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Konstantin Wecker: “Das Mitgefühl unter den Schleiern der Ängste hervorholen”

Von Konstantin Wecker

Mitgefühl ist nichts, das uns ein paar "Gutmenschen" aufschwatzen wolle, die zu weich sind, um sich den Härten des Lebens zu stellen. Mitgefühl ist in uns allen als Fähigkeit angelegt. Sie wurde uns nur abtrainiert von einer Gesellschaft, in der Konkurrenz und Profit regieren. Sehen wir einen Obdachlosen auf der Straße, ist Hilfe nicht immer unser erster Impuls; oft wallt da zuerst Ärger auf darüber, was uns dieser "Gescheiterte" zumutet, wenn er uns an den Schatten einer satten Konsumgesellschaft erinnert. Dabei sprach Hugo von Hofmannsthal schon so treffend von der Verbundenheit aller unserer Schicksale: "Doch ein Schatten fällt von jenen Leben/ In die anderen Leben hinüber,/ Und die leichten sind an die schweren/ Wie an Luft und Erde gebunden."

Eine der großen Täuschungen unseres Gesellschaftssystems besteht darin, anzunehmen, man könne sein Leben, seine Zukunft, ja sogar sein ganzes Schicksal kontrollieren. Daraus resultiert eine Starrheit des Denkens, die es uns kaum mehr gestattet, mit Schicksalsschlägen so umzugehen, wie es angemessen wäre: daraus zu lernen, den Schmerz zum Anlass zu nehmen, festgefahrene Vorstellungsmuster ad acta zu legen, sich am Neuen zu gestalten, sich neu zu erfinden.

Der Schmerz ist vielleicht die einzige Möglichkeit Gottes, auf sich aufmerksam zu machen, schreibt C.S. Lewis, der scharfsinnige englische Religionsphilosoph, und ich glaube, es ist nicht nur der Schmerz den wir selbst empfinden, sondern auch der Schmerz der Anderen, der uns hinweisen sollte auf die Verkehrung der Werte, die uns so monströs gerade in der jüngsten Zeit vor Augen geführt wird.

Wir sind dabei, geisteskrank zu werden und das Bild der Welt auf den Kopf zu stellen. Anstatt uns gemeinsam in Richtung globale Gerechtigkeit zu bewegen, das Überleben der Menschheit, aller Lebewesen und unseres wunderschönen Planeten zu sichern, gilt unsere einzige Aufgabe allein dem Wohlergehen unseres Geldsystems. Eine extrem und unvorstellbar reiche Minderheit von Konzernen und Personen bestimmt den Fluss des Geldes und seiner Vermehrung, und lassen wir uns nicht einreden, wir könnten, wenn wir nur fleißig genug wären, auch Millionäre werden.

Wachstum hat seine Grenzen, kein Baum, kein Mensch, nicht mal ein Stern kann ewig wachsen. Nur die Wirtschaft ist angeblich mit grenzenlosem Wachstum gesegnet. Ein paar Jahre kann sie vielleicht noch weiter wachsen, auf Kosten neu zu erschließender Märkte in der dritten Welt. Aber dann? Wenn wir nicht lernen abzugeben, zu teilen, was dann?

Schon immer wurde, vor allem im Mittelalter, gepredigt, irgendeine Macht würde schon dafür sorgen, dass sich alles zum Guten wende und selbst reguliere. Heute glaubt man das kaum mehr vom lieben Gott, dafür umso fanatischer vom neoliberalen Wirtschaftssystem. Aber "der Absturz der Ökonomie scheint sich zur ersten Weltwirtschaftskrise des globalisierten Kapitalismus auszuwachsen." (Leo Mayer/Fred Schmid ISW) Und wie immer, wenn das Geld knapp wird, versucht man sich Gewinne durch die unappetitlichste Methode zu verschaffen: durch Aufrüstung. Erst mästen wir irgendwelche Schurken mit unseren Waffen, und wenn sie zu fett geworden sind, schlachten wir sie und verdienen wieder daran.

Als vor ein paar Tagen am Berliner Flughafen ein Obdachloser seine Zeitung verkaufen wollte, fand sich kein Einziger, der auch nur einen freundlichen Blick, geschweige denn einen lächerlichen Euro für den Mann übrig hatte. Der überaus höfliche junge Mann musste sich auch noch als aggressiver Bettler beschimpfen lassen, und niemand schien zu spüren, dass es fast immer die eigene Aggressivität ist, die man auf den projiziert, der einen durch seine Armut beschämt. Armut ist obszön, wir wollen nichts mit dem zu tun haben, was wir tief in uns bereits alle spüren: der Wohlstand ist auf tönernen Füßen gebaut. Vor allem weil wir das falsche Wohl im Auge haben.

Glück und Frieden sind nicht in der Vermehrung materieller Güter angesiedelt, und je mehr wir uns darauf versteifen, desto weiter entfernen wir uns von uns selbst. Es gibt ein schönes, stilles Gedicht des Zenmeisters Ryokan:

"Meine Hütte liegt mitten in einem dichten Wald
Jedes Jahr wächst der Efeu höher
Keine Neuigkeiten von den Angelegenheiten der Menschen
Nur gelegentlich das Lied eines Holzfällers.
Die Sonne scheint, und ich flicke meine Robe
Wenn der Mond hervorkommt, lese ich buddhistische Gedichte.
Ich habe nichts zu berichten, meine Freunde.
Wenn ihr den Sinn herausfinden wollt
Dann hört auf, hinter so vielen Dingen herzujagen."

Bei allem Bemühen, Verständnis für die Münchner Bürger aufzubringen, die sich lautstark darüber erregen, dass Obdachlose in ihrer nächsten Umgebung untergebracht werden sollen: dies scheint mir ein deutliches Symptom jener wachsenden Geisteskrankheit unserer Gesellschaft zu sein, von der ich vorher gesprochen habe. Wie verhärtet muss man sein, wie unfähig, mit sich selbst ins Gericht zu gehen, wenn man Obdachlose - wie leider geschehen - als "Kinderschänder und Alkoholiker" pauschal verdammt.

Wir alle haben, und ich glaube mit vollem Recht, unbewusst immer ein schlechtes Gewissen wegen des Überflusses, in dem wir leben. Nicht zuletzt deshalb versuchen wir sogar diesen Überfluss noch zu vermehren, in der abstrusen Hoffnung, uns damit noch besser betäuben zu können.

Werden wir nun aber deutlich mit der anderen Seite, der dunklen Seite unserer Existenz konfrontiert, so wehren wir uns mit Händen und Füßen, und oftmals eben auch mit geschmacklosen Phrasen und Parolen dagegen.

Schmerz und Leid bewusst zu empfinden und zu durchleben gehört nicht zu unserer Kultur. Jedoch erst wenn wir beginnen, Leid auch anzunehmen, werden wir dem Sinn des Daseins näher kommen.

Mitfühlen ist ja keine besondere, seltene Gabe, die nur einigen wenigen vorbehalten ist. Mitgefühl ist, daran glaube ich fest, ursprünglich jedem Menschen zu eigen, und es geht nicht darum es zu lernen, sondern es zu entwickeln, zu entdecken; es wieder hervorzuholen hinter den Schleiern unserer Ängste, mit denen wir es zugedeckt haben. Und dadurch seine Schönheit wiederzufinden.

Indem der Mensch sich entdeckt, seinen Gefühlen bis in die Tiefe ihrer Entstehung folgt und sich selber findet, wird er die Notwendigkeit erspüren, dass Glück mit der Verringerung des Leids anderer Lebewesen zu tun hat, und dadurch mit der Verringerung eigenen Leids.

Albert Schweitzer hatte einmal sein Initationserlebnis geschildert, wie er in einem Boot einen Fluss entlangfahrend erlebt, wie eine große Herde von Flusspferden an ihm vorbeigleitet. Diese große Menge fühlender Körper an seiner Seite, wird ihm zum Durchbruch der Erkenntnis, dass alles Leben zusammengehört.

Er teilt in diesem Moment das Glück der Tiere und weiß, sie wollen leben und würden niemals leben wollen, wenn sie nicht rein instinktiv so etwas wie Freude empfinden würden. Und so entwickelte er seine Ethik der tätigen Hingabe im engsten Bereich: Lebewesen zu schützen, ihr Leiden zu verringern, das ist der Raum, wo ein Mensch begreifen kann, wozu er lebt. Und er schreibt: "Ich stehe dem Leben an meiner Seite deswegen zur Seite, weil ich die unmittelbare Nähe zu meinem Leben begriffen habe…"

Dieses Gespür für die unmittelbare Nähe auch uns unbequemer Menschen kommt uns mehr und mehr abhanden. Wer heute voller Lebensfreude und voller Freundlichkeit warmen Herzens auf andere zugeht, wird als Spinner verlacht. Wer in der Fußgängerzone sein Geld nicht in die Kaufpaläste trüge, sondern es frohgemut unter die Menschen verteilte, würde mit großer Wahrscheinlichkeit verhaftet. (Spätestens wenn seine Erben dahinter kommen.)

Solange wir aber Barmherzigkeit, Vertrauen und Freigebigkeit als etwas von der Norm abweichendes betrachten, können wir den Sinn und die Schönheit des Daseins nicht begreifen.

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 11.05.2017.

Veröffentlicht am

14. Mai 2017

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