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Von Wyhl bis zu den Castor-Blockaden

Der strategische Einfluss der gewaltfreien Aktionsgruppen auf die Geschichte der Anti-AKW-Bewegung

Der "Atomausstieg" in Deutschland bis 2022 umfasst nicht alle Atomanlagen - nicht etwa die Urananreicherungsanlage in Gronau und damit den Export. Auch die vorgesehenen Stilllegungen sollte die Anti-Atom-Bewegung z.B. durch das Blockieren von Atommülltransporten beschleunigen. Die Anti-AKW-Bewegung hat in mehr als 40 Jahren Kampf die Atomindustrie zurückgedrängt. Diese Bewegung war die erfolgreichste der Neuen Sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik nach 1968. An ihrem relativen Erfolg hatten die Strömung der gewaltfreien Aktionsgruppen, die FÖGA (Föderation gewaltfreier Aktionsgruppen) von 1980-1997, unzählige "Bezugsgruppen", künstlerische Kollektive (z.B. die Konzertgruppe "Lebenslaute") und "Trainingskollektive" sowie die gewaltfreien AnarchistInnen um die Zeitung "Graswurzelrevolution" entscheidenden Anteil. Leider wird dieser in bisherigen Darstellungen zur Geschichte der Anti-AKW-Bewegung zumeist unterbewertet oder ignoriert. Wir sollten unsere Bewegungsgeschichte also selbst schreiben, um zu zeigen, wie gewaltfreie Aktion mächtige Staats- und Wirtschaftsinteressen durchkreuzen kann. Zu diesem Zweck veröffentlichen wir hier einen Abschnitt aus dem soeben im Verlag Graswurzelrevolution erschienenen Buch von Sebastian Kalicha: Gewaltfreier Anarchismus & anarchistischer Pazifismus. Auf den Spuren einer revolutionären Theorie und Bewegung . (graswurzelredaktion-Red.)

Von Sebastian Kalicha

Gewaltfreie Aktionsgruppen beeinflussten Strategien und Aktionskampagnen der westdeutschen Anti-AKW-Bewegung in starkem Maße über vierzig Jahre hinweg, von den Konzepten für die erste Platzbesetzung 1975 in Wyhl, die von der Gewaltfreien Aktion Freiburg in Zusammenarbeit mit den Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen entwickelt wurden, bis zum Widerstand gegen Castor-Transporte in den Neunziger- und Nullerjahren, die zum Stopp des Atomprogramms nach Fukushima 2011 und zum Beschluss führten, die laufenden Atomkraftwerke bis 2022 abzuschalten.

Die Siebzigerjahre: Von Wyhl bis zur "Republik Freies Wendland"

In den Siebzigerjahren diskutierten die Gruppen um die Zeitung "Graswurzelrevolution" früh den Zusammenhang von militärischer und friedlicher Nutzung der Atomenergie. Expertenwissen wurde hinterfragt, es entwickelte sich eine theoretisch fundierte Technikkritik, zusammen mit der Anti-AKW-Bewegung entstand gleichzeitig die Ökologiebewegung.

Den gewaltfreien Aktionsgruppen gelang es in den Siebzigern an einigen Stellen, den Gegensatz zwischen gesetzestreuer Massendemonstration mit Hoffnung auf Parteien einerseits und militanten Zaunschlachten zunächst des autoritär-kommunistischen Blocks, ab 1976/77 zunehmend der Autonomen aufzubrechen: etwa mit der Bauplatzbesetzung am 19.2.1977 in Grohnde, durchgeführt von Gruppen aus dem gewaltfreien, spontaneistischen und feministischen Spektrum. Im weiteren Verlauf festigten sich Positionen aus dem graswurzelrevolutionären Spektrum, nach denen Atomanlagen nicht in direkter, zentralistischer Konfrontation mit der Staatsgewalt, sondern durch Untergrabung der Legitimation von Polizeibrutalität und den Versuch verhindert werden sollten, den politischen Preis durch kontinuierliche Behinderung des Betriebs und der Infrastruktur des Atomstaats hochzutreiben und so die Anlagen auch für die Betreiber letztlich zu teuer zu machen.

Die gewaltfreien Aktionsgruppen initiierten phantasievolle Widerstandsformen wie etwa den Stromzahlungsboykott ab 1977.

Ein früher Höhepunkt dieses dezentralen Widerstandskonzepts waren die Gorleben-Freundeskreise in verschiedenen Städten, aus denen im Mai 1980 die Mobilisierung für die Besetzung des Bohrlochs 1004 und damit die experimentell in einem Hüttendorf verwirklichte Anarchie der "Republik Freies Wendland" hervorging. Hier wurden Entscheidungen von Gruppen mit einem Sprecherratssystem im Konsens erstellt und ein gewaltfreies Verteidigungskonzept umgesetzt - beides Gründe dafür, dass solche Organisationsstrukturen große Teile von Aktionsgruppen in den folgenden Jahrzehnten inspirieren sollten und diese Besetzung den mythischen Charakter einer verwirklichten Utopie erhielt.

Die Achtzigerjahre: Von Ökopax bis Wackersdorf

Zu Beginn der Achtzigerjahre wurden von gewaltfreien Aktionsgruppen im Rahmen der Föderation gewaltfreier Aktionsgruppen (FöGA) unter dem Slogan "Ökopax" gemeinsame Aktionen im Rahmen der Friedensbewegung gegen Atomraketen und innerhalb der Anti-AKW-Bewegung koordiniert und durchgeführt.

Die sich gerade etablierende Partei "Die Grünen", die den Atomprotest angeblich in die Parlamente tragen wollte, wurde mit zunehmender Parlamentarismuskritik betrachtet. Nachdem die niedersächsische Regierung Albrecht nach dem "Gorleben-Treck" die WAA dort bereits 1979 als "politisch nicht durchsetzbar" erklärt hatte, entschied sich die Frage, ob es dem Atomstaat der BRD gelingen würde, mit der WAA einen geschlossenen Kreislauf der Atomstromproduktion aufzubauen, von 1984 bis 1989 in Wackersdorf/Bayern. Dort kam es zu zwei gewaltfreien Platzbesetzungen 1985/86, aber auch zu militanten Zaunschlachten nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986. Gewaltfreie Aktionsgruppen propagierten dort, dass militante und gewaltfreie Aktionen "nicht zur selben Zeit, nicht am selben Ort" stattfinden sollten, weil sie sich sonst oft gegenseitig behinderten.

Nach den 14 Schüssen an der Startbahn West in Frankfurt/M. vom 2. November 1987, durch die aus Reihen der Autonomen zwei Polizisten getötet und sieben weitere verletzt wurden, hatte die dortige Repressionsstrategie auch unmittelbare Auswirkungen auf Wackersdorf, wo eine Konferenz der Anti-AKW-Bewegung in Regensburg und weitere Demos am Bauzaun nunmehr verboten wurden.

Das Verhältnis zwischen BIs und Autonomen war zerrüttet, als 1988 eine Demo ohne Militanz das Demonstrationsrecht wieder durchsetzen konnte. In dieser verfahrenen Situation war die seit langem propagierte Strategie der gewaltfreien Aktionsgruppen, in Wackersdorf dezentrale Aktionstage anzusetzen, ein fruchtbarer Ausweg. Gleichzeitig beteiligten sich gewaltfreie AktivistInnen in dieser Zeit am Schrauben und Absägen von Strommasten, das sie als "gewaltfreie Sachbeschädigung" oder "Sabotage" und daher gewaltfreie Aktion legitimierten. 1989 erklärte die VEBA das Aus für die WAA, nachdem trotz der starken staatlichen Repression erneut 880.000 Eingaben gegen die zweite Teilerrichtungsgenehmigung hinterlegt wurden.

Neunziger- und Nullerjahre: Die Castor-Blockaden

Diese dezentrale Aktionsstrategie entwickelte sich dann weiter in ein Konzept, anstatt Großdemonstrationen an immer besser polizeilich bewachte Bauzäune zu führen, die atomare Infrastruktur zu stören, die hochkomplex und für direkte gewaltfreie Behinderungsaktionen anfällig ist, als Schwerpunkt des Anti-AKW-Widerstands in den Neunziger- und Nullerjahren umzusetzen. Bei den Castor-Transporten von der französischen WAA in La Hague oder von süddeutschen AKWs wie Philippsburg, Neckarwestheim oder Biblis nach Gorleben, in geringerem Umfang auch nach Ahaus oder Greifswald, entwickelten sich eine phantasievolle Vielfalt von Blockaden und Ankettaktionen an Gleise, Unterhöhlungen und Treckerblockaden von Straßen, von Aktionen der Einbetonierung bis hin zum Abtragen von Schotter der Gleisanlagen. Besonders wirksam war dabei eine entstehende Kultur von KletteraktivistInnen wie etwa Cécile Lecomte, dem "Eichhörnchen", die Bäume an der Strecke erklommen oder sich von Brücken abseilten und so Atomtransporte oft stundenlang aufhielten. Die überwiegend gewaltfreien, stark behindernden Massenaktionen gegen die Castor-Transporte, die aufgrund der Streckenlänge und der Vielfalt der Aktionsorte die Polizeieinsatzkosten in exorbitante Höhen schnellen ließen, begannen 1995 und erreichten ein erstes Moratorium, zu der sich Umweltministerin Merkel 1998 gezwungen sah (bis zum Jahr 2000). Der Kampagne "X-Tausendmal Quer" gelang es, rund 8000 gewaltfreie AktivistInnen, darunter viele bisher Unentschlossene und BürgerInnen zu einer Massenblockade am Verladekran 1997 zu bewegen, deren Räumung allein neun Stunden andauerte.

Der 13. Transport von La Hague nach Gorleben im November 2011 dauerte insgesamt mehr als fünf Tage - doch die Atomindustrie war mit dem Reaktorunfall von Fukushima bereits Monate vorher in die Defensive geraten und ein Gesetz führte schließlich zur sofortigen Abschaltung von acht der 17 AKWs in der BRD und dem von der Bewegung sicherlich weiter zu kontrollierenden Absichtserklärung, bis Ende 2022 ganz aus der Atomproduktion aussteigen zu wollen.

Quelle: graswurzelrevolution 420, Sommer 2017.

Veröffentlicht am

31. August 2017

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