Theodor Ebert: Erfolg durch Zivilen Ungehorsam?Von Theodor Ebert Erschienen in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. 25. Jg., H. 1, Januar 2012, Stuttgart, S. 60-65. ErwartungenSoziale Bewegungen entstehen, wenn es in einem Staat zu inneren Widersprüchen kommt, welche eine wachsende Zahl von Betroffenen befürchten oder hoffen lassen, dass eine Katastrophe eintreten wird oder die unhaltbare Lage sich verbessern ließe. Solche Einschätzungen führen zu Prozessen sich steigernden sozialen Protestes. Dieser legitimiert sich mit dem Anspruch, die sich abzeichnende Katastrophe noch abzuwenden oder einen radikalen Wandel zum Besseren herbeizuführen. Wenn diese Einschätzung der Lage einer Gesellschaft als ganzer oder eines ihrer Subsysteme sich mit der Vorstellung verbindet, dass die Betroffenen keine Zeit hätten, den gesellschaftlichen Wandel und die ihm voraus gehenden Lernprozesse abzuwarten, und wenn die im System vorgesehenen Wege des Wandels und des Lernens keinen ausreichenden Erfolg versprechen, kommt es in den sozialen Bewegungen fast zwangsläufig zu der Frage, wie sich der notwendige Wandel und die Aufklärung über die Widersprüche und Gefahren beschleunigen lassen. Wenn die Frage so gestellt wird, sind auch die herkömmlichen, etablierten Rechtsordnungen nicht länger tabu, sondern es wird unter den Protestierenden über begrenzte oder auch weitgehende Regelverletzungen und das Übertreten von Normen nachgedacht. Diese Frage wird von den Teilnehmern und den Beobachtern einer sozialen Bewegung selten einheitlich beantwortet. Es gibt diejenigen, welche sich auf Formen des legalen Protestes oder der Nichtzusammenarbeit beschränken wollen und es gibt andere, welche die unhaltbare Konfliktsituation und ihre Befürchtungen oder Hoffnungen dadurch dramatisieren wollen, dass sie das Risiko der Übertretung legaler Grenzen erwägen und die drohenden Sanktionen in Kauf nehmen. Von dieser Gruppe sagen Beteiligte und Beobachter in der Bundesrepublik Deutschland, dass jene an "Zivilen Ungehorsam" denke bzw. diesen bereits ausübe. Dieser Sprachgebrauch hat sich seit etwa 50 Jahren im deutschen Sprachraum durchgesetzt. Dies geschah vor allem im Zusammenhang mit Protesten gegen Atomwaffen und Atomkraftwerke. Was bedeutet "zivil"?Bei solchem "Zivilem Ungehorsam" handelte es sich um eine Übertragung der angelsächsischen Begriffsbildung "civil disobedience" ins Deutsche. "Zivil" wurde in Anlehnung an Gandhi qualifiziert als "höflich, wahrheitsliebend, bescheiden, klug, hartnäckig, doch wohlwollend, nie verbrecherisch und hasserfüllt" bzw. kurz als "gewaltfrei". Auf diese Weise wurde der Zivile Ungehorsam als eine besondere Art des Widerstandes im Gesamtbereich des Widerstandes markiert. Letzterer kann - wie uns vom Widerstand gegen das NS-Regime bekannt ist - auch gewaltsame Formen einschließen. Zur Popularität des Zivilen Ungehorsams und zu seiner Integration in die Theorien demokratischer Partizipation hat in der Bundesrepublik Deutschland erheblich beigetragen, dass es bei den Protesten gegen die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen seit Beginn der 80er Jahre an mehreren Standorten, vor allem aber in Mutlangen, zu wiederholten Sitzblockaden der Zufahrten von Raketenstandorten gekommen ist und tausende Beteiligte nach ihrer Festnahme und erkennungsdienstlichen Behandlung wegen angeblich "gewaltsamer Nötigung" in der Regel zu Geldstrafen unterhalb der Grenze, in der sie als "vorbestraft" gegolten hätten, verurteilt wurden - bis das Bundesverfassungsgericht entschied, dass es sich bei den Sitzprotesten doch nicht um gewaltsame Nötigungen, sondern nur um Ordnungswidrigkeiten gehandelt habe. Zu einer ähnlichen Verwendung von gewaltfreien Sitzblockaden kam es später beim Protest gegen die Transporte von radioaktivem Material in das Zwischenlager in Gorleben. Auch beim Protest gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 hat die Gruppe der Parkschützer das Fällen von alten Bäumen auf dem Baugelände durch das Einkreisen der Bäume durch Sitzblockaden zu verhindern gesucht. In Deutschland sind diese Aktionen, welche die Akteure als "gewaltfrei" qualifizierten und die sich aus politologischer Sicher als Ziviler Ungehorsam bezeichnen lassen, bislang in erster Linie verwendet worden, um Konflikte medienwirksam zu dramatisieren und ihre politische Bearbeitung voran zu treiben. Tatsächlich hat die Bereitschaft zum Zivilen Ungehorsam in Deutschland dazu geführt, dass die Proteste nicht länger ignoriert werden konnten und es zu einer breiten Diskussion des Anliegens der Protestierenden kam. Dafür war eine wichtige Voraussetzung, dass die Protestierenden ihre politischen Gegner und Unbeteiligte nicht verletzten, sondern den Großteil der persönlichen Belastungen, die sich mit dem Protest verbanden, selbst trugen, und keine Unbeteiligten in Mitleidenschaft gezogen wurden. Durch diese Rücksichtnahme unterscheiden sich Aktionen Zivilen Ungehorsams vom agitatorischen Terror, der auch beansprucht, Konflikte zu dramatisieren. Der agitatorische Terror, der mit Anschlägen bis hin zum Selbstmordattentat auf unhaltbare Zustände hinweisen will, hat im Unterschied zum Zivilen Ungehorsam das Ziel, seine Gegner durch eine Steigerung gewaltsamer Maßnahmen zum Nachgeben zu zwingen. Hingegen verbindet sich mit Aktionen des Zivilen Ungehorsams die Vorstellung, dass seine Gegner und die Beobachter von der Sozialverträglichkeit der Forderungen der Protestierenden überzeugt werden können. Diese Einsicht in die Sozialverträglichkeit der Forderungen derjenigen, die Zivilen Ungehorsam leisten, kann verschiedene Ausprägungen erfahren. So können zum Beispiel Aktionen, die sich gegen die Rassendiskriminierung wenden, dazu führen, dass Rassisten ihre Vorurteile aus besserer Einsicht aufgeben oder sie können Integrationsmaßnahmen dulden, weil sie diese für unvermeidlich und für das geringere Übel halten als ein Anhalten der dramatischen Auseinandersetzungen. Dramatik und RhetorikDiejenigen, die sich an Protestbewegungen beteiligen, also das zugehörige Wir-Gefühl aufweisen, sind sich mittlerweile bewusst, dass ihre latente oder aktuelle Bereitschaft zum Zivilen Ungehorsam ein wichtiges Qualitätsmerkmal ist und dessen Vorhandensein die besondere Durchsetzungsfähigkeit einer Bewegung ausmachen kann. Der Hinweis auf die Fähigkeit, neben legalen Protestaktionen auch zu Aktionen zu greifen, die sich als Ziviler Ungehorsam bezeichnen lassen, kann darum in den Verlautbarungen der Sozialen Bewegungen eine prominente und zunehmende Rolle spielen. Damit einher geht auch eine gewisse Neigung, den Zivilen Ungehorsam und die Zivilcourage in einem Atemzug zu nennen und diese Kombination zum Versatzstück der Protestrhetorik zu machen. Noch ist der Begriff des Zivilen Ungehorsams nicht abgenutzt, weil bekanntlich immer wieder die Probe auf die Ankündigung bestanden werden muss. Die Erweiterung der bürgerlichen Beteiligungsrechte, welche im juristischen Nachgang zu Aktionen des Zivilen Ungehorsam immer wieder zu verzeichnen waren, konnten von den Vorkämpfern der Sozialen Bewegungen, welche die Strafverfahren durchstehen mussten, eben doch nur mit Mühe und durch das Ertragen von Härten erreicht werden. So musste zum Beispiel Dr. Wolfgang Sternstein, der in mehreren Strafverfahren wegen Aktionen, die er selbst als Zivilen Ungehorsam bezeichnete, zu Geld- und ersatzweise zu Gefängnisstrafen verurteilt worden war, diese ganz oder teilweise absitzen. Neun Haftstrafen summierten sich auf mehr als ein Jahr, das er in der JVA Rottenburg verbracht hat. Seine Erfahrungen als "Graswurzelpolitiker" und Knastologe (als "Edelknacki" wurde er halb spöttisch, halb respektvoll von den Mitgefangenen bezeichnet) wurden in einer politologischen Dissertation eingehend untersucht. (Ulrich Philipp. 2006) Das Kapitel "Als Aktionsforscher im Gefängnis" sollten alle studieren, die sich einbilden über den Zivilen Ungehorsam als demokratisches Ingredienz philosophieren zu können. Auch wenn das Signalwort "Ziviler Ungehorsam" mittlerweile in Deutschland seinen schrillen, alarmierenden Klang etwas verloren hat und zum Verständigungsmittel und Gebrauchsartikel der Protestkultur geworden ist und heute einschlägige Gandhi-Zitate zum Beispiel die Flugblätter der Gegner des Tiefbahnprojekts Stuttgart 21 zieren, ist immer noch eine wesentliche Frage, ob Soziale Bewegungen, durch das Organisieren von massenhaftem Zivilem Ungehorsam ihre Ziele in einem entscheidenden Maße fördern können. Der Wutbürger wird befragtDass man durch eine Art Propaganda der Tat einen Konflikt mittels demonstrativem Zivilem Ungehorsam dramatisieren und einen Konflikt zum Medienereignis machen kann, wird mittlerweile unter Politologen und von Juristen kaum mehr bestritten. Hans Herbert von Arnim zitiert in einem Beitrag, in dem er sich mit dem Phänomen des "Wutbürgers" befasst, das Bundesverfassungsgericht mit der Einschätzung: Beim Zivilen Ungehorsam gehe es "nicht um faktische Verhinderung des Protestanlasses, insbesondere nicht um effektive Lähmung staatlicher Funktionen, sondern um ein dramatisches Einwirken auf den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung." (H. H. v. Arnim, 2011,7) Doch offen ist immer noch die Antwort auf die Frage, ob man in Fällen, in denen die Öffentlichkeit bereits weiß, was auf dem Spiele steht, also ein Diskurs stattgefunden hat und nicht nur jeder Abiturient, sondern jeder Leser einer seriösen Tageszeitung das Pro und Contra referieren könnte, durch fortgesetzten und nunmehr nicht nur demonstrativen Zivilen Ungehorsam einer Sache noch zum Erfolg verhelfen kann, die durch demokratische Verfahren hinreichend legitimiert scheint. Gibt es also für soziale Bewegungen Scheidepunkte, an denen deutlich wird, dass der demonstrative Ziviler Ungehorsam denjenigen, die in Abstimmungen unterlegen sind, keinen Erfolg mehr bescheren dürfte. Ein Fall, in dem sich diese Frage stellt, ist der Konflikt um das Tiefbahnprojekt Stuttgart 21. Kann Ziviler Ungehorsam dieses Projekt noch stoppen und lässt er sich überhaupt noch legitimieren? Man kann zwar darauf hinweisen, dass die Befürworter des Projektes über größere Mittel zur Verbreitung ihrer Vorstellungen verfügt haben als die Gegner. Doch bei der Volksabstimmung im November 2011 war der Grad der Aufklärung der Stimmberechtigten so erheblich, dass man meinen konnte: Er war ausreichend, um den Gegnern des Projektes zum Erfolg zu verhelfen, zumal sie ja den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und die Grünen als die stärkere Partei in der Koalitionsregierung auf ihrer Seite hatten. Ähnlich war die Lage bei der Stationierung der Mittelstreckenraketen zum Ende des Jahres 1983. Die Folgen eines eventuellen Einsatzes der atomaren Waffen waren bekannt, und die Wähler hätten die Möglichkeit gehabt, die Befürworter einer Stationierung neuer Raketen bei den Bundestagswahlen nicht im Amt zu bestätigen. Bei der Volksabstimmung in Baden-Württemberg über das Bahnprojekt und bei der Bundestagswahl im Jahre 1983 wurde die Möglichkeiten, welche die massenhafte Aufklärung über den Konfliktgegenstand eröffnet hatten, von den Wahlberechtigten nicht im Sinne der Projektgegner wahrgenommen. Kann man dann von einer causa finita sprechen, oder bietet hartnäckiger, individueller und potentiell wieder anschwellender Ziviler Ungehorsam immer noch eine Chance, das ursprünglich angestrebte Protestziel oder ein Äquivalent zu erreichen? Das ist eine wirklich sehr schwer zu beantwortende Frage. Beim Nachdenken über sie wird deutlich, dass Ziviler Ungehorsam weit mehr sein kann als ein Weg, einen Konfliktgegenstand zu dramatisieren oder faits accomplis zu verhindern, bis noch ausstehende juristische Verfahren abgeschlossen sind. Das Gewissen als unkalkulierbarer FaktorDie besondere Qualität des Zivilen Ungehorsams macht aus, dass hier nicht nur kluge Öffentlichkeitsarbeit gemacht, also ein Anliegen dramatisiert wird, sondern dass hier Individuen dem, was ihnen das Gewissen gebietet, Ausdruck zu verleihen versuchen. Und das Gewissen spricht eine andere Sprache als das positive Recht und man hört diese Sprache mit anderen Ohren. Gandhi und Martin Luther King meinten, bei diesem ganz persönlichen Zivilen Ungehorsam artikuliere sich soul force. Es sei eine Sprache des Herzens, die auch primär an die Herzen der Betroffenen appelliere. Man kann sich dagegen sträuben, die Existenz von Gewissen und Seelenstärke anzuerkennen. Es handelt sich um keine messbaren Größen. Darum lässt sich auch nicht ausrechnen, welches Quantum soul force welche Wirkung erzielen wird. Es lässt sich jedoch feststellen, dass es immer wieder Menschen gab, die sich auf ihr Gewissen berufen und mit ihren Aktionen der Verweigerung oder des konstruktiven, illegalen Einsatzes Erfolge errungen haben, die zunächst ziemlich unwahrscheinlich waren. Und manche dieser Gewissenstäter haben ihre Wirkung erst entfaltet, nachdem ihre Gegner sie bereits physisch vernichtet hatten. Für die Christenheit geriet das Kreuz, das die Niederlage Jesu zu besiegeln schien, zum Siegeszeichen. Säkular gesprochen, ist die Frage, ob diejenigen, welche in schwer kalkulierbarer oder ziemlich hoffnungsloser Lage zum Zivilen Ungehorsam greifen, ausreichend soul force aufbringen, um noch eine Wende zu ihren Gunsten zu erreichen. Erschwert wird die Antwort auf diese Frage noch durch den Umstand, dass der Erfolg sich verzögern kann und nicht mehr zu Lebzeiten derjenigen erkennbar wird, die sich auf ihr Gewissen berufen haben. Für Religionsgemeinschaften gilt das Wort: Das Blut der Märtyrer ist der Samen der Kirche. Doch man kann diese Erfahrung auch säkular begreifen: Die deutsche Demokratie der Nachkriegszeit lebte nach der fast totalen Niederlage der Humanität im Dritten Reich von dem Zeugnis der Widerstandskämpfer vor den sogenannten Volksgerichtshöfen. Wie sie dort von einem Freisler ohne Hosenträger und Gürtel vorgeführt und angebrüllt wurden, hat sich dem Gedächtnis der Deutschen eingeprägt. Darf man diese Erfahrung anwenden auf die Frage der Wirkung des fortgesetzten Zivilen Ungehorsams in Konfliktfällen wie Stuttgart 21, die eskalierenden deutschen Waffenexporte, das Abschieben und Aussperren von Flüchtlingen, die Erderwärmung infolge von Kohlenstoffdioxyd-Emissionen? Diese Frage kann ein Politologe mit seinen Methoden nicht beantworten. Er kann nur signalisieren: Die Herrschenden müssen damit rechnen, dass immer wieder Menschen sich unter Berufung auf ihr Gewissen oder religiöse Offenbarungen, in einem Konfliktfeld ihrer Wahl einen Standpunkt einnehmen und wie ein Martin Luther in Worms darauf hinweisen, dass sie nicht anders handeln können, als hier zu stehen und den Mächtigen zu widersprechen und dass Gott ihnen helfen möge. Unter denen, die das tun, wird es Spinner und Schwächlinge geben, aber wahrscheinlich auch einige oder gar viele, die eine Wende heraufführen werden, mit der zunächst kaum jemand noch gerechnet hat. Literatur:
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