Neue Abschiebungen nach Afghanistan: Zum Widerstand verpflichtetWer nach Afghanistan abgeschoben wird, ist seines Menschenrechts beraubt worden. Das verpflichtet uns zum Widerstand.Von Thomas Seibert "Schon seit drei Tagen fließt in Kabul Blut. Erst der Anschlag auf die Deutsche Botschaft mit 150 Toten und ungezählten Verletzten. Dann erschießt die Polizei acht Demonstranten, die mit Hunderten Anderen gegen die Taliban und gegen die Regierung protestiert haben. Als wir die getöteten Demonstranten beerdigen, kommt es wieder zu einer Explosion, genau in dem Moment, als der Mullah das Gebet zu sprechen beginnt. Während alle fliehen folgt eine weitere Explosion. Wieder zehn Tote, wieder viele Verletzte. Wir selbst haben überlebt, sind schockiert und verzweifelt." Dieses Email erhielten wir am 3. Juni von Mitarbeitern unserer Partnerorganisation Afghanistan Democracy and Human Rights Organisation (AHRDO), also vor nicht einmal vier Wochen. Die deutsche Bundesregierung hatte damals, in Reaktion auf den Anschlag, eine geplante Abschiebung von Afghan*innen aus Deutschland abgesetzt: Selbst Bundesinnenminister de Maizière, zu dieser Zeit bereits persönlich für mehrere Abschiebeflüge verantwortlich, wagte es nicht, ein weiteres Flugzeug nach Kabul zu schicken. Die Schonfrist scheint schon wieder vorbei zu sein. Nach unbestätigten Medienberichten soll am Mittwoch, dem 28. Juni, vom Flughafen Leipzig-Halle aus ein neuer Abschiebeflug starten. Das Ministerium will die Meldung weder bestätigen noch zurückweisen: ein ganz übliches Verfahren, um Proteste zu behindern. Betont wird jedoch, dass die Abschiebungen niemals gänzlich ausgesetzt waren. Tatsächlich hat de Maizière schon bei der Absage des letzten Flugs angekündigt, dass die Abschiebungen "rasch nachgeholt werden". Es fällt mir schwer, der Agenturmeldung etwas hinzuzufügen. Eigentlich ist alles gesagt. Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland. Es gibt in dem ethnisch und religiösen zerspaltenen Land auch keine vereinzelten sicheren Gebiete: nicht einmal dort, wo man sich unter Leuten der gleichen ethnischen und religiösen Herkunft befindet, ist man sicher. Das gilt für alle, die im Land geblieben sind, es gilt in extremen Maß und ausweglos für die, die zwischenzeitlich außer Landes waren. Die Taliban sind auf dem Vormarsch. Die amtierende Regierung hat das Vertrauen, das ihr mit ihrer Wahl gewährt wurde, längst verspielt: Präsident Ghani kann sich im Grunde nur noch auf seine engsten Gefolgsleute verlassen: einen Kreis, der kleiner ist als der seiner Leibwache. Der Anschlag des 31. Mai fand in der am stärksten gesicherten Gegend Kabuls statt: der am stärksten gesicherten Stadt Afghanistans. Die Gewalt geht längst nicht mehr nur von den Taliban, von den afghanischen Ablegern des IS und al Qaida, von den ungezählten Milizen der untereinander verfeindeten Warlords oder von den Sicherheitskräften des Staates aus. Die kriminelle Gewalt hat längst ein Ausmaß angenommen, das der politisch, religiös oder ethnisch motivierten Gewalt kaum nachsteht. Nahezu täglich kommt es in den Städten Afghanistans zu kriminell motivierten Entführungen, nicht selten mit tödlichem Ausgang. Das ist auch kein Wunder. Die ökonomische Lage kann nicht einmal mehr als verzweifelt bezeichnet werden: sie ist für fast 80% der Jüngeren schlicht aussichtslos. Pakistan und Iran, Nachbarländer Afghanistans und die Länder der Welt, die mit großem Abstand die meisten geflüchteten Afghan*innen aufgenommen haben, haben seit dem vergangenen Jahr über eine Millionen Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Die meisten von ihnen müssen in den täglich wachsenden Slums der afghanischen Städte täglich neu um den Platz kämpfen, an dem sie den folgenden Tag überleben können. Das ist die Lage im Land, wir alle wissen das, die deutsche Regierung weiß das. Deshalb ist die Wiederaufnahme der Abschiebungen ein Menschenrechtsverbrechen ersten Ranges. Die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stellt die Menschenrechte ausdrücklich unter den Schutz einer "Herrschaft des Rechts". Eine solche Herrschaft sei notwendig, so hält die Präambel fest, "damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen." Wer nach Afghanistan abgeschoben wird, und, für uns hier noch entscheidender, wer aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben wird, ist seines Menschenrechts beraubt worden. Wer aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben wird, ist deshalb im Sinne der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein Opfer von "Tyrannei und Unterdrückung". Er oder sie wäre von der Erklärung zum letzten Mittel des Widerstands berechtigt, zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung. Wir alle, die Zeug*innen dieses exemplarischen Unrechts sind, begangen an Menschen, die ihres Menschenrechts beraubt und derart ohne den Schutz einer "Herrschaft des Rechts" sind, sind deshalb zum Widerstand verpflichtet. Im Unterschied zu den in die Abschiebung Gezwungenen haben wir verschiedene Möglichkeiten, unserer Verpflichtung zum Widerstand nachzukommen. In erster Linie richtet sich das an alle, die in welcher Weise auch immer versuchen können, auf die Entscheidung deutscher Ministerien Einfluss zu nehmen. Der nächste Abschiebeflug soll, so heißt es nach noch unbestätigten Medienberichten, am nächsten Mittwoch vom Flughafen Leipzig-Halle aus starten. Startet dieser Flug, ist das Menschenrecht fundamental verletzt worden. Thomas Seibert ist in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für die Türkei, Syrien und Südasien und hat einen Schwerpunkt auf Menschenrechtsfragen. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne, Mitglied des Koordinierungskollektivs des Democracy in Europe Movement 2025 und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa Luxemburg-Stiftung. Quelle: medico international - 22.06.2017. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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