Eine große, frei flottierende Sehnsucht nach etwas AnderemHeuer hat 1968, das berühmte Jahr der Revolte, schon ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel. Vor zehn Jahre wurde das 40-jährige Jubiläum in den "Leitmedien" mit ausgiebigem 68er-Bashing begangen. Mal sehen, ob sich das 2018 wiederholt. "Hinter den Schlagzeilen" wird sich dem Thema mit eigenen Beiträgen verschiedener AutorInnen widmen und natürlich auch fragen: Ist eine Revolte auch heute wieder möglich? (Nötig wäre sie ohnehin.) Götz Eisenberg erzählt in diesem Beitrag sehr persönlich über "sein" 1968. Wie bei vielen Altersgenossen ging auch bei ihm ein "atmosphärisches" Unbehagen, ein noch ungerichtetes Aus- und Aufbruchsverlangen der politischen Sozialisation voraus.
Eine große, frei flottierende Sehnsucht nach etwas AnderemErinnerungen an Politisierungsprozesse um 1968 herum Im Folgenden werde ich berichten, wie für mich "alles anfing", wie meine (und vieler anderer) Politisierung vonstattenging, wie die revolutionären Hoffnungen sich als Illusionen erwiesen und andeuten, welche Identitätsprobleme das nach sich zog. Diesen Text habe ich ursprünglich für die Wochenzeitung Freitag geschrieben, die ihn in der Ausgabe vom 29. Februar 2008 in einer stark gekürzten Version brachte.Von Götz Eisenberg "Der Aufstand geschieht gegen diejenigen, die mich zur Sau gemacht haben, es ist kein blinder Hass, kein Drang, zurück ins Nirwana, vor die Geburt. Aber die Rebellion gegen die zwanzig Jahre im Elternhaus, gegen den Vater, die Manipulation, die Verführung, die Vergeudung der Jugend, der Begeisterung, des Elans, der Hoffnung - da ich begriffen habe, dass es einmalig, nicht wiederholbar ist. Ich weiß nicht, wann es dämmerte, aber ich weiß, dass es jetzt Tag ist und die Zeit der Klarstellung. Denn wie ich sind wir alle betrogen worden, um unsere Träume, um Liebe, Geist, Heiterkeit, ums Ficken, um Hasch und Trip (werden weiter alle betrogen)." (Bernward Vesper: Die Reise) "Sogar dem, der einen Nagel wieder aus der Wand zieht, bleibt doch das Loch.". (Peter Brückner) "Wenn man mich im Zenit meines Lebens fragt: Hast du mit fünfzehn Jahren geträumt, das zu werden -, was werde ich antworten?" (André Gorz) "Das Unglück, in das Alter der Verantwortung einzutreten, ohne den Verlust der Sensibilität, der mit ihm einherzugehen pflegt und der dann erlaubt, diese Verantwortung ohne besondere Rücksicht auf die anderen zu übernehmen." (Albert Camus) Im Sommer 1967 fuhr ich mit zwei Freunden auf den Fahrrädern nach Holland. Wir waren 16 Jahre alt und genossen sechs Wochen ohne Eltern und Pädagogik, frei von Gängelung und Kontrolle. Endlich öffnete sich die Welt. Wir fuhren, dass uns der Schweiß von der Nasenspitze tropfte, suchten uns gegen Abend einen Zeltplatz, kochten uns auf einem Gaskocher eine Tütensuppe oder aßen Pommes frites. Dann sahen wir uns um. Überall traf man auf junge Leute in Aufbruchsstimmung. Unterwegs kehrten wir in Kneipen oder Imbiss-Buden ein und setzten die Musik-Box mit den Hits dieses Sommers in Gang. Dabei kam jeder mal zu seinem Recht und abwechselnd wurden Pictures of Lily von den Who, Ha, Ha, said the clown von Manfred Man und All you need is love von den inzwischen zu Hippies verpuppten Beatles gedrückt. Es gibt im Leben junger Menschen, wenn sie Glück haben, einen Augenblick, in dem sie plötzlich entdecken, dass die Freiheit existiert. Dieser Sommer war für uns drei eine solche Erfahrung. Auf irgendeinem holländischen Campingplatz lernten wir Cora kennen. Cora wusste über Vieles bereits Bescheid und brachte uns nacheinander das Küssen bei. Ausnahmsweise blieben wir an einem Ort mehrere Tage. Ich erinnere mich, wie die Reihe an mich kam. Wir saßen unter Kiefern in der Abendsonne, und Cora steckte mir ihre Zunge in den Mund. Bei meinen Eltern hatte ich nur Küsse mit gespitzten Mündern oder auf Stirn und Wange gesehen. Dass die Zunge beim Küssen eine Rolle spielte, war mir völlig neu, und es irritierte mich anfangs. Behutsam und dennoch zielstrebig dirigierte Cora meine Hände in Regionen ihres Körpers, die ich noch nie zuvor berührt hatte. Es war ein wunderbarer Sommer, etwas von Aufbruch lag über allem, und als wir wieder zu Hause waren, waren wir nicht mehr dieselben. Ab jetzt wussten wir, dass es so, wie es war, nicht bleiben würde. Politisch war ich 1968 noch eine Rübe auf dem Feld und hatte von nichts eine Ahnung. Ich saß trübsinnig in meinem Dachstübchen zu Hause und hörte mittels eines Transistorradios, das mir mein Großvater hinter dem Rücken meiner Eltern geschenkt hatte, abends die "Schlagerbörse" und jede Menge "Amigeheul und Negermusik", vor denen mein Vater mich hatte bewahren wollen. Auf diesem Weg erfuhr ich auch vom Mordanschlag auf Rudi Dutschke. Dutschke kannte ich dem Namen nach als einen der Rädelsführer dieser merkwürdigen Studentenunruhen in Berlin, von denen allenthalben die Rede war. Ich teilte die dummen Gemeinplätze, die zur Beurteilung dieser Unruhen im Schwange waren: "So geht es nicht, man muss sich an die Spielregeln halten. Wozu haben wir denn Parteien und Parlamente! Man kann sicher dies und das verbessern, aber nicht so." An diesem Gründonnerstag in meiner trostlosen Kasseler Dachstube stellte sich für mich zum ersten Mal eine Verbindung her zwischen "dem da draußen", dem Anschlag auf Rudi Dutschke, den der aus München angereiste Malergehilfe Josef Bachmann angeschossen hatte, und mir und meinem bis dahin namenlosen Unbehagen. Ich spürte, dass mich das anging, aber noch blieb ich zuhause und erlebte die Osterunruhen und Springer-Blockaden direkt nach dem Anschlag als sympathisierender Beobachter. In den nächsten Wochen stand die dritte und abschließende Lesung der Notstandsgesetze an. Von einem übel beleumundeten Gymnasium hauten die Schüler trotz massiver Drohungen des Direktors einfach ab, zogen quer durch die Stadt von Schule zu Schule und holten uns ab. Das Belagern der Mädchengymnasien war natürlich von besonderem Reiz. Schließlich fand sich ein ständig wachsender Menschenhaufen zusammen, der vor das Rathaus zog, die Straßenbahnen und den Zugang zum Rathaus blockierte, Flugblätter verteilte und mit Passanten diskutierte. Später ging’s zu "Opa Lohmann", wo es den "Halben" für 65 Pfennige gab, oder in den "Republikanischen Club" schräg gegenüber. Was mich an der Bewegung zunächst faszinierte, waren die Jeans, die bei uns Zuhause verpönt waren, weil sie aus Amerika stammten und als zu eng und aufreizend galten, die Parkas, die filterlosen Roth-Händle und selbst gedrehten Zigaretten, die langsam länger werdenden und aus der Fasson wachsenden Haare, die freieren Umgangsformen auch zwischen den Geschlechtern und die schnoddrig-respektlose Sprache. Ich empfand es schon als Defizit, inhaltlich "nichts drauf" und politisch keine Ahnung zu haben, aber dieses Nichtwissen schloss einen nicht aus. Die wichtigsten Argumente gegen die Notstandsgesetze, den amerikanischen Krieg in Vietnam und die Springer-Presse schnappte ich schnell in Diskussionen auf und ich las Flugblätter und lernte aus ihnen. Die letzte Zeit in der Schule saß ich neben Michael, der im "Aktionszentrum unabhängiger sozialistischer Schüler" (AUSS) war und dem im September 1969 der Chef des Sicherheitsdienstes der NPD Klaus Kolley bei einer Demonstration gegen den Auftritt des NPD-Vorsitzenden von Thadden in Kassel eine Kugel durch den Arm schoss. Der zweite Angeschossene hieß Bernd. Dieser hatte es als Jugendlicher als Ein- und vor allem Ausbrecher zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Während eines Gefangenentransportes zwängte er sich durch das schmale Fenster einer Grünen Minna und floh. Die Polizei stattete anschließend sämtliche Grünen Minnas mit einer zusätzlichen Querstrebe aus, die man nach ihm benannte. Nun verpuppte er sich zum "Che von Kassel", trug langes Haar und Baskenmütze. Nach dem Ende der antiautoritären Zeit schloss er sich einer maoistisch-stalinistischen Partei an, später scheffelte er eine Menge Geld als Immobilienhändler, das er noch später in den Kauf eines ehemaligen DDR-Verlages steckte. Mein Mitschüler Michael "agitierte" mich in den Pausen und während der langweiligen Stunden, versorgte mich mit Flugblättern. Über ihn bezog ich mein erstes politisches Buch, das "Sexualität und Klassenkampf" hieß und von Reimut Reiche stammte. Im Deutsch- und Religionsunterricht fingen wir an, Kritik an den tradierten Inhalten und Formen des Unterrichts zu üben. Den evangelischen Pfarrer, der den Religionsunterricht übernommen hatte, konfrontierten und nervten wir mit Argumenten aus Joachim Kahls gerade erschienenem Buch "Das Elend des Christentums". Nicht Gott hatte die Menschen geschaffen, sondern die Menschen erschufen Gott, da sie es ohne einen solchen Trost nicht aushielten. Es war für uns tatsächlich noch eine Entdeckung, dass es im klassischen Athen Sklaven gegeben hat. Wie leicht waren diese autoritären und nur oberflächlich entnazifizierten Pauker auf die Palme zu bringen und zu demaskieren! Das Gelächter über blamierte und bloßgestellte Autoritäten war eine große, befreiende Kraft. Meinen Abituraufsatz schrieb ich mit zusammengeklauten Argumenten über und gegen das dreigliedrige Schulsystem, das die Spaltung der Gesellschaft in Klassen und Schichten zementiere. Zum Abitur bekam jeder Schüler vom Direktor ein Buch eigener Wahl überreicht. Ich ließ mir "Kinderkreuzzug oder beginnt die Revolution in den Schulen?" von Günther Amendt schenken. "Götz Eisenberg - zum Andenken an seine Schule" steht da samt einer Unterschrift des Direktors als Widmung drin. Ich begann zu lesen, und langsam fand mein diffuses Unbehagen seine Begriffe. Ich lernte, meine persönlichen Lebensumstände im Kontext gesellschaftlicher und geschichtlicher Bedingungen zu sehen, im Individuellen meiner Misere das Allgemeine zu entdecken, ein für mich wie viele andere wichtiger Lernprozess. Aber es waren zunächst Beweggründe unterhalb des Kopfes und der politischen Programmatik, die mich zur Schülerbewegung trieben, eine Art dicke, fette, frei flottierende Sehnsucht nach etwas anderem, jenseits eines Elternhauses, das mich einengte und ins Korsett zwängte. Zu Hause ging es zu wie eh und je in bürgerlichen deutschen Elternhäusern: "Sitz gerade, Junge; nimm den Ellenbogen vom Tisch; linke Hand am Tellerrand; kämm dich gefälligst vor dem Essen." Es gab Sonntagskleider und Werktagskleider, Bügelfalten und steife Krägen, einen Waschlappen für oben und einen für unten. Ohrfeigen und Schläge galten nach wie vor als probates Mittel der Erziehung. Alle paar Wochen bekam man von einem Vorstadtfriseur den obligatorischen "Kochpottschnitt" verpasst und selbstverständlich hatte man abends zeitig zu Hause zu sein. Eindringlich warnte man uns vor den Folgen der Onanie und beschwor das Gespenst des hohlwangigen Onanisten, dessen Rückenmark aufweicht und dessen Gehirn sich schließlich zersetzt. Die ganze pädagogische Paranoia, die man in Deutschland Erziehung nannte (und mitunter immer noch nennt) und die die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit des Faschismus geschaffen hatte, war in vielen Familien nach wie vor im Schwange. Der AUSS gab unter dem Titel "Venceremos" eine Schülerzeitung heraus, in der der gerade erschienene und als großes Reformwerk gefeierte "Sexualkunde-Atlas" einer heftigen Kritik unterzogen wurde. Verknüpft wurde diese Kritik mit der Forderung nach Räumen für Jugendliche, "in denen sie in Ruhe vögeln können". Meine Stiefmutter unterschrieb in ihrer Eigenschaft als Elternbeiratsvorsitzende einer Schule einen Aufruf "An die Eltern Kasseler Schüler und Schülerinnen", in dem diese aufgefordert wurden, sich gegen den Versuch, "unserer Kinder in dieser Art gegen Elternhaus und Schule aufzuwiegeln", zur Wehr zu setzen. Obwohl mir die Forderung nach Räumen zum Vögeln nicht ganz geheuer war, schlug ich mich auf die Seite dieser Zeitung, weil sie meine Stiefmutter auf die Palme gebracht und zu dieser öffentlichen Stellungnahme veranlasst hatte. Außer über Sexualität wurde auch über die nationalsozialistische Vergangenheit zu Hause und in der Schule nicht gesprochen. Ab und zu kam Onkel Ludwig zu Besuch, der ein "hohes Tier" in Hitlers Wehrmacht gewesen und von Kopfverletzungen grässlich entstellt war. Er war so etwas wie die personifizierte Wiederkehr des Verdrängten. Dieser Onkel wurde uns Kindern als Vorbild in Sachen "Tischzucht" empfohlen: "Seht nur, wie sich Onkel Ludwig trotz seiner schweren Verletzungen bei Tisch hält, wie er mit Messer und Gabel umgeht". Zunächst hielt ich es für einen Widerspruch: Wie kann einer mit so guten Manieren eine solche Rolle bei den Nazis gespielt haben? Dann begriff ich: Man kann sehr wohl gute Manieren haben und Nazi sein. Gute Manieren, Anstand und humanistische Bildung schützen vor gar nichts! Wir begannen, unseren Eltern und Lehrern bezüglich ihrer Haltung zum Nationalsozialismus den Pass abzuverlangen und stießen auf Schweigen, Lügen, Ausflüchte, Hass und Feindseligkeit. Die Revolte zerstörte die Friedhofsruhe, die sich als Resultat der kollektiven Verleugnung und Verdrängung des Faschismus über das politisch-gesellschaftliche Leben der Bundesrepublik gelegt hatte. Die vergesslichen und wieder zur Tagesordnung übergegangenen Wohlstands-Stupor-Bürger bekamen von ihren Kindern den Spiegel vorgehalten, und darin erschienen die hässliche Fratze der Nazis, die Leichenberge von Auschwitz, die massenhafte Begeisterung für den "Führer". Wir haben all jene Erinnerungen wieder in die Gegenwart geholt, von denen sich unsere Eltern losgerissen hatten, um wieder so zu leben wie zuvor, und zerstörten die kollektive bundesrepublikanische Lebenslüge des "Davon haben wir nichts gewusst". Alle Normen und Werte, die man uns zu Hause und in der Schule beibringen wollte, verloren ihre unhinterfragbare und Gefolgschaft erheischende Würde, seitdem wir wussten, dass sie an Wänden von Konzentrationslagern gestanden hatten. Hatte nicht Heinrich Himmler angesichts des industriell betriebenen Massenmordes von "Anstand" gesprochen: "Dies durchgehalten zu haben, und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte." Fortan hatten meine Eltern mir nichts mehr zu sagen, und als ich kurz nach meinem Abitur meinen Musterungsbefehl erhielt und beschloss, ihn zu ignorieren, flog ich zu Hause raus. Im Herbst desselben Jahres - 1969 - kam ich zum Studium nach Gießen. In der Mensa zeigten mir einige Schulfreunde, die schon länger hier studierten, die örtlichen APO-Größen. Die Linken saßen noch einträchtig an einem Tisch und waren noch so antiautoritär, dass sie sich gelegentlich mit pampigen Salzkartoffeln bewarfen. Aber die Anzeichen für die beginnende Fraktionierung waren bereits deutlich erkennbar. Die paar Mitgliederversammlungen des "Sozialistischen Deutschen Studentenbundes", die ich noch miterlebte, waren schon von Grabenkämpfen geprägt. Aus Berlin und Heidelberg drangen bis in die Provinz Positionspapiere und Grundsatzerklärungen, um die sich Gruppen bildeten, die bald schon kaum noch miteinander sprachen. Die Zeit des "kleinbürgerlichen Anarchismus" und der "antiautoritären Handwerkelei" sei nun vorüber, hieß es, und es gelte, sich straff zu organisieren. Auf einer der letzten Krisensitzungen, die noch gemeinsam stattfanden, ließ ein älterer Genosse, den ich sehr bewunderte, einen Satz fallen, der in seiner apodiktischen Kürze einen Schlussstrich unter die antiautoritäre Phase setzte: "Die Arbeiterklasse ist und bleibt das revolutionäre Subjekt!" Ein paar Monate später folgte ich diesem Genossen in eine der maoistischen Sekten, die der Zerfallsprozess der Revolte hervorgebracht hatte. Doch schon wenige Monate später flog ich wegen irgendeiner "Abweichung" aus der Bochumer Linie der KPD/ML heraus. Den folgenden Sommer verbrachten ein WG-Mitbewohner und ich auf Einladung und Kosten der DDR in einem "Schulungslager" in der Nähe von Weimar. Man wollte die nach dem Ende der antiautoritären Bewegung um sich greifende Desorientierung nutzen, um Mitglieder für die 1968 gegründete DKP und deren Studentenorganisation "Spartakus" zu rekrutieren. Die Phrasen aus dem Arsenal eines zur Legitimationswissenschaft parteikommunistischer Herrschaft erstarrten Marxismus, mit denen die zu unserer Schulung abgestellten SED-Funktionäre uns abspeisen wollten, überzeugten uns nicht. Ich hatte im Sommer 1969 mit Freunden Prag besucht, und wir waren dort in die Demonstrationen zum ersten Jahrestag des Einmarsches der Truppen des Warschauer Paktes geraten. Das Ende des Prager Frühlings und die Erfahrung mit dem harten Vorgehen der Prager Polizei gegen die Demonstranten am ersten Jahrestag hatten mein Verhältnis zur Sowjetunion und dem Ostblock in der Wolle mit einer tiefen Skepsis eingefärbt. Wenn ich dennoch vor dieser Reise noch Illusionen über den "real existierenden Sozialismus" gehabt haben sollte, verlor ich sie in diesen drei Wochen in der DDR. Alles, wogegen wir uns zu Hause aufgelehnt hatten, wurde uns hier als Errungenschaft und Kennzeichen einer proletarischen Kultur und angeblich sozialistischen Lebensweise präsentiert. Der junge Kommunist war mit Kernseife gewaschen, musste seinen Teller abessen, uniformiert stramm stehen und den Erwachsenen Gehorsam leisten. Unsere Skepsis und Kritik teilten beileibe nicht alle Teilnehmer aus dem Westen. Unter ihnen befand sich auch Diether Dehm, den wir unter seinem Künstlernamen Lerryn als Liedermacher kannten. Er war damals schon auf Linie und ist es wohl bis heute geblieben, da er für die Linkspartei im Bundestag sitzt. Für B. und mich konnte das die Alternative nicht sein. Was aber dann? Ab 1973 sammelten sich die von den so genannten K-Gruppen Enttäuschten und Abgestoßenen unter dem selbstironischen Etikett "Spontis", das ihnen ursprünglich ihre leninistischen Kritiker verpasst hatten. Die Sehnsucht nach etwas, das meinem Leben einen Sinn geben könnte, hatte mich in die Arme der antiautoritären Bewegung getrieben. Nachdem auch die lockeren Sponti-Zusammenhänge sich aufgelöst hatten und die Rebellen von einst vom bürgerlichen Alltag wieder verschluckt worden waren, büßten die revolutionären Hoffnungen ihre Verankerung in der Welt ein und wurden wieder zu dem, was sie zuvor gewesen waren: Sehnsucht. Der Horizont, der sich 1967 glücklich geöffnet und geweitet hatte, verengte sich wieder. Vor uns lag die Leidensgeschichte der Mäßigung der Ansprüche und die bittere Erkenntnis, dass die Veränderung der Welt nicht die Zeitstruktur des "Sofort" besaß. Wir alle würden lernen müssen, in einer Gesellschaft älter und vielleicht sogar alt zu werden, die wir im Kern ablehnten und die wir nun dennoch zur Basis unserer Lebensentwürfe und Identitätskonstruktionen nehmen mussten. Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 08.01.2018. FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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