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2018: Trügerische Ruhe mit gefährlichen Altlasten

Den meisten bei uns geht es gut. Trotzdem herrscht Unruhe: Demokratie? Meinungsfreiheit? Markt? Schulden? Flüchtlinge? Kriege?

Von Urs P. Gasche

Als Bilanz des Jahres 2017 wurde viel Erfreuliches vermeldet. Ein weiteres Jahr lang sind wir in Westeuropa von wirklich großen Erschütterungen verschont geblieben. Doch unter der Oberfläche brodelt es in den letzten Jahren zunehmend.

Börsen boomen, Wirtschaft wächst wieder

Zuerst zum eigenen Portemonnaie, das vielen am nächsten liegt. Ein oberflächlicher Blick auf einige Zahlen wirkt beruhigend:

  • Die Preise sind stabil.
  • Die Börsenkurse erreichten vor Weihnachten neue Rekordwerte.
  • Die Banken erholen sich.
  • Die Arbeitslosigkeit, vor allem in der Schweiz und in Deutschland, bleibt tief.
  • Die Wirtschaft beginnt zu wachsen.

Allerdings gilt es gleich zu relativieren:

  • Die Land- und Immobilienpreise sind, wie die Preise der Aktien, enorm gestiegen - zum einseitigen Vorteil der Besitzenden;
  • Die Börsenkurse spiegeln nicht die reale Wirtschaft. Nach blasenartigen Haussen kam es in der Vergangenheit zu gefährlichen Crashs, wie 1929 oder 2008, deren Folgen auch die Nicht-Besitzenden zu spüren bekommen;
  • Geldanlagen werden nicht mehr verzinst: Selbst "sichere" Vermögen wie Sparanlagen verlieren an Wert. Die Renten der Zweiten Säule werden gekürzt.
  • Die Großbanken profitieren immer noch von der Staatsgarantie "Too big to fail", welche die Finanzkrise von 2008 zu einer Staatenkrise werden ließ.
  • Die Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa sowie viel Elend in Afrika und Ausbeutung untergraben die Stabilität dieser Länder und führen zu einer unkontrollierbaren Immigration im Norden.

Die Fixierung auf das Bruttoinlandprodukt macht blind

Im Schlepptau von Ökonomen behandeln auch Politiker und Medien das Wirtschaftswachstum weitgehend als heilige Kuh. Alles, was das Bruttoinlandprodukt BIP wachsen lässt, ist gut. Egal, was wächst.

Dem Wirtschaftswachstum opfern die Politik und die Lobbys der Wirtschaft Werte wie Steuergerechtigkeit, Umweltschutz oder Ausbildung der Kinder. Denn die Wirtschaft müsse zuerst wachsen, um mehr Gerechtigkeit, Umweltschutz und bessere Ausbildung zu finanzieren oder Schulden abzutragen. Auch die folgenden Anliegen werden abgelehnt mit dem Hauptargument, sie würden das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen. Und das führe zu Arbeitslosigkeit und Rentenabbau:

Diese und andere grundlegende Weichenstellungen fallen wegen des angestrebten BIP-Wachstums außer Traktanden. Ein angeblicher Zwang zum Wachstum beraubt uns der politischen Freiheit.

In Wirklichkeit erweist sich das angestrebte Ziel eines kräftigen Wirtschaftswachstums schon seit zwanzig Jahren als unrealistisch und illusorisch: In den USA, Europa und in Japan wächst die Wirtschaft seit 2000 real nur noch auf Pump. Die Verschuldung erhöhte sich stärker als das BIP. "Das Wachstum der Wirtschaft beruht auf Illusionen" , analysierte kürzlich Hanspeter Guggenbühl auf Infosperber.

Wie wir aus diesem Wachstumswahn herauskommen können, zeigte Infosperber am 24. Oktober 2016 auf ( "Die Krise und wie wir aus ihr herauskommen" ).

Überforderte Demokratie

Ob Wahlen alle paar Jahre oder Volksabstimmungen über Sachfragen: Die Institutionen aus dem letzten Jahrhundert genügen nicht mehr. Sie sind offensichtlich nicht mehr in der Lage, die Bevölkerungen vor drohenden Gefahren rechtzeitig zu schützen und zukunftsverträgliche Entscheide zu fällen.

Infosperber hatte die Probleme aufgezeigt: "Jahrhundertprobleme überfordern unsere Demokratie" . Hier die Stichworte:

Die Migration: Die westlichen Demokratien beschäftigen sich mit den Symptomen, welche die Flucht aus der Armut nach sich zieht, beseitigen jedoch nicht deren Ursachen . Die Steuerflucht von Konzernen und lokalen Milliardären in Steueroasen stiehlt den Entwicklungsländern über 170 Milliarden Dollars an Steuereinnahmen - jedes Jahr (Quelle: Oxfam).

Die Schulden: Die weltweiten, globalen Schulden , private und öffentliche zusammen, erreichen etwa 220 Billionen Dollars. Diese Summe ist das Zweieinhalbfache des weltweiten Bruttoinlandprodukts in Höhe von 88 Billionen Dollars. Mit andern Worten: Die heute Erwerbstätigen müssten zweieinhalb Jahre gratis arbeiten, um alle Schulden zu tilgen.

Der Sozialismus, wie er den Großbanken gefällt: Zehn Jahre nach der letzten Krise sind Großbanken und Versicherungskonzerne noch immer "too big to fail" . Sie haben ihr Konkurs-Risiko sozialisiert und dürfen trotzdem ein Finanzcasino betreiben, ohne Nutzen für die Volkswirtschaften. Allein die Devisengeschäfte haben ein Volumen, das fast 70-mal größer ist als das Volumen des gesamten Welthandels mit Gütern und Dienstleistungen. Sie sind zu einem Wettgeschäft verkommen.

Die Steuerkrise: Unternehmen wie Amazon, CocaCola, Facebook, Fiat, Google, Ikea oder McDonald’s prellen ihre Standortländer Jahr für Jahr um Milliarden an Steuern, indem sie ihre Gewinne in praktisch steuerfreie Länder verschieben. Spätestens seit den Enthüllungen der "Panama Papers" und neustens der "Paradise Papers" sollte dies allen Politikerinnen und Politikern klar sein. Die in Steueroasen unversteuerten Vermögen von Konzernen und Milliardären werden auf mindestens sieben Billionen Dollars geschätzt. Das entspricht annähernd einem Zehntel der globalen Wirtschaftsleistung. Den Herkunftsländern entgehen jedes Jahr Milliarden.

Ökologie am Beispiel des Insektensterbens: In den letzten dreißig Jahren ist die Zahl der Insekten auf einen Viertel geschrumpft. Dieser "Insektozid" kündet ein ökologisches Desaster an. Wirksame Maßnahmen dagegen werden nicht ergriffen. Agrarsubventionen werden nicht von strengen Umweltauflagen abhängig gemacht. Neonicotinoide und Glyphosat werden nicht verboten.

Ein völlig verzerrter "Markt": Das Preisgefüge wird enorm verfälscht durch Milliarden von Subventionen und hemmungslos sozialisierten Kosten. Die Macht und die Steuervermeidung der immer gigantischeren Konzerne führen zu einem unfairen, verzerrten Wettbewerb mit den KMUs.

Zunehmende "Corporatocracy": Die Konzentration in der Real- und Finanzwirtschaft hat so stark zugenommen, dass sich die wirtschaftliche und damit auch die politische Macht immer mehr bei wenigen internationalen Großunternehmen konzentriert. Ihre wichtigsten weltweiten Interessen können sie in nationalen Parlamenten und in Medien durchsetzen. In Westeuropa und in den USA ist die "Corporatocracy" für unsere Rechte und Freiheiten gefährlicher geworden als "der Staat".

In China diktiert weitgehend die Partei, was läuft.

Bei uns diktieren bei wesentlichen Fragen die internationalen Großkonzerne. Sie finanzieren Wahlen und Abstimmungen, "Think Tanks", "Studien", Medien und ein ganzes Heer von Lobby-Organisationen, PR-Firmen und Anwaltskanzleien. All dies sowohl im In- wie im Ausland.

Aufrüstung und Säbelrasseln

Besonders in den USA und im Westen sind die Rüstungsindustrie und ihre Zulieferer zu einer der einflussreichsten Lobbys geworden. Der "militärisch-industrielle Komplex" hat die Politik weitgehend im Griff.

Die US-Wirtschaft hängt zum großen Teil von der Rüstung ab. Die jährliche Erhöhung des Verteidigungsbudgets dient vor allem einem Ziel: der Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen. "Jobs, Jobs, jobs" twitterte Präsident Trump im letzten Mai, als er in Saudiarabien Abkommen über Waffenlieferungen im Wert von rund 350 Milliarden Dollars unterzeichnete. Unter dem Titel "Das US-Rüstungsmonster ist ‹too big to fail›" hat Helmut Scheben auf Infosperber ausführlich berichtet.

Über den weitgehenden Unsinn des militärischen Aufrüstens hat Infosperber zahlreiche weitere Beiträge veröffentlicht. Hier nur wenige Stichworte:

Saudiarabien ist der mit Abstand größte Finanzierer des Terrorismus im Ausland und der größte Verbreiter des fundamentalistischen Salafismus. Dieser Unterdrückungsstaat wird aufgerüstet von den Rüstungsindustrien der USA und Europas. Investoren, Exporteure und Vermögensverwalter machen mit diesem reichen Land der Terroristen-Finanzierer glänzende Geschäfte.

Auch mit andern autoritären und diktatorischen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sowie in Afrika macht die Rüstungsindustrie lukrative Geschäfte. Diese will - wie andere Branchen auch - weiter wachsen und von höheren Rüstungs- bzw. Verteidigungsbudgets profitieren. Dazu geeignet sind Feindbilder, die sie mit Hilfe ihrer "Think Tanks" und ihrer Lobbys unter Politikern und Medienschaffenden mit Erfolg verbreitet: "Gute" werden von "Bösen" bedroht. Gegenüber dem mächtigen Desinformations-Apparat verhalten sich Parlamentarier und geschwächte Medien weitgehend wehrlos.

Infosperber hat am 3. Januar 2017 über die internationalen Waffengeschäfte informiert: "Wer die vielen Waffen für all die Kriege liefert" .

Gefangenen-Lager und Kriege

Nun zu den schwersten Hypotheken, die wir ins 2018 mitnehmen:

Millionen von Flüchtlingen, die in Libyen in Gefangenen-Lagern wie Häftlinge festgehalten werden. Innerhalb Jemens sind die Zustände wegen verbreiteter Cholera und Hungersnöten noch schlimmer. Nicht viel besser sind die Zustände in Tansania und in vielen andern Ländern. Im Jahr 2017 dazu gekommen sind die Rohingyas in Pakistan.

Fast 3000 Flüchtlinge sind 2017 im Mittelmeer ertrunken (Quelle Internationale Organisation für Migration). Trotzdem werden auch im 2018 Tausende ihr Leben riskieren, und wir überlassen viele dieser von Schleppern Ausgebeuteten wohl weiterhin ihrem tödlichen Schicksal.

Anhaltende Kriege in Afghanistan , in Jemen, Syrien, Irak, Südsudan, Somalia und an fast dreißig andern Orten auf unserer Erde.

Weitere Kriege drohen auszubrechen. Die folgenschwersten wären wohl Kriege mit Nordkorea und dem Iran oder zwischen den Atommächten Pakistan und Indien. In Pakistan könnten Terroristen zu Atomwaffen kommen (siehe Infosperber: "Atomgefahr aus Pakistan ist größer als aus Nordkorea" ). Auch die Ukraine bleibt ein Unruheherd.

Vorrang dem Selbstbestimmungsrecht

Für die meisten betroffenen Bevölkerungen sind Kriege das mit Abstand Schlimmste. Die Menschen in Europa haben dies im letzten Jahrhundert zweimal erfahren. Wenn sie die Wahl hätten, würden wohl die meisten Menschen eine Diktatur oder sogar eine Fremdherrschaft einem zerstörerischen Krieg vorziehen.

In einer zivilisierten Welt sollten nicht Machtansprüche auf Regionen und Einflussbereiche Vorrang haben, sondern das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Bevölkerungen.

Das gilt für die vergessenen Sahrauis in Westafrika.

Es gilt aber auch für die Bevölkerungen auf der Krim und in der Ostukraine: Warum nicht ein Abzug aller ausländischen Truppen und dann eine von der Uno organisierte und überwachte Volksabstimmung mit der Wahl der künftigen Staatszugehörigkeit und/oder einem Autonomie-Statut wie es etwa die Südtiroler in Italien haben?

Das Gleiche gilt für die Kurden in der Türkei, im Irak und in Syrien.

Das Gleiche gilt für die Bevölkerung in Kaschmir.

Über die Problematik einer Verallgemeinerung des Selbstbestimmungsrechts, zum Beispiel im Fall von Katalonien, hat Infosperber mehrere Analysen veröffentlicht:

3.11.2017 Niklaus Ramseyer: "Machthaber missachten Selbstbestimmungsrecht"

4.11.2017 Jürg Müller-Muralt: "Selbstbestimmungsrecht nicht verabsolutieren"

14.11.2017: Niklaus Ramseyer: "Selbstbestimmungsrecht erkämpft, nicht ‹erlaubt›"

24.11.2017 Jürg Müller-Muralt: "Die Gefahren des Wohlstands-Separatismus"

Ungelöste Altlasten

Es sind viele ungelöste Altlasten, die wir ins 2018 mitnehmen. Regierungen, Parlamente und die Zivilgesellschaft bleiben enorm gefordert. Nach den Feuerwerken gilt es, viele, gefährlich schwelende Unruheherde mit politischen Mitteln einzudämmen, das Finanzcasino zu disziplinieren, sozialisierte Kosten zu minimieren und Ursachen der Migration mit Sozial- und Umweltstandards im Welthandel zu beseitigen.

Infosperber wird diese Entwicklungen mit Sperberaugen verfolgen und so unabhängig wie möglich informieren.

Quelle: Infosperber.ch - 01.01.2018.

Veröffentlicht am

02. Januar 2018

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