Uni im Untergrund: Kritisches Denken für das Afghanistan der ZukunftVon Thomas Seibert "Lets go underground", sagt Doktor Sharif vom medico-Partner Afghan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO) schmunzelnd, als wir um 9 Uhr früh die Treppe zu einem Vorlesungssaal der staatlichen Universität von Kabul herabsteigen, der im Keller liegt. Im Raum sind etwa 80 Studierende, junge Frauen und Männer. Der schwedische Soziologe Göran Therborn wird gleich mit seiner Vorlesung "The Ideology of Power and the Power of Ideology" beginnen. Mit ihr startet die auf mehrere Tage angelegte Konferenz "Critical Thinking and the Future of Afghanistan", die während der nächsten sechs Tage an verschiedenen Orten in Kabul und Bamyan stattfinden wird, veranstaltet von AHRDO und unterstützt von medico international. Am Nachmittag wird die Debatte an der Gawharshad Universität fortgesetzt, einer privaten Universität, die auf Initiative der international bekannten Feministin Simar Samar gegründete wurde, der Präsidentin der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission. Am Tag darauf tagen wir im Konferenzsaal eines Hotels, am übernächsten Tag in einem heute als öffentlichem Tagungsort verwendeten Schloss in den berühmten Bagh-e Babur, einem alten Park von Kabul. Dann geht es nach Bamyan, wo wir an der Universität zusammenkommen und die Konferenz am nächsten mit einer Zusammenkunft von Lehrer*innen, Studierenden und Aktivist*innen im vertraulichen Kreis beschließen werden. Die Idee dazu entstand im Juli letzten Jahres, nach der letzten großen Demonstration des "Enlightenment Movements" in Kabul. Damals zogen 30.000 Menschen, wiederum Frauen und Männer, durch die Straßen von Kabul, um gegen die Verlegung einer Stromtrasse zu protestieren, die ursprünglich durch das Gebiet der Hazara-Minderheit führen sollte. Ein Selbstmord-Kommando des afghanischen IS-Ablegers zündete Bomben, mehr als 80 Menschen starben, über 400 wurden verletzt. Die AHRDO-Kollegen hatten die Demonstration mitorganisiert, kooperierten eng mit dem "hohen Rat" der Bewegung, zu dem oppositionelle Parlamentsabgeordnete und Vertreter verschiedener politischer und sozialer Initiativen gehören. Das Besondere des Enlightenment Movements ist, dass sich hier die Widerstandsbewegung einer ethnisch diskriminierten Minderheit mit der intellektuellen Jugend Kabuls und den weiteren Netzwerken der Menschenrechtsaktivist*innen und der kritischen NGOs zusammengefunden hat, um im Kampf gegen ein ganz besonderes Unrecht eine breiten Bewegung für soziale Gerechtigkeit und Demokratie zu bilden. Deshalb auch der Name: Es geht zum einen ganz wörtlich um das Licht in tausenden von Hazara-Wohnhäusern, und es geht um Aufklärung im eminenten Sinn des Wortes, "um die Überwindung der Dunkelheit", wie ein Aktivist sagt, "in der wir zu leben gezwungen sind." Mit dem furchtbaren Anschlag, das war damals allen klar, wurde den ersten demokratischen Massenprotesten seit Jahrzehnten die Spitze gebrochen: seither hat es keine größere Demonstration mehr gegeben, weil das Risiko eines weiteren Anschlags nicht ausgeräumt werden kann. Noch in den Tagen der Trauer erreichte uns ein Email von AHRDO. Die Kollegen wollten eine halböffentliche Konferenz durchführen, damit, so schrieben sie uns, "wir hier in Afghanistan Anschluss an die internationalen linken Debatten finden." Gemeinsam wollen wir linke Theoretiker*innen aus der ganzen Welt nach Kabul einladen, um Diskussionen fortzuführen, die in den letzten Jahren die Sozialforen und andere Zusammenkünfte am Rande großer Demonstrationen belebt haben. So soll das Bündnis zwischen Hochschullehrer*innen, Studierenden, Journalist*innen, Schriftsteller*innen und Aktivist*innen ganz verschiedenen Hintergrunds vertieft und verstetigt werden, das den Kern des Enlightenment Movements bildet. Der mutige Plan brach sich an der Realität, für die Afghanistan steht: Auf die insgesamt 60 Einladungen kamen nur drei positive Rückmeldungen, von denen zwei wieder zurückgezogen wurden. Nach Lage der Dinge ist das mehr als verständlich: trotz aller Sicherheitsvorkehrungen bleibt ein Risiko, das nicht auszuräumen ist. Sichtbar wird das daran, dass die Konferenz nicht öffentlich beworben werden kann, die Veranstaltungen nur mündlich, per vertraulichem Email oder durch kurzfristige Aushänge an den Veranstaltungsorten beworben werden können. Wir behelfen uns schließlich aus eigener Kraft: Wir werden selbst das Wort ergreifen und auf die tätige Mithilfe afghanischer Intellektueller bauen. Auch aus deren Kreis allerdings wird im letzten Augenblick eine Zusage zurückgezogen: ein für seine kritische Position bekannter Politikwissenschaftler, der zeitweilig Minister war und immer noch Regierungsberater ist, möchte dann doch lieber nicht "mit linken Kreisen" in Verbindung gebracht werden. Den 80 Studierenden, die sich dichtgedrängt im Keller der Universität Kabul zusammenfinden, kann Göran Therbon das auch mit der Dialektik erklären, die im Titel seines Vortrags spielt: Macht der Ideologie und Ideologie der Macht. Die Diskussion danach bestätigt, wie richtig die Idee von AHRDO war: Der Soziologe hat gerade seinen letzten Satz beendet, da schnellen schon die Finger in die Höhe, mit der die Studierenden ihre Fragen und Kommentare anmelden, die ganze Veranstaltung wird dreieinhalb Stunden dauern. Dasselbe ereignet sich am Nachmittag in der Gawharschad Universität, in der die medico-Kollegin Eva Bitterlich, Göran Therborn und Sima Samar im nicht weniger dichtgedrängten Raum eine Debatte zum Feminismus eröffnen. Einem islamistisch orientierten Studenten, der Feminismus und Menschenrechte zu "westlichem Zwang" erklärt und das Recht des Mannes auf vier Frauen verteidigt, wird der schärfste Widerspruch zuteil: das Gelächter seiner weiblichen Kommilitoninnen, die hier im Raum deutlich die Mehrheit bilden. Zur ersten Hauptveranstaltung am nächsten Tag kommen 120 Teilnehmer*innen zusammen, die Hälfte jung, die andere Hälfte älter, Intellektuelle und politische Aktivist*innen, deren Erfahrung in die 1970er und 1980er Jahre zurückreicht. Diskutiert werden jetzt "Marx und Kritische Theorie im 21. Jahrhundert", "Afghanistans Weg in die Moderne" und schließlich die "Dialektik der Moderne" selbst, mit Rückgriffen auf die Philosophen Adorno, Foucault und Badiou - letzterer hatte ursprünglich selbst zugesagt, dann aber mit der glaubwürdigen Begründung zurückgezogen, dass er als über achtzig Jahre alter Autor erst sein mutmaßlich letztes Buch fertig stellen müsse, mit dem er in Verzug geraten sei. Wieder stellt sich die Erfahrung des Vortags ein: kaum haben die Redner - darunter der afghanische Philosoph und Islamwissenschaftler Amin Ahmadi, einer der Ko-Autoren der demokratischen Verfassung - ihre Beiträge beendet, entspannen sich äußerst bewegte Debatten, in denen sich gleichermaßen die Jüngeren wie die Älteren zu Wort meldeten. Zum Abschluss nach Stunden im mittlerweile deutlich überhitzen Raum spielten Musiker*innen des National Music Institutes Stücke klassischer afghanischer Musik - eine Darbietung, die unter den Taliban mit dem Tod bestraft worden wäre. Am Abend, beim Essen im kleineren Kreis in einem der wachsenden ärmlichen Stadtteile, wird dann auch deutlich, wie riskant unser Unternehmen ist. Jetzt kommt ausführlicher zur Sprache, was wir mit den AHRDO-Kolleg*innen sonst per Email und im Austausch von Analysen diskutieren. Der afghanische Friedensprozess droht zu kollabieren, Taliban und IS sind auf dem Vormarsch, die Sicherheitskräfte des Staates entweder selbst ein Sicherheitsrisiko oder zutiefst erschöpft und überfordert, die wirtschaftliche Lage des kriegszerschundenen und bitter armen Landes ein einziges Desaster. "Seit Pakistan Hunderttausende geflohener Afghan*innen nach zum Teil jahrzehntelangem Aufenthalt zur Rückkehr zwingt", sagt eine Historikerin, die in London studiert hat, "explodiert die Kriminalität in Kabul. Jede Woche werden Menschen entführt, um Lösegelder zu erpressen. Dabei handelt es sich nicht um Weiße oder um hochvermögende Afghan*innen. Es reicht, dass man den Anschein erweckt, wenigstens über etwas Geld zu verfügen, um Entführungsopfer werden zu können." Wir sprechen die "Rückführungen" von afghanischen Asylant*innen aus Deutschland und die Einschätzung der Bundesregierung an, dass Afghanistan zumindest in Teilen ein sicheres Herkunftsland sei. "Wir können darüber nicht einmal mehr wütend sein, so absurd, so offenkundig irre ist das", sagt Doktor Sharif - der gar kein Doktor ist, weil er sein Medizinstudium bei Kriegsbeginn abbrechen musste, doch von all’ seinen Freund*innen so genannt wird, weil er seit vielen Jahren ein Lehrer gleich mehrerer Generationen der demokratischen Opposition in Afghanistan ist. "Wir wissen einmal mehr, dass wir auf sogenannte demokratische Regierungen nicht zählen können, dass wir auf uns allein gestellt sind und auf die Solidarität derer, die mit uns sein wollen." Nicht die geringste Gefahr schon für die nahe Zukunft des Landes ist, dass selbst die Taliban, die stetig Gelände gewinnen, nicht mehr wissen, was sie eigentlich wollen. "Wenn die Situation weiter eskaliert, droht einfach das Chaos, und das wird eine Ordnung sein, die jeden Tag neu mit Gewalt ausgehandelt wird, auf Kosten aller, die nicht mithalten können." Weil die Dinge so liegen, ist es umso wichtiger, alle zu stärken, die verzweifelt und unbeirrt nach Auswegen suchen. "Wir sind wenige, doch wir werden mehr", schließt der Doktor, "und wer, wenn nicht wir, muss wissen, wofür sich einzusetzen lohnt." Die Debatte des nächsten Tags, die in den Gärten des Babur stattfinden soll, fragt deshalb noch einmal nach Tradition und Moderne, und sie fragt das im Ausblick auf die "Killing Fields der Ungleichheit": so der Titel des nächsten Vortrags von Göran Therborn. Quelle: medico international - 21.04.2017. Ebenfalls Empfehlenswert: Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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