Theodor Ebert: Shanti Sena in Deutschland?Wie lassen sich Gandhis sicherheitspolitische Vorstellungen auf europäische Verhältnisse übertragen?Von Theodor Ebert Gibt es eine demokratiespezifische, gewaltfreie Sicherheitspolitik?Die Aufgabe einer Überschrift ist es im Idealfall, den Leser mit einem einzigen Schlagwort über den Inhalt des nachstehenden Artikels zu informieren. Wer also in den Titel gleich zwei Begriffe wie "Shanti Sena" und "Soziale Verteidigung" aufnimmt, die einem erheblichen Teil der potentiellen Leser neu und unverständlich sind, läuft Gefahr, dass sein Beitrag nicht zur Kenntnis genommen wird. Um dies zu vermeiden, gibt es auch die Möglichkeit, auf ein gesellschaftliches Problem hinzuweisen, indem man nicht sofort die Antwort auf den Begriff bringt, sondern die Frage so formuliert, dass der Leser sie als seine eigene begreift und mit dem Autor nach der Antwort sucht. Die Frage lautet dann: Gibt es für Demokratien wie die Bundesrepublik Deutschland eine Alternative zum Militär, und was müssen die Bürger dieser Republik leisten, um diese Alternative effizient zu gestalten? Nach einer Alternative zum Militär wird derjenige suchen, der einerseits böse Erfahrungen mit dem Einsatz von Militär gesammelt und andererseits zumindest hat davon läuten hören, dass gewaltfreie Aktionsmethoden denjenigen zur Verfügung stehen, die bereit sind, sich über diese zu informieren und sich in diese einzuüben. Dies war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und bei der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik nur bei einigen wenigen Kriegsdienstverweigerern der Fall, welche der Auffassung waren, dass der geplante Einsatz von Atomwaffen im Ernstfall alles Verteidigenswerte zerstören würde. In dieser Situation wurden sie nicht nur auf die gewaltlosen Methoden Gandhis beim Widerstand gegen die englische Kolonialherrschaft aufmerksam, sondern bemerkten: Gandhi hat für das unabhängige Indien keine Armee vorgesehen, sondern bereits am Ende des Ersten Weltkriegs die Vorstellung vertreten, dass aus dem gewaltlosen Widerstand gegen die Kolonialherren die Strukturen erwachsen sollten, die es ermöglichen würden, mitsamt der Kolonialherrschaft auch die Armee der Kolonialherren als Institution abzuschaffen. Gandhi wollte an Stelle einer indischen Armee ein Netzwerk von gewaltfreien Aktionsgruppen aufbauen. Er nannte diese alternative Institution schließlich "Shanti Sena". Wenn man dies wörtlich übersetzt, sträubt zumindest die deutsche Sprache sich gegen diese Innovation. Shanti Sena heißt "Friedensarmee", aber da "arma" lateinisch die Waffe ist, kann ein Netzwerk von gewaltfreien Aktionsgruppen eigentlich keine Armee bilden. Gandhi hat dennoch am Begriff der Armee festgehalten, um anzudeuten, dass es sich bei der Shanti Sena um eine echte Alternative zur Armee handle und nicht um eine bloße Nichtregierungsorganisation, die sich auch um dem Schutz demokratischer Grundrechte kümmert. Es ist festzuhalten: Gandhi begriff die Shanti Sena nicht als Ergänzung, sondern als Alternative zum militärischen Apparat. Als in London ausgebildeter Jurist wusste er, dass zum herkömmlichen europäischen Staatsverständnis die Ausübung des Gewaltmonopols durch Militär und Polizei gehört, und viele Menschen sich darum einen Staat ohne Militär und schwer bewaffnete Polizei gar nicht vorstellen können. Die Ausübung des Monopols der physischen Gewaltsamkeit ist nach Max Weber selbstverständliches und unverzichtbares Merkmal des modernen Staates. Doch es existieren in libertärer (anarchistischer) und pazifistischer Tradition auch Staatskonzepte bzw. Konzepte der Ausübung von Volkssouveränität, welche von der Fähigkeit, militärische Gewalt anzuwenden, absehen und ihre Stütze in der Fähigkeit zur gewaltfreien, direkten Aktion finden. Während Kanonen zu Beginn der Neuzeit und bei der Herausbildung des modernen Territorial- und Nationalstaates noch mit der als typisch zu bezeichnenden Aufschrift "ultima ratio regis" (das letzte Mittel des Königs) versehen wurden und damit die Vorstellung der Zusammengehörigkeit von Staat und Militärgewalt zum Ausdruck brachten, kann man im Blick auf Konzepte, die in Anlehnung an Gandhi in partizipatorischen Demokratien den gewaltlosen Widerstand als Mittel der Verteidigungspolitik vorsehen und die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, von einer "ultima ratio populi", also dem letzten Mittel des souveränen Volkes, sprechen. In der Praxis wie in der Theorie ist jedoch die Verbindung von Staatlichkeit und Militär auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch das Übliche. Als die Sowjetunion zerfiel und sich neue Nationalstaaten bildeten, haben sich alle beeilt, kleinere oder größere Armeen zu bilden. Mehrere sind der NATO beigetreten. Die baltischen Staaten taten dies, obwohl sie im Moment ihrer Neukonstituierung sich mit Methoden des gewaltlosen Widerstands erfolgreich gegen bewaffnete Kräfte, welche diese Neugründungen rückgängig zu machen suchten, verteidigen konnten. Gandhis Sicherheitskonzept und dessen Rezeption in EuropaDies geschah zu einem Zeitpunkt, zu dem in Deutschland - und auch in einigen anderen parlamentarischen, parteienstaatlichen Demokratien - von der Friedensforschung bereits das Konzept einer staatlichen Selbstbehauptung ohne die Existenz einer nationalen oder transnationalen Armee entwickelt worden war. In der Bundesrepublik Deutschland hatte dieses Konzept im Bund für Soziale Verteidigung, einem Zusammenschluss pazifistischer Vereinigungen, eine vorläufige organisatorische Struktur gefunden. Die Grünen hatten als im Deutschen Bundestag vertretene Partei sich dieses Verteidigungskonzept zu Eigen gemacht und sich mehr oder weniger intensiv bemüht, den gewaltfreien, zivilen Widerstand zu einem eigenständigen sicherheitspolitischen Konzept zu entwickeln. Gandhi hat vor seiner Ermordung im Jahre 1948 die Alternative zu einer herkömmlichen Armee und zu schwer bewaffneter Polizei nicht mehr im großen Stil erproben können. Indien und Pakistan waren nach dem Ende der Kolonialherrschaft den Weg der Verbindung von Staatlichkeit und Militär gegangen. Gandhi hatte gehofft, dass es gelingen könnte, im Zuge eines lang anhaltenden, gewaltfreien Aufstandes gegen die englische Kolonialherrschaft, Indien als Nation von Hindus und Muslimen zu erhalten und eine Shanti Sena aufzubauen. Diese nonviolent task force sollte sich aus den Satyagrahis (gewaltfreien Freiheitskämpfern) rekrutieren, die sich bei konstruktiven Aktionen zur Entwicklung Indiens, bei der Schlichtung lokaler, bewaffneter Zusammenstöße und im Widerstand gegen die Kolonialherrschaft kennen gelernt und vernetzt hätten. Einiges konnte erreicht werden, aber das Projekt eines gewaltfreien, ökologisch eingepassten Indien mit der Wohlfahrt für alle (Sarvodaya) als politischer Zielsetzung blieb in den Anfängen stecken. Auch die Shanti Sena gedieh über lokale Ansätze nicht hinaus und zu der Aufgabe der Entkopplung von Staat und Militär hinterließ Gandhi darüber hinaus nur theoretische Schriften in der Form von Aufsätzen in Zeitschriften oder Aussagen in Interviews.Sie wurden systematisiert und herausgegeben von Bharatan Kumarappa im November 1949. 1996 erschien diese Sammlung als Bd. 2 der Reihe "Politik: Handeln und Verstehen" in Münster im LIT-Verlag: Mahatma Gandhi: Für Pazifisten. Übersetzung und Nachwort von Wolfgang Sternstein. Im Übrigen zeigte er bei den Zusammenstößen zwischen Hindus und Moslems, die mit der Unabhängigkeit und der Teilung Indien einhergingen, wie er sich das gewaltfreie Eingreifen in blutige, innenpolitische Konflikte vorstellte. Die Impulse Gandhis wurden in Europa und in den USA seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts von pazifistischen Organisationen und Friedensforschern aufgegriffen, die nach Alternativen zur atomaren Abschreckung und auch zum Guerillakrieg bzw. zur bewaffneten Résistance suchten. 1961 konstituierte sich im Stuttgarter Verband der Kriegsdienstverweigerer eine pazifistische Aktionsgruppe "Gewaltfreie Zivilarmee", die sich mit ähnlichen gewaltfreien Aktionsgruppen in anderen deutschen Städten zu vernetzen suchte. Sie veröffentlichte nach der Programmschrift "Die Gewaltfreie Zivilarmee. Stimme der jungen Generation" einen Rundbrief "konsequent. Mitteilungen der Aktionsgruppen für gewaltfreien Widerstand". Diese Aktionsgruppen untersuchten (zunächst noch außerhalb der universitären Forschung) Fälle von gewaltlosen Widerstand gegen Besatzungsregime und Staatsstreiche untersucht, ob sich demokratische Errungenschaften auch mittels gewaltfreien Widerstands gegen totalitäre Gleichschaltungsversuche behaupten ließen. Die Stuttgarter Aktionsgruppe versuchte vorzuleben, wie eine solches Pendant zu Gandhis Shanti Sena in Deutschland leben und arbeiten könnte.Siehe Ebert, Th.: Die Gewaltfreie Zivilarmee.Tagebuch eines pazifistischen Experiments, Berlin 2014, 350 S. Zu finden auf der Homepage www.theodor-ebert.de . Es kam zur engen Zusammenarbeit der deutschen gewaltfreien Aktionsgruppen mit der englischen Wochenzeitung "Peace News", deren Redakteure die Anstöße des englischen Publizisten Sir Stephen King-Hall weiter verfolgten. Dieser war 1958 in seiner Analyse des britischen Verteidigungskonzeptes zu dem Ergebnis gelangt, dass sich mit den bereit gestellten atomaren Waffen der britische way of life gar nicht verteidigen ließe und darum untersucht werden müsse, ob und wie Großbritannien sich mit gewaltlosen Mitteln verteidigen könne. Sein Buch "Defence in the Nuclear Age" erschien auch in deutscher Sprache im Verlag des "Stern"-Eigentümers Henri Nannen unter dem Titel "Den Krieg im Frieden gewinnen" und wurde in deutschen Massenmedien aufmerksam besprochen. King-Hall forderte die Entwicklung einer mehrere westeuropäische Staaten umfassenden Organisation zur Vorbereitung und zum Einsatz gewaltlosen Widerstands als Mittel der Verteidigungspolitik. Den Anstoß zu diesem Umdenken hatte die Entwicklung der Waffentechnik gegeben. In dem Moment, in dem die äußerste Steigerung des Einsatzes vorhandener konventioneller und atomarer Waffen zur kompletten Zerstörung von Industriegesellschaften führen konnte, schien es plausibel, den kompletten Verzicht auf den Einsatz solcher Waffen durch einen Militärapparat zu erwägen. Am St. Hilda College der Universität Oxford trafen sich - selbst organisiert und aus eigener Tasche und mit ein paar privaten Spenden finanziert - im September 1964 amerikanische, britische, norwegische und deutsche Friedensforscher zur Civilian Defence Study Conference. Erörtert wurden zum ersten Mal systematisch die Möglichkeiten der Vorbereitung und des Einsatzes gewaltfreien Widerstands als Mittel der Verteidigungspolitik. Die Publikation der Ergebnisse der Konferenz durch Adam Roberts in "The Strategy of Civilian Defence. Nonviolent Resistance to Aggression" (London: Faber & Faber, 1967) erfolgte kurz vor einem Ereignis, das die Welt überraschte. Im August 1968 traten Regierung, Partei und Bevölkerung der CSSR den Interventionstruppen des Warschauer Paktes unbewaffnet entgegen, verweigerten die Zusammenarbeit und verstanden es, die Kommunikation zwischen den politischen Organen und der Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Obwohl der Widerstand nur wenige Monate durchgehalten werden konnte, und die Reformer einem Regime von Parteigängern der UdSSR weichen mussten, war der Eindruck des gewaltlosen Widerstands auf die Weltöffentlichkeit und auch auf die Aggressoren nachhaltig. Der gewaltlose Widerstand gegen Fremdherrschaft galt künftig als ein Faktor der internationalen Politik, der Berücksichtigung verlangte.Die überarbeitete und erweiterte deutsche Übersetzung der Untersuchung von A. Roberts erschien 1971 in Göttingen im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht: Gewaltloser Widerstand gegen Aggressoren. Probleme, Beispiele, Stragtegien. Nachwort zur deutschen Ausgabe von Th. Ebert: Voraussetzungen und Konsequenzen der Sozialen Verteidigung in der Bundesrepublik, S. 290-299. Als sich in den 80er Jahren erneute Reformbestrebungen in Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes, vor allem in Polen, zeigten, zögerten die sowjetischen Politiker, noch einmal zum Mittel der militärischen Intervention zu greifen und suchten sich mit mehr oder weniger willigen einheimischen Kollaborateuren zu behelfen, obwohl diese sich bei ihren Unterdrückungsmaßnahmen dann auffallend mäßigten. Das Regime von General Jaruzelski lässt sich am besten erklären, wenn man sich an die Erfahrungen der Truppen des Warschauer Paktes in der CSSR im Jahre 1968 erinnert. In der Bundesrepublik Deutschland gab es unter Friedensforschern ähnliche Überlegungen wie diejenigen, die in Großbritannien zur Oxforder Civilian Defence Study Conference geführt hatten. Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler befasste sich unter der Leitung des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäckers mit Studien zu den Schäden atomarer Kriegführung auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Sie gelangte zu dem Ergebnis, dass die BRD einen atomaren Krieg als Industriegesellschaft nicht überdauern könnte. Spätere Studien zeigten, dass auch beim Großeinsatz nichtatomarer Mittel die Zerstörungen um ein vielfaches größer sein würden als bei den Bombardements des Zweiten Weltkriegs und dass Großbrände und damit verbundene chemische Reaktionen und Giftschwaden volksvernichtende Ausmaße annehmen würden. Die Strategie der Sozialen VerteidigungAus der Einsicht in die Unmöglichkeit atomarer und konventioneller Kriegführung in modernen Industriegesellschaften ergab sich die Frage, ob man den Einsatz von Waffen und Soldaten nicht von vornherein eliminieren und - statt weiterhin Grenzen und Territorien zu schützen - die sozialen und freiheitlichen Errungenschaften eines Landes direkt verteidigen sollte durch den gewaltlosen Widerstand der Bewohner eines Landes. Aus europäischer Sicht war der direkte Schutz von Grenzen nicht mehr möglich. Wie John Herz in "Weltpolitik in Atomzeitalter" (Stuttgart: Kohlhammer, 1961) betonte, verfügten die Territorialstaaten seit der Erfindung fern tragender Waffen - und insbesondere der atomar bestückten Raketen - nicht länger über eine "harte Schale", weil jeder Ort des angegriffenen Landes in kürzester Zeit von Vernichtung bedroht sein könnte. Zog man daraus die Konsequenz, den Einsatz militärischer Mittel auszuscheiden und auch gar nicht mehr damit zu drohen, dann waren die künftigen Träger des Widerstands
Der Gedanke der Verteidigung der staatlichen Souveränität wurde darum aber nicht aufgegeben. Diese Souveränität der sich gewaltfrei verteidigenden Nationalstaaten sollte sich aus der obstinaten Weiterarbeit der gesetzlichen Organe ergeben bzw. sollte nach eventueller, zeitweiliger Unterdrückung aus dem Volkswiderstand neu erwachsen. Diese nichtmilitärischen Verteidigungskonzepte wurden unter Begriffen zusammengefasst, die meist einen Aspekt des Vorgehens besonders herausstellten. Es wurde von gewaltloser, nichtmilitärischer, ziviler und sozialer Verteidigung gesprochen. Gemeint war immer das Gleiche: Das Kennzeichen der neuen Verteidigungskonzepte war, dass ihre Träger nicht uniformierte Soldaten, sondern Zivilisten waren. Diese sollten auch nicht besonders mobilisiert werden, sondern in Form einer "dynamischen Weiterarbeit ohne Kollaboration" ihrer geregelten Arbeit nachgehen und zwar gemäß den demokratisch erlassenen Gesetzen. Den Befehlen der Usurpatoren sollten sie sich auf einfallsreiche Weise verweigern und eventuelle Lücken schließen. Damit dies - trotz Androhung von Sanktionen durch den Aggressor bzw. Usurpator - auch durchgehalten werden könne, sollten entsprechende Übungen in Form von Trainings für Anfänger und Manövern für Fortgeschrittene abgehalten werden. Bei ungleichen Belastungen durch den Widerstand sollte auch für Entschädigungen Vorsorge getroffen werden. Von der Vorbereitung auf diese neuen Verteidigungsformen sollte eine - der Abschreckung vergleichbare - warnende Wirkung ausgehen. Diese warnende Wirkung sollte sich aus einer Mischung wirtschaftlicher und politischer Faktoren ergeben. Die tragenden Überlegungen waren:
Erfahrungen mit zivilem Widerstand bei zwischenstaatlichen KonfliktenDie Kosten, welche durch gewaltlosen Widerstand verursacht werden, sollen den Aggressor bewegen, sich zurückzuhalten bzw. sich wieder zurückzuziehen. Bei der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Jahre 1923 zeigte es sich rasch, dass die Okkupation kein geeignetes Mittel war, Reparationen einzutreiben. Die Kosten der Besetzung waren weit höher als der Wert der Kohlen, die von Deutschland gefordert und mit Zwangsmaßnahmen schließlich nach Frankreich transportiert wurden - unter Einsatz von militärischem und zivilem französischen Personal. Obwohl der "Ruhrkampf" nach einem halben Jahr abgebrochen werden musste, weil die finanziellen Kosten für die Reichsregierung zu hoch wurden und es zu einer galoppierenden Inflation kam, mussten auch die Besatzungsmächte einsehen, dass sie mit ihrem weitergehenden Ziel, das Ruhrgebiet aus dem Deutschen Reich herauszulösen, gescheitert waren und sie mit Deutschland zu einer Verständigung kommen mussten. (Müller, Barbara, 1995) Im Zweiten Weltkrieg kam es in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten vielfach zu unbewaffnetem Widerstand, der nach Auskunft deutscher Generäle schwerer zu überwinden war als die bewaffneten Einsätze von Guerillaorganisationen. Aus den Erfahrungen mit dem Widerstand der norwegischen Lehrer gegen die Gleichschaltungsversuche des Quisling-Regimes wurden auch Überlegungen zur Gestaltung einer unmilitärischen Verteidigungspolitik abgeleitet. Der Pionier bei der Entwicklung solcher Konzeptionen war der amerikanische Soziologe Gene Sharp, der in Norwegen geforscht und die Lehrer nach ihren Erfahrungen befragt hatte. Keines der Länder, die im Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger positive Erfahrungen mit der Anwendung gewaltlosen Widerstand gemacht haben, hat nach dem Krieg daraus die Schlussfolgerung gezogen, auf die weitere Entwicklung militärischer Verteidigungskapazität zu verzichten und stattdessen eine neue Form der nichtmilitärischen, sozialen Verteidigung zu entwickeln. Die meisten zogen die Mitgliedschaft in der NATO oder eine Mischung von militärischen und zivilen Widerstandsformen - mit einem starken Übergewicht des militärischen Faktors - dem grundsätzlichen Ausscheiden von militärischen Mitteln vor. Das galt sogar für die baltischen Staaten, die zu Beginn der 90er Jahre bei ihrer Neugründung zunächst über keine militärischen Mittel verfügt hatten und ihren Souveränitätsanspruch nur mittels zivilen Widerstands gegen Putschisten und eine drohende Fortsetzung der sowjetischen Okkupation behaupten konnten. (Ebert, 1992) Die Aufstellung und Vereidigung bewaffneter Streitkräfte war eine der ersten Amtshandlungen der souveränen Regierungen dieser Länder. Sie meinten, gerade durch die Bildung einer Armee ihren Souveränitätsanspruch unterstreichen zu müssen. Nach der Aufnahme von Litauen, Lettland und Estland in die NATO trat die nichtmilitärische Komponente bei den sicherheitspolitischen Erwägungen noch weiter zurück. Im Jahre 1992 hatte eine Delegation des deutschen Bundes für Soziale Verteidigung Litauen und Lettland noch bereist und mit Verantwortlichen für die Sicherheitspolitik gesprochen und Verständnis für die Betonung der Kampfkraft zivilen Widerstands gefunden. Auch Tschechien und die Slowakei haben aus ihren Erfahrungen mit dem gewaltlosen Widerstand gegen die Okkupanten im Sommer und Herbst des Jahres 1968 und aus dem Verschwinden der damaligen Besatzungsmächte nicht gefolgert, künftig die Komponente des zivilen Volkswiderstandes in der Verteidigungspolitik zu entwickeln. Für Polen und alle anderen ehemaligen Mitgliedsstaaten der UdSSR gilt dasselbe. Man könnte aus diesen Erfahrungen die Schlussfolgerung ableiten, dass der zivile Widerstand nur in Notsituationen - mangels Waffen oder bei hoffnungsloser militärischer Unterlegenheit - zum Einsatz kommt, aber keine Regierung (und kein Volk?) freiwillig auf das Militär verzichten will. Man scheint sich auf Regierungsebene davor zu scheuen, die Möglichkeit einer nichtmilitärischen Sicherheitspolitik auch nur zu durchdenken, geschweige denn damit zu experimentieren durch die Förderung entsprechender Formen der Ausbildung und des Einsatzes in geeigneten Bereichen. Dies hatte der Bund für Soziale Verteidigung angeregt im Blick auf das Auftreten rechtsextremer Organisationen in einigen Ländern der Bundesrepublik. Wenn man auf die Anfänge der Forschung über den zivilen Widerstand als Mittel der Verteidigungspolitik zurückblickt, kann man zwar feststellen, dass das Wissen um diese Möglichkeit erheblich zugenommen hat und dass viele positive Erfahrungen mit gewaltfreien Aktionen in innenpolitischen Konflikten sich auf sicherheitspolitische Herausforderungen übertragen ließen, aber es hat auf staatlicher Ebene bisher keine systematischen Anstrengungen gegeben, eine umfassende zivile Alternative zum Militär zu entwickeln. Dabei müssten die die Demokratien bei diesen Bemühungen eigentlich die Vorreiter sein. Es gibt mehrere Staaten auf der Erde, in denen die Existenz von Militär und bewaffneten Milizen das eigentliche Problem und Hemmnis bei der Entwicklung demokratischer Verhältnisse und von sozialer Gerechtigkeit ist. Es wäre an der Zeit, dass in Anlehnung an Gandhis Konzept einer Shanti Sena in Ländern mit Militärdiktaturen oder konkurrierenden Warlords von den Befreiungsbewegungen, die für die Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und demokratische Strukturen eintreten, die völlige Abschaffung des Militärs und die Vorbereitung auf die Verteidigung demokratischer Errungenschaften mit zivilem Widerstand erwogen und ins Befreiungsprogramm aufgenommen wird. Anläufe zu einer Umsetzung der Sozialen Verteidigung auf der staatlichen EbeneBei der Entwicklung einer gewaltfreien Alternative hat sich die Partei der "Grünen" in ihren basisdemokratischen Anfängen am weitesten vorgewagt. Sie erklärte in den 80er Jahren die "Soziale Verteidigung" (identisch mit nonviolent, civilian defence) zu ihrem ausschließlichen Verteidigungskonzept und fasste - noch ohne Rücksicht auf potentielle Koalitionspartner - den Austritt aus der NATO ins Auge. Mit einer Anhörung internationaler Experten untersuchte die Fraktion der Grünen im Bundestag im Juni 1984 die politische Realisierung der Sozialen Verteidigung. Dieses Hearing wurde vor allem von Petra Kelly und Roland Vogt vorbereitet und durchgeführt. Das war eine Pionierleistung, für welche diese beiden auch die Mittel der Fraktion einzusetzen verstanden. Interne Friktionen führten dann aber dazu, dass die Dokumentation dieses Hearings sich lange verzögerte, die Ergebnisse innerparteilich kaum erörtert wurden und dann erst 1988 als Sonderheft 75/76 der Zeitschrift "Gewaltfreie Aktion" gerade noch rechtzeitig erscheinen konnten, um die Gründung des "Bundes für Soziale Verteidigung" (BSV) konzeptionell zu unterfüttern. Der Bund für Soziale Verteidigung als repräsentative Dachorganisation deutscher und internationaler pazifistischer Verbände formierte sich im März 1989. Der BSV sollte auf basisdemokratischem Wege die gewaltfreie Alternative zum Militär durchsetzen und die "Grünen" bei der Realisierung ihres sicherheitspolitischen Ziels unterstützen. Dieser Dachverband der pazifistischen Verbände verstand sich einerseits als pazifistische Lobby und andererseits als Organisation, welche die Konzepte des zivilen Widerstands weiter entwickeln und einüben könnte. Die Soziale Verteidigung hatte auch in anderen Parteien einzelne Befürworter und Sympathisanten. Am stärksten war die Resonanz jedoch in linken Kreisen der Evangelischen Kirche und bei der katholischen Organisation Pax Christi. Am weitesten ging die Evangelische Kirche in Berlin und Brandenburg mit ihrem Konzept eines Zivilen Friedensdienstes als Alternative zum Militär. Am 8. Juli 1994 gab die Kirchenleitung der EKiBB eine Erklärung zum Zivilen Friedendienst ab: "Einsatzgruppen für eine Politik mit gewaltfreien Mitteln". Erläutert wurde dieses Konzept in einer ausführlichen Handreichung "Ziviler Friedensdienst. Ein unverdrossenes Angebot an unsere Politiker".Dokumentiert in Ebert (1997), 272-286. Diese kirchliche Erklärung konnte gerade in Berlin zustande kommen, weil dort in West-Berlin die Erfahrungen der Friedenswochen und des zivilen Ungehorsams gegen die Stationierung von Atomraketen sich mit den Erfahrungen der Ost-Berliner Bürgerrechtsbewegung verbinden konnten. Die Erklärung zum Zivilen Friedensdienst war eine Frucht der Wiedervereinigung der Evangelischen Kirche in Berlin und Brandenburg. Rückschläge für die Etablierung einer Shanti Sena in Deutschland und EuropaAuf der politischen Ebene förderte die Wiedervereinigung Deutschland die Entwicklung einer deutschen Shanti Sena zunächst nicht. Der Bund für Soziale Verteidigung wurde von dem Tempo und dem raschen Erfolg der gewaltfreien Revolution in der DDR überrascht und es gelang ihm nur langsam, sich auf die neue Lage einzustellen. In der westdeutschen Friedensbewegung hegte man zunächst die Hoffnung, dass nach dem Entfallen einer militärischen Bedrohung durch den Warschauer Pakt sich auch die NATO als überflüssig erweisen würde und man nicht nur die Nationale Volksarmee der DDR, sondern auch die Bundeswehr radikal abrüsten und auflösen könnte. Auf Initiative der Deutschen Friedensgesellschaft / Vereinigte Kriegsdienstgegner kam es zu der Kampagne "Bundesrepublik ohne Armee". Man orientierte sich am Vorbild der Schweizer Volksabstimmung zur Abschaffung der dortigen Armee. In der Bundesrepublik scheiterte diese Kampagne jedoch ziemlich rasch, ohne wenigstens einen spektakulären Achtungserfolg wie die Schweizer Initiative erzielt zu haben. In den Friedensorganisationen hielt man es nun für vordringlich, statt auf die Entwicklung einer Shanti Sena auf das Ende der allgemeinen Wehrpflicht zu drängen und sah nicht länger einen Bedarf für ein sicherheitspolitisches Netzwerk gewaltfreier Aktionsgruppen. Dieser Einschätzung kam entgegen, dass einerseits die Zahl der Kriegsdienstverweigerer enorm zugenommen hatte und andererseits die Bundeswehr gar nicht in der Lage war, die noch verbleibenden Nichtkriegsdienstverweigerer auszubilden und in die Bundeswehr zu integrieren. Die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht war also zunächst ein durchaus realistisches Ziel der pazifistischen Verbände. Dabei wurde aber zu wenig beachtet, dass die Abschaffung bzw. das Aussetzen der allgemeinen Wehrpflicht zu einer Verfestigung der Armee als staatlicher Institution - nun vollends in Form einer Berufsarmee - führen würde und dass diese Berufsarmee sich leichter "out of area" in Kriegs- und Unruhegebiete entsenden ließe als eine Armee mit einem hohen Anteil von Wehrpflichtigen. Inzwischen hat sich die Lage weiter zu Ungunsten einer europäischen Version der Shanti Sena entwickelt. Die Ausweitung des amerikanischen Einflusses auf ehemalige Gebiete der Sowjetunion und vor allem die Osterweiterung der NATO waren von Russland nicht erwartet worden. Spätestens mit der Krise um die politische und wirtschaftliche Orientierung der Ukraine im Winter 2013/14 wurde deutlich, dass Russland diese Verschiebung der Einflussbereiche nicht länger hinnehmen, sondern den eigenen Einfluss eventuell auch unter Einsatz militärischer Mittel zu restaurieren versuchen würde. Irritierend war, dass (zumindest aus russischer Sicht) in der Folge der gewaltlosen Aufstände in Osteuropa bzw. der sogenannten bunten Revolutionen in Georgien und in der Urkraine der politische und wirtschaftliche Einfluss der USA und der Europäischen Union sich ausweitete. Das schien im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung in diesen Staaten zu liegen, aber es fehlte eine gewaltfreie Strategie, die bei Gandhi oder Martin Luther King immer dazu gehört hatte, und die (zunächst) unbewaffneten Aufständischen ließen sich von Gruppierungen und Personen instrumentalisieren, die mit Gandhis Vorstellungen von Sarvodaya und gewaltfreier Innen- und Außenpolitik wenig oder nichts im Sinne hatten. Das kann man beklagen, aber es war leider auch so, dass die pazifistischen Gruppen, die 1989 sich im Bund für Soziale Verteidigung zusammen geschlossen haben, ihrerseits wenig zustande gebracht haben, mit dem sie hätten zeigen können, dass mit einer Shanti Sena sich Menschenrechtspolitik machen ließe. Es gab Bemühungen, auf dem Balkan mit Friedensgruppen auf die Bürgerkriegsparteien einzuwirken, (Müller, 2004) aber ihr Einfluss blieb begrenzt und das Schlimmste war, dass das sie im Kosovo-Konflikt nicht in Erscheinung treten und keine Alternative zum Guerillakampf aufzeigen konnten.Das ganze Ausmaß des Versagens der Friedensbewegung im Kosovo-Krieg ist nie aufgearbeitet worden. Siehe dazu Theodor Ebert: Der Kosovo-Krieg aus pazifistischer Sicht, Münster: LIT, 2001. Dass es grundsätzlich möglich gewesen wäre, zeigte sich später, als das Regime vom Milosevic durch einen gewaltlosen Aufstand der Serben beseitigt werden konnte und damit eigentlich bewiesen war, dass bei entsprechender einheimischer Trägerschaft die gewaltfreien Mittel in solchen Konflikten besser funktionieren als militärische. Politische und pädagogische Konsequenzen der bisherigen ExperimenteNachdem "Bündnis 90 / Die Grünen" die Soziale Verteidigung als sicherheitspolitisches Konzept - zumindest vorläufig - fallen gelassen haben und es auch die Zeitschrift "Gewaltfreie Aktion", die sich seit 1969 für die Soziale Verteidigung und seit 1991 für den Zivilen Friedensdienst als Alternative zu bewaffneten Einsätzen ausgesprochen hat, seit 2011 nicht mehr gibt, ist nicht erkennbar, wie Gandhis Konzept einer Shanti Sena in Deutschland in naher Zukunft zum Zuge kommen soll. Die Vorstellung einer gewaltfreien Alternative zum Militär hat sich zwar in der Fläche weiter verbreitet, aber es fehlt an Intensivität und Konzentration. Eine im Bundestag vertretene Partei oder Großorganisationen wie Gewerkschaften oder Kirchen müssten sich den Aufbau und die Institutionalisierung einer nichtmilitärischen Alternative zu Armee und paramilitärischen Polizeieinsätzen vornehmen und diese offensiv propagieren. Man müsste personell und finanziell investieren. Doch auf kurze und auch auf mittlere Sicht ist eine politische Rendite nicht erkennbar. Das ist die Negativbilanz. Andererseits hat sich in der deutschen Zivilgesellschaft die Fähigkeit, tiefgreifende Konflikte auch außerparlamentarisch mit gewaltfreien, direkten Aktionen zu bearbeiten, enorm gesteigert. Aus den kleinen Bürgerinitiativen, die sich Anfang der 70er Jahre vielerorts bemerkbar machten, sind große, vernetzte Bewegungen geworden, welche auf fast allen Feldern der Politik maßgeblichen Einfluss gewinnen konnten. Einige traditionsreiche Organisationen wie Parteien, Kirchen und Gewerkschaften haben zwar viele Mitglieder verloren, aber die Fähigkeit der Zivilgesellschaft, sich mit von unten entwickelten alternativen politischen Vorstellungen zu artikulieren, hat erheblich zugenommen. (Steinweg / Laubenthal 2013) Exemplarisch ist die Entwicklung auf dem Gebiet der Energiepolitik. Der deutsche Ausstieg aus der Atomenergie wurde zwar letzten Endes im Parlament beschlossen, aber ausgelöst und voran getrieben wurde er von außerparlamentarischen Vereinigungen und ganz direkt von Personen, die von Gandhi gelernt und auch mit der Perspektive eines schließlichen Ausstiegs aus der militärischen Verteidigung tätig geworden waren. Ein typischer Vertreter dieser neuen Art, "Politik von unten" (Philipp 2006) nach Gandhis Vorbild zu betreiben, ist Wolfgang Sternstein. Nach dem Schaden, den die Rote Armee Fraktion angerichtet und damit linke Politik diskreditiert hatte (Ebert 1975), konnte Sternstein als Mitglied des Vorstands im Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz rechtzeitig die Selbstbindung an gewaltfreie Methoden durchsetzen (Sternstein 2005, 196) und die Entwicklung aktiv bis zum Ausstieg aus der Atomenergie verfolgen und darstellen. (Sternstein 2014) Literatur:
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