Kinder spielen keine RolleVon Georg Rammer Wie viele Kinder werden in Afghanistan und Libyen, im Irak und Jemen, in Syrien oder der Ukraine getötet, verstümmelt, ausgehungert, von Uranmunition vergiftet, ihrer Familie beraubt, entwurzelt? Diese Kriege wurden von der "westlichen Wertegemeinschaft" initiiert oder gefördert. Wie viele sterben auf der Flucht in der Wüste oder im Mittelmeer? Von den namenlosen Millionen Kinder-Opfern werden nur einzelne Beispiele bekannt: Bei einem Bombenangriff der von Saudi-Arabien geführten Militärkoalition in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa wird "versehentlich" ein Wohnhaus zerstört. Alle fünf Geschwister, die Eltern und ein Onkel von Buthaina Muhammad Mansour sterben - nur das etwa vier Jahre alte Kind überlebt (SZ.de am 28.8.17). Ein "Kollateralschaden", wie auch die 683 Kinder, die nach Angaben des UNO-Generalsekretärs António Guterres im letzten Jahr nachweislich den kriegsverbrecherischen Bombardements zum Opfer gefallen sind. Hunger und Krankheiten bedrohen nach Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) allein im Jemen aktuell 2,2 Millionen Kinder. Tödliche Bombenangriffe und darauf folgende humanitäre Katastrophen hindern die deutsche Bundesregierung allerdings nicht daran, immer wieder Panzer, Kriegsschiffe und Munition an den mörderischen Staat Saudi-Arabien zu liefern. Zuletzt genehmigte sie die Ausfuhr von 110 Lastkraftwagen der Rheinmetall MAN Military Vehicles und vier Patrouillenbooten der Lürssen-Werft. Auf meine Anfrage versichert zwar das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: "Die Abwägung zwischen menschen- und kinderrechtlichen Fragen gegenüber sicherheitspolitischen Erwägungen findet in jedem Einzelfall statt." Die Realität dagegen zeigt: Bei den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen der imperialen Mächte über Kriege und damit über menschliche Katastrophen spielt die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-KRK) keine Rolle. Geostrategische Vorteile, Profite oder die Rohstoffversorgung lassen keinen Gedanken an Würde, Gleichheit, an unveräußerliche Rechte, an den Wert des Menschen aufkommen. Die UN-Kinderrechtskonvention - in Deutschland seit 1992 in Kraft und verbindlich geltendes Recht - hebt den Anspruch auf Rechte und Freiheiten eines jeden Kindes ohne Unterscheidung hervor. In der Präambel betont die internationale Gemeinschaft, dass jedes Kind in Glück, Liebe und Verständnis aufwachsen und im Geist des Friedens, der Würde und Toleranz, der Freiheit, Gleichheit und Solidarität erzogen werden müsse. Die Mehrzahl der Kinder auf der Welt erlebt eine andere Welt. Klar, deshalb brauchen wir Gesetze und verbindliche internationale Vereinbarungen wie die UN-Kinderrechtskonvention, um dem Ideal näher zu kommen. Immerhin wurde die Konvention von allen Staaten unterzeichnet - mit Ausnahme der USA. Das Abkommen enthält Bestimmungen, die - würden sie berücksichtigt - die Welt für Kinder besser zu machen in der Lage wären. Etwa der Artikel 3 ("Wohl des Kindes"), wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist. Ohne jede Diskriminierung nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen oder Status der Eltern (Art. 2). Schön wär’s, würde sich die Politik danach richten. Sie tut es nicht, auch nicht hierzulande. Sogar das Bundesministerium räumt "Defizite bei der Umsetzung" ein. Diese sind gravierend. Zum Beispiel Armut, Ungleichheit, LebenschancenDas Statistische Bundesamt hat im August dargestellt, dass im reichen Deutschland jedes fünfte Kind armutsgefährdet ist. Wächst ein Kind bei einem/r allein erziehenden Vater oder Mutter auf, ist es häufig defizitären materiellen Verhältnissen unterworfen. Niedriglohn, Leiharbeit, "Hartz IV", all die prekären Arbeitsverhältnisse belasten das Aufwachsen der Kinder: gesundheitlich, seelisch, die Lebenschancen betreffend. Diese systematische staatliche Kindeswohlgefährdung und die wachsende Ungleichheit verletzen eine ganze Reihe von Vorschriften der UN-KRK. Es stellt sich die Frage, welcher Stellenwert dem Wohl der Kinder bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen etwa der Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik beigemessen wird. Welche Rolle spielte das Kindeswohl bei den "Hartz"-Gesetzen? Ist bei der Austeritätspolitik der Bundesregierung gegenüber Griechenland das Wohl des Kindes ein Kriterium, das vorrangig berücksichtigt wird? Zum Beispiel Konzernstrategien und KinderrechteDas wichtigste internationale Menschenrechtsinstrumentarium für Kinder hat für "die Wirtschaft" keinerlei Bedeutung. Thomas Kruchem hat ein Buch verfasst, das einige mächtige Konzerne nicht goutieren werden: "Am Tropf von Big Food. Wie die Lebensmittelkonzerne den Süden erobern und arme Menschen krank machen" (transcript Verlag). Darin beschreibt er minutiös die Strategie von Konzernen wie Nestlé, Danone et cetera, in arme Länder Junkfood zu exportieren, also hochverarbeitete Nahrungsmittel, die billig und haltbar sein müssen: Chips, Pizzen, Softdrinks, süßer Joghurt - allesamt mit viel Zucker, Fett, Stärke, Geschmacksverstärkern und Konservierungsstoffen. Das Ziel der aggressiven Vermarktung ist eine Art Sucht-Erzeugung. Sie trägt nicht zur Bekämpfung der Mangelernährung bei, sondern zur massenhaften Ausbreitung von Krankheiten wie Diabetes. Kruchem hält es für skandalös, dass "Big Food einen Ernährungswandel forciert, der Menschen krank macht, lokale Ernährungssysteme verdrängt und internationale Entwicklungshilfe in grotesker Weise konterkariert" (taz, 24./25.6.2017). Konzerne fühlen sich nicht verpflichtet, Menschenrechte zu wahren oder die UN-KRK einzuhalten. Ihre Profitinteressen sind höherwertig als die Rechte von Kindern. Durch keine politischen Instanzen kontrolliert, geschweige denn gehindert, können diese profitorientierten Mächte die Gesundheit von Milliarden Menschen schädigen: Die Zahl der Übergewichtigen weltweit habe zwei Milliarden bereits überschritten. Big Food gibt es auch für die Seele: "Während Zucker und Fett nur die Leiber der Individuen verformen, ändert Facebooks Fastfood den gesellschaftlichen Körper", schreibt Roberto Simanowski ("Wie Mark Zuckerberg die Welt retten will", Blätter 9/17, S. 116). Der Westen stelle "die ganze Welt auf sein eigenes Modell ein: das narzisstische, konsumorientierte, zerstreuungssüchtige, oberflächliche Individuum". Fürs Kindeswohl? Zum Beispiel Krieg und Flucht"Würde, Wert des Menschen, Gleichheit, Aufwachsen in Glück, Liebe, Verständnis …": Die Ziele, die die UN-KRK vorgibt, stehen in scharfem Gegensatz zur miesen Realität, die Kinder erleben und erleiden. Die Politik Deutschlands und der EU zur militärischen Abschottung gegen Flüchtlinge und zur Errichtung von Auffanglagern in afrikanischen Kriegsländern und Diktaturen verletzt eklatant verschiedene Artikel: "Recht auf Leben" (Art. 6), "Trennung von Eltern" und "Familienzusammenführung" (Art. 9 und 10), "Schutz vor Gewaltanwendung" (Art. 19) und einige mehr; sie alle sprechen dem Schrecken und Leiden der Kinder Hohn, die von der Politik der westlichen Wertegemeinschaft zur Förderung der Fluchtursachen betroffen sind. In den ersten zehn Monaten des Jahres 2016 sind im Mittelmeer mindestens 600 Kinder und Jugendliche ertrunken. Namenlos. Wer beweint sie? Welche erschreckende Gleichgültigkeit der Reichen und Satten! Die Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge hat sich seit 2010 nach Angaben von UNICEF verfünffacht. Nach fünf Jahren Krieg in Syrien liegt das Leben einer ganzen Generation von Kindern und Jugendlichen in Trümmern, wie der UNICEF-Lagebericht schon Ende 2015 feststellte. Millionen Kinder leiden unter psychosomatischen Stresssymptomen. Die Traumata wirken über Generationen. Zum Beispiel MissbrauchSexuelle Gewalt gegen Kinder ist in unserer zivilisierten Welt bei Strafe verboten. Denn der Täter oder die Täterin nutzt "seine/ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen" (Bundesbeauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs). Selbstverständlich aber werden Kinder sowohl als Zielgruppe für Werbung benutzt als auch als Mitwirkende. Das Ziel ist emotionale Manipulation zum Zwecke des Konsums und damit der Profite. Die Kinder werden missbraucht, um Bedürfnisse von Investoren und Anteilseignern auf Kosten des Kindes zu befriedigen. Verwertung von Kindern - ein Straftatbestand? Natürlich nicht. Treffend beschreibt Benjamin R. Barber die Ethik der Infantilisierung, die auch die Kindheit verderbe, "indem sie uns veranlasst, die Kinder instrumentell zu behandeln" ("Consumed! Wie der Markt Kinder verführt, Erwachsene infantilisiert und die Demokratie untergräbt", Übersetzung aus dem Englischen von F. Griese. Verlag C.H. Beck 2007, S. 26). Nicht nur spielt die vielbeschworene Würde des Menschen dabei keine Rolle; viel zu wenig erkennt die Gesellschaft, welches Ausmaß seelischer Deformation durch das Ausnutzen emotionaler Bedürfnisse, Wünsche und Phantasien von Kindern gefördert wird. Im Wettbewerb der Konzerne sind Liebe, Einfühlsamkeit, Mitgefühl, Freude und Begeisterung die wirksamsten Waffen. Dieser Missbrauch ist die Grundlage für die Pervertierung menschlicher Gefühle. Übrigens gleicht die Scheinrealität der Werbung der Scheinrealität der Politik: Die meisten Erwachsenen wissen sehr wohl, dass die emotional aufgeladenen, suggestiven Bilder der Wahlwerbung, viele Politiker-Statements zu Frieden und Gerechtigkeit oder die Compliance-Sprüche der Spitzenmanager von VW, BMW oder Daimler voller Versprechungen von "integrem Verhalten, ethischen Grundsätzen, fairem Wettbewerb, Aufrichtigkeit, Verantwortungsbewusstsein" eine Fake-Realität darstellen. Ist die UN-Kinderrechtskonvention das Papier wert, auf dem die Bundesregierung sie publiziert, während sie sich nicht einmal an die obligatorische Berichtspflicht hält? Nicht die UN-Kinderrechtskonvention muss eingestampft werden - die Politik muss sich von Grund auf ändern. Und sie wird es nur dann tun, wenn genügend Druck von der Bevölkerung kommt. Es gilt, der UN-Kinderrechtskonvention zur Geltung zu verhelfen, indem die fake-reality der wirtschaftlich-politischen Elite als das entlarvt wird, was sie ist. Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 18/2017. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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