vorhersagen eines "Chaos" ohne eine AKP-Regierung fanden dann die Wahlen am 1. November statt. Selbst am Wahltag standen überall in den kurdischen Wahllokalen Panzer und gepanzerte Fahrzeuge der vermummten Spezialteams.

Die Ergebnisse im Einzelnen:

7. Juni     1. November    
Erhaltene Stimmen Anteil Sitze Erhaltene Stimmen Anteil Sitze
AKP    18,86 Mio.  40,9 %  258  23,67 Mio.  49,5 %  317
CHP    11,52 Mio.  25,0 %  132  12,11 Mio.  25,3 %  134
MHP     7,52 Mio.  16,3 %    80   5,70 Mio.  11,9 %    40
HDP      6,06 Mio.  13,1 %    80   5,15 Mio.  10,7 %    59


Was ist geschehen, dass die AKP innerhalb von 4-5 Monaten von 40,9 % auf 49,5 % klettern, also innerhalb weniger Monate etwa fünf Millionen Stimmenzuwachs erzielen konnte?

Eine Erklärung besagt, Angst und Schrecken, die vor den Wahlen verbreitet wurden, habe die nationalistisch-chauvinistischen Kreise unter dem Banner der AKP enger zusammengeführt.

Die verlorengegangene eine Million Stimmen der HDP können nach unserer Einschätzung zwei Gründe und zwei Adressaten haben: Die kurdischen Alewiten, darunter auch die säkular eingestellten Kurden in den türkischen Metropolen sind misstrauisch geworden, weil die HDP mit der AKP in der Übergangsregierung für die Durchführung der Wahlen mit zwei Ministern Platz nahm, obwohl die kemalistische CHP und die nationalistische MHP dieser Wahl-Regierung fernblieben.

In den kurdischen Gebieten hat ein Teil der kurdischen Klein-Bourgeoisie der HDP deshalb den Rücken gekehrt, und auch weil das durch Erdogan vorhergesagte Chaos sie eingeschüchtert hat. "Wenn wir ihn nicht wählen, werden wir morgen noch mehr leiden. Wenn wir aber ihn wählen, würde er uns vielleicht in Ruhe lassen."

Auch Europa träg eine Mitschuld

Zwei Wochen vor den Wahlen reiste Bundeskanzlerin Merkel in die Türkei, machte erhebliche Zugeständnisse und hofierte den potenziellen Alleinherrscher Erdogan. Sie kam aus Rücksicht auf die AKP nicht einmal mit den OppositionsführerInnen zusammen und traf keine/n einzige/n MenschenrechtlerIn. Wegen der Flüchtlingsströme versprach sie Ankara Hilfen in Milliardenhöhe, Visaerleichterungen für türkische BürgerInnen und die Eröffnung neuer Kapitel bei den Verhandlungen der EU mit der Türkei.

Auch die EU verzögerte die Veröffentlichung ihres jährlichen Fortschrittsberichts auf die Zeit nach den Wahlen, um den Mann in Ankara nicht zu verärgern.

Ob dies alles mit den Werten der EU vereinbar ist und ob diese "sensible" Haltung die sich in Richtung Europa bewegende Flüchtlingsströme eindämmen wird? Erdogan hatte einen starken Hebel gegen EU und speziell Deutschland: Warum bewegen sich die seit vier Jahren in der Türkei lebenden Flüchtlinge, plötzlich als ob man auf den Knopf gedrückt habe, seit Juli Richtung Europa? Gab es früher keine Schleuser oder Schlepper in der Türkei? Oder gibt es hinter diesen Bewegungen einen staatlichen Lenker, um der wachsenden politischen Kritik bezüglich der Verletzung der Menschenrechte, des im Land geführten Krieges und der engen Verbindungen zum IS in Syrien zu begegnen?

Wie weiter jetzt?

Erdogan möchte seine Alleinherrschaft à la Orient mit einem verfassungskonformen Siegel versehen. Er möchte die Türkei in ein Sultanat umwandeln, was auch nahestehende Blätter und JournalistInnen nicht leugnen. Um dieses Ziel zu erreichen, verfügt er im Parlament jedoch nicht über die erforderliche Zweidrittelmehrheit von 367 Sitzen.

Beschließen die AKP und andere jedoch mit mindestens 330 Stimmen das geplante neue Verfassungsgesetz  im Parlament, so ist der Weg frei für ein Referendum des Volkes, bei dem nur eine Zustimmung von 50% erforderlich ist. Für diesen Weg fehlen Erdogan nur 13 Sitze, um mit 330 Stimmen sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Das würde allerdings die neue Verfassung noch nicht gültig werden lassen, reicht jedoch aus, um ein Referendum durchzuführen, bei dem 50% Zustimmung reichen würden.

Im Orient gibt es Basare, wo man nicht nur über Pferde- und Ochsen verhandelt, sondern auch Basare, wo Politiker eingekauft werden. Mit dem Angebot einiger Minister- und Staatssekretärsposten könnten die fehlenden 13 Stimmen eingekauft werden. Erdogan und seine AKP werden vermutlich diesen Weg des Kuh- und Pferdehandels gehen. Dann können sie die Verfassung ändern und die Alleinherrschaft von Erdogan krönen.

Von jemandem, der sagt, dass es kein Kurdenproblem gäbe, dass mit Terroristen nicht verhandelt werde, der die HDP mit der PKK, die syrisch-kurdische Partei PYD mit dem IS gleichsetzt, der wiederholt sagt, dass die Terroristen entweder ausgerottet und mit Beton zugegossen werden oder zur Hölle gehen sollten, kann man zumindest in nächster Zeit keine Friedenspolitik gegenüber den Kurden erwarten.

Weil einige dies ähnlich beurteilen, verließ z.B. ein bekannter kurdischer Dichter, Yilmaz Odabasi, nach den Wahlen die Türkei und ging nach Europa. Ein anderer, ein kemalistischer und konservativer Kolumnist, Dr. Cüneyt Ülsever, hat aufgehört zu schreiben. Er sagte: "Was ich sagen wollte, habe ich gesagt und geschrieben. Ich musste erleben, dass meine Worte zu nichts nützen. Warum soll ich weiter schreiben!"

Es ist zu befürchten, dass sich die Spirale der Gewalt zumindest bis zum Referendum weiter drehen wird. Kaum abzuschätzen ist jedoch, wie die Herrschaft nach der Etablierung des allmächtigen Sultan-Präsidenten sich gestalten wird. Es ist nicht auszuschließen, dass er nach der Etablierung seiner neuen Macht ein Interesse hat, die frühere ‚Friedenspolitik’ mit den Kurden wieder aufzunehmen. In welcher Weise, kann gegenwärtig nicht gesagt werden. Doch ein Aspekt wird eine wichtige Rolle spielen, nämlich wie sich die türkischen KurdInnen verhalten. Werden sie, wie ein Teil von ihnen es schon tut, wieder auf den gewaltsamen Kampf zurückfallen oder gar versuchen, innerhalb der Türkei einen Guerilla- und Bomben-Krieg zu entfesseln? Damit öffnen sie dem Terror und der Kurdenverfolgung Tür und Tor, ohne auch nur die geringste Erfolgsperspektive. In dieser Situation ist es die Aufgabe der UnterstützerInnen der gerechten Ziele der Kurden, die kurdischen Kräfte zu unterstützen, die trotz aller Rückschläge an der friedlichen Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts festhalten.

Andreas Buro ist u. a. friedenspolitischer Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie und des "Monitoring-Projekts: Zivile Konfliktbearbeitung, Gewalt- und Kriegsprävention". Memo Sahin ist ehrenamtlicher Geschäftsführer des Dialog-Kreises " Die Zeit ist reif für eine politische Lösung im Konflikt zwischen Türken und Kurden".

Quelle: FriedensForum 1/2016.

Veröffentlicht am

26. Januar 2016

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