Rohingya auf der Flucht: Die Verachteten
Über hunderttausend Rohingya fliehen vor Massenmord und Vertreibung in Myanmar. Thomas Seibert über eine postkoloniale Tragödie und die Nothilfe der medico-Partner in Bangladesch.
Von Thomas Seibert
Ein archaisches Bild des Elends und der Ohnmacht. In letzter Minute nach Bangladesch entkommen, kauern sich Tausende von Rohingya unter Plastikplanen zusammen und sehen gebannt zurück über die Grenze. Der nächtliche Horizont wird von den Feuern erhellt, in denen ihre Dörfer, ihre Habseligkeiten, ihr bisheriges Leben verbrennen. Hinter ihnen verbrannte Erde, vor ihnen die Slums der bangladeschischen Küstenstadt Cox’s Bazar. Waren sie bisher von Auslöschung bedrohte Staatenlose im eigenen Land, werden sie jetzt um ihr Überleben als nicht anerkannte Geflüchtete ohne Rechtsstatus kämpfen müssen. Unter den Abermillionen von Vertriebenen und Geflüchteten, die überall in der Welt Obdach suchen, kommen die Rohingya aktuell der Lebensform am nächsten, die der Philosoph Giorgio Agamben die Form des "nackten Lebens" nennt.
Eine lange Geschichte der Gewalt
Dabei sind die Rohingya, die ihr "nacktes Leben" dieser Tage in Bangladesch zu retten suchen, nicht die ersten und nicht die letzten Opfer eines Konflikts, der historisch weit zurückreicht. Er begann mit der Eroberung des muslimischen Königreichs Arakan durch das benachbarte buddhistische Königreich Birma, das heutige Myanmar. Weil Arakan auch unter dem Namen Rohang bekannt war, werden seine Bewohnerinnen und Bewohner heute zumeist Rohingya genannt. Reichte ihr Land zu Zeiten des Königreichs Arakan bis in den Südosten des heutigen Bangladesch, wurden sie nach der Eroberung zu Tausenden zur Sklaverei ins Landesinnere Birmas entführt. Im 19. Jahrhundert fielen dann beide, Rohingya und Birmesen, unter britische Kolonialherrschaft. Die Briten nutzen deren Feindschaft zur Stabilisierung ihrer christlichen Herrschaft und verbündeten sich dazu mit Rohingya-Rebellen. Im Gegenzug verbanden sich die bedrängten Birmesen mit Japan, das die weißen Herren 1942 zum Abzug zwang. Danach fielen die Birmesen plündernd, vergewaltigend und folternd über die jetzt wieder schutzlosen Rohingya her. Ihr Oberbefehlshaber war Aung San, des Vaters der vielgepriesenen Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. An einzelnen, besonders blutigen Tagen wie dem 28. März 1942 fanden dabei bis zu 5000 Muslime den Tod.
Operation Königsdrachen - eine postkoloniale Tragödie
Die Massaker endeten mit der vorübergehenden Rückkehr der Briten, nach deren endgültigem Abzug die Rohingya dann neuerlich zur völlig ungeschützten, rechtlosen, jetzt noch mehr als zuvor verachteten Minderheit im nun unabhängigen, den Großteil des alten Arakan einschließenden Birma wurden. Die Rohingya wehrten sich deshalb auch auf eigene Faust und erklärten ihren Unterdrückern einen Heiligen Krieg (dschihad), der sich zunächst, mal auf höherer, mal auf niedriger Intensität, bis in das Jahr 1978 hinzog. In diesem Jahr versuchte Birmas Militärdiktatur den Widerstand der Rohingya endgültig zu brechen: die mit äußerster Brutalität durchgeführte "Operation Königsdrachen" kostete ungezählte Muslime das Leben und trieb 200.000 ins wenige Jahre zuvor unabhängig gewordene, ebenfalls muslimische Bangladesch, ebenfalls ein Nachfolgestaat von Britisch-Indien. Obdach fanden die Geflüchteten in der und um die Küstenstadt Cox’s Bazar, die früher ein Teil Arakans war. Wer in Birma blieb, fiel willkürlichen Kollektiverschießungen, massenhaften Vergewaltigungen und der völligen Erschöpfung in der Zwangsarbeit zum Opfer, zu der Tausende Männer und Frauen ins buddhistische Kerngebiet und die Hauptstadt Yangoon verschleppt wurden.
Auf Leben und Tod
Der Widerstand versprengter Rebellengruppen provozierte weitere Militäraktionen, Anfang der 1990er Jahre floh erneut eine Viertelmillion Rohingya nach Bangladesch. 2012 kam es wieder zu Massakern, wieder zu Vertreibung und Flucht. Die systematische Verachtung nahm bis heute kein Ende und überlebte auch den Sturz der Militärs und den Aufstieg Aung San Suu Kyis in die neue, weltweit mit großen Erwartungen begrüßte Regierung. Rohingya sind allerdings nach wie vor staatenlos, dürfen kein Land besitzen und nicht frei reisen, müssen sich schriftlich verpflichten, nicht mehr als zwei Kinder zu haben. Dem widersetzen sich einige weiterhin auch mit Waffengewalt und bildeten dazu, unter wachsender Berufung auf den politisierten Islam, die Harakah-al-Yakin (Bewegung des Glaubens), die sich in jüngerer Zeit Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA) nennt.
Ihr Kommandant Ata Ullah verfügt über eine heutigen asiatischen Verhältnissen entsprechende Flucht- und Migrationsbiographie: als Kind eines der Verfolgung entkommenen Rohingya wurde er im pakistanischen Karatschi geboren. Von dort zog seine Familie ins saudi-arabische Mekka weiter und schrieb den Jungen dort in eine Islamschule ein. Der kehrte später, so heißt es, nach Pakistan zurück, wo er sich den Taliban angeschlossen und eine Guerillaausbildung erfahren haben soll. Ullah selbst beteuert allerdings, keinen Glaubenskrieg, sondern einen Krieg um die Rechte der Rohingya zu führen. In einer Videobotschaft kündigt er an, dass seine "Heilsarmee" dafür auch den massenhaften Tod in Kauf nehme: "Wenn wir unsere Rechte nicht bekommen, werden wir sie uns nehmen. Wir werden gegen das grausame Militärregime kämpfen. Wenn deshalb eine Million, anderthalb Millionen, wenn alle Rohingya sterben müssen, dann werden wir sterben." Dass längst nicht alle Rohingya bereit sind, dem zu folgen, spielt für das Militär Myanmars keine Rolle.
Ohne größere Anteilnahme eskaliert seit Oktober 2016 die Gewalt erneut. Am 1. September 2017 überfielen etwa 1000 Bewaffnete der ARSA in einer koordinierten Aktion 30 Polizeistationen und eine Kaserne. Die Streitkräfte Myanmars holten umgehend zum Gegenschlag aus, und ihr Oberkommandeur, General Min Aung Hlaing, lässt keinen Zweifel daran, den von Aung San Suu Kyis Vater eingeleiteten Völkermord zu Ende bringen zu wollen: "Jetzt wird aufgeräumt, was 1942 liegen blieb." Während die Soldateska binnen weniger Tage mehrere hundert Rohingya getötet und tausende ihrer Häuser niedergebrannt hat, beschuldigt die von Aung San Suu Kyi vertretene Regierung internationale Hilfsorganisationen, lediglich die Rebellen unterstützen zu wollen - konsequenterweise dürfen jetzt auch keine Helfer mehr ins Kampfgebiet. In Zurückweisung dringlicher Appelle der UN und des Papstes lässt die Nobelpreisträgerin unterdessen per facebook mitteilen, dass die Kritik an ihrem Militär auf einem "riesigen Eisberg von Falschinformationen" beruhe.
Solidarität
In panischer Angst vor der Rache des Militärs haben mittlerweile über 180.000 Rohingya das Wagnis der Flucht auf sich genommen. Willkommen aber sind sie auch in Bangladesch nicht, im Gegenteil. Tatsächlich hat das muslimische Nachbarland schon seit Jahren von seiner ursprünglichen Praxis Abstand genommen, geflüchteten Rohingya offiziell Asyl zu gewähren. Wohnen die rund 30.000 Rohingya, die das Glück hatten, anerkannt zu werden, heute in Lagern, die längst zu Ortschaften wurden, hausen die rund 500.000 nicht anerkannten Rohingya in Elendsvierteln ohne jede Infrastruktur, die in den letzten Jahren um die beiden ersten Lager herum aus dem Boden schossen: eine ganze Großstadt der Verachteten. Die Neuankömmlinge werden versuchen müssen, hier Unterschlupf zu finden.
Ein Grund für die Abwehrhaltung der Bangladeschi ist, dass das am dichtesten bevölkerte und noch immer bitter arme Land der Erde aktuell besonders stark mit den Folgen des außergewöhnlich heftigen Monsuns zu kämpfen hat. Von dem sind in ganz Südasien 45 Millionen Menschen betroffen. Dabei geht es nicht nur um die Überflutung weiter Landesteile, sondern auch um das Überleben der Menschen, denen die Fluten nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Ernten genommen haben.
Für den bangladeschischen medico-Partner Gonoshasthaya Kendra (GK, Volksgesundheitszentrum) ist das allerdings kein Grund, Geflüchtete von anderen Geflüchteten zu trennen. GK entstand im bangladeschischen Unabhängigkeitskrieg und aus der Arbeit mit den Menschen, die während dieses Krieges in Flucht und Vertreibung gezwungen wurden. Deshalb unterstützt GK aktuell Geflüchtete der Fluten mit medizinischer Hilfe, mit Lebensmitteln und mit Futter für deren Vieh - und bemüht sich gleichzeitig, etwa 40.000 Rohingya zu unterstützen, die in den Gemeinden Whykong, Shamlapur und Putibonia eine erste Unterkunft gefunden haben. Dabei geht es um eine breite Palette von Maßnahmen, von Basisgesundheitshilfe in der unmittelbaren Notlage, der Bereitstellung von Trinkwasser und Trockennahrung bis zur Verteilung von Haushaltsgerätschaften, Kleidung und Plastikplanen.
Für GK ist die Arbeit an der Seite der Rohingya nichts Neues. Angefangen hat die Organisation damit schon 1978, in der Unterstützung für die Überlebenden der "Königsdrachen"-Massaker, fortgesetzt dann in den Jahren 1992-1994, in denen Rohingya wiederum zu Tausenden Schutz in Bangladesch suchen mussten. Die Kontinuität über Jahre hinweg lässt die immer neu unumgängliche Nothilfe zum Prozess der Solidarität werden, in dem es trotzdem um mehr als um das Überleben, mehr als nur das "nackte Leben" geht, sondern auch um einen Beistand im Kampf der Verachteten um ihre Rechte.
Quelle:
medico international
- 07.09.2017.
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