Der Atomunfall ist nicht bewältigtBotschaft von Ruiko Muto, Sprecherin der Klägergruppe gegen TEPCO und Repräsentantin der Gruppe Frauen von Fukushima. Vorgelesen auf der Demo zum Fukushima-Jahrestag Hamburg, 11. März 2017. Allen auf der Welt, die mit den Opfern der Atomkatastrophe von Fukushima fühlen und ihnen immer noch verbunden sind, meinen herzlichen Dank. Bald wird auch dieses Jahr wieder ein 11. März sein. Und wie an diesem Tag vor sechs Jahren fällt auch heute leichter Schnee. Das Erdbeben einer Stärke von knapp fünf im November letzten Jahres hat für viele einen Flashback auf den 11. März 2011 mit sich gebracht und wieder ins Bewusstsein gerufen, wie tief die Verletzungen waren. Zurzeit werden die Evakuierungsanordnungen nach und nach aufgehoben und Maßnahmen propagiert, um die Leute zur Rückkehr zu bewegen. Zur Rückkehr allerdings nicht, weil man sagen könnte: "Es ist wieder sicher, bitte kommen Sie zurück." Rückkehr bedeutet vielmehr: "Nach der Dekontamination Ihrer Gemeinde gibt es zwar immer noch radioaktive Substanzen - aber leben Sie bitte dort und nehmen das Sie es in Kauf." In den Gebieten, für die die Evakuierungsanordnung bald aufgehoben werden soll, türmt sich der Dekontaminationsmüll zu Bergen; es werden Verbrennungsanlagen gebaut, um die Menge zu verringern. Zum 1. April 2017 soll die Evakuierungsanordnung für Tomioka aufgehoben werden, wo die durchschnittliche Ortsdosis bei 0,65 Mikrosievert pro Stunde liegt. Die Hälfte der Einwohner will nicht dorthin zurückkehren. In die im letzten Jahr freigegebenen Orte Naraha, Minamisoma und Katsurao sind bisher nur knapp zehn Prozent der Einwohner zurückgekehrt. Im Rahmen der Rückkehrpolitik setzen die japanische Regierung und die Präfektur Fukushima verstärkt darauf, für die in anderen Regionen lebenden Evakuierten nicht länger die Wohnkosten zu übernehmen. Als ob ihr Leben durch den Atomunfall nicht schon genug beeinträchtigt worden wäre, verlieren die Strahlenflüchtlinge ihre Wohnung oder geraten in wirtschaftliche Schwierigkeiten, wenn diese Maßnahmen umgesetzt werden. Familien werden getrennt, aus der allmählich vertraut gewordenen Umgebung muss man wieder weg, muss zurückkehren, wohin man nicht will, und hat jede Menge anderer Schwierigkeiten. Auf der anderen Seite gibt es für die Aufhebung der Siedlungsbeschränkungen und die Ansiedlung neuer Unternehmen ein riesiges Wiederaufbaubudget. Die Präfektur Fukushima hat das Ziel ausgegeben, bis 2020 die Zahl der Evakuierten auf Null zu senken, und plant daher die Dekontamination auch der höchstbelasteten Evakuierungsgebiete und die Einrichtung sogenannter Modell-Regionen. So wird vier Kilometer entfernt von der Anlage Fukushima Dai’ichi ein Archivgebäude errichtet, das 5 Milliarden Yen - ungefähr 39 Millionen Euro - kosten soll. Wie es heißt, sollen dorthin Klassenfahrten von Oberschulen stattfinden, um den Atomunfall und seine Folgen zu vermitteln. Aber der Atomunfall ist auch heute noch nicht bewältigt. Immer noch steigt die Zahl der mit kontaminiertem Wasser gefüllten Tanks. Die Eiswand, die mit hohen Erwartungen verbunden war, ist anscheinend ein fast völliger Fehlschlag. An den Stahlstützen für die 120 Meter hohen Ablufttürme von Reaktor Eins und Zwei nehmen Löcher und Risse zu - wann werden sie wohl zusammenbrechen? Kürzlich wurden Fotos aus dem Inneren von Reaktor Zwei veröffentlicht und bekannt gegeben, dass die Strahlung dort 650 Sievert pro Stunde beträgt. Es gibt auf dem Kraftwerksgelände viele Stellen, denen sich auf Jahrzehnte kein Mensch nähern kann. Unter den Kindern der Präfektur Fukushima gibt es jetzt 184 mit Verdacht auf Schilddrüsenkrebs, davon sind 145 tatsächlich als Krebs bestätigt. Nach Angaben der Stiftung für schilddrüsenkrebskranke Kinder sind auch außerhalb der Präfektur in Gebieten, wo die Radio-Jod-Wolke durchzog, Schilddrüsenkrebse im fortgeschrittenen Stadium gefunden worden. Jeder macht sich Sorgen um die Gesundheitsschäden durch die Verstrahlung. In den Behelfsunterkünften und an den Fluchtorten erkranken immer mehr Menschen an Depressionen. Seit 2014 steigt die Selbstmordrate plötzlich steil an. Weiträumig und mit enormer Energie werden Kampagnen zu Radioaktivität und Sicherheit durchgeführt, die sich an junge Leute und Kinder richten. Im Sommer letzten Jahres wurde eine sehr zweifelhafte Bildungseinrichtung zum Thema Radioaktivität eröffnet, die schon 30.000 Menschen besucht hat. Zum Jahresende haben Oberschüler die Aufräumarbeiten im Kraftwerk Fukushima Dai’ichi besichtigt - also an einem Ort, an dem unter Achtzehnjährige aus Strahlenschutzgründen nicht arbeiten dürfen. Wenn ein Atomkraftwerk einmal eine Katastrophe verursacht, sind Erde, Meer, Berge und Wälder für mehrere hundert Jahre verstrahlt, und die Menschen werden ihrer Rechte als Menschen beraubt. Man wird gezwungen, die Gefahren hinzunehmen und zu resignieren, das Leben wird auseinandergerissen und das Recht der Selbstbestimmung wird verletzt. Kein Atomkraftwerk auf dieser Erde darf weiter in Betrieb sein! Atomkraftwerke und das Leben in all seinen Formen schließen einander aus! Sorgen wir dafür, dass der tragische Unfall von Fukushima der letzte gewesen ist. Für dieses Ziel schließen wir Geschädigte uns zusammen, wir stehen auf und werden laut. In diesem Jahr wird es bei zahlreichen Zivilprozessen zu letzten Verhandlungen kommen. Auch einige Strafprozesse werden beginnen, in denen die Verantwortung für den Unfall geklärt werden soll. Ganz gleich, wie schwach sie leuchtet, lasst uns die Glut in unseren Herzen weitertragen! Wir Frauen von Fukushima arbeiten zusammen mit allen auf der Welt, die das auch wollen, für eine Zukunft, in der wir anders leben können. Quelle: graswurzelrevolution 418, April 2017. Aus dem Japanischen von Annette Hack und Yu Kajikawa (Sayonara Nukes Berlin). Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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