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50 Jahre 1968 (4): “Der Pariser Mai”

"Achtundsechzig, das ist das lustvolle Zähnefletschen des Gespenstes der Freiheit, der nachhaltige Schrecken für jede Art von Autoritäten und Bürokraten." Im Jahr 2018 ist es also 50 Jahre her, dass die 68er ihre Revolte begannen. Zu kaum einem anderen Inhalt, kaum einer anderen Bewegung gibt es so viele verschiedene, auch häufig verdrehte Berichterstattungen bis hin zu Diskriminierungen. Zeit, noch einmal zu versuchen, sich zu erinnern. Ja, wir sind alt geworden. Aber beileibe keine "Alt-68erInnen". Der Wunsch zur Rebellion und zur Veränderung hat uns nicht verlassen. 

Von Ellen Diederich

Der Pariser Mai

Der niederländische Chronist Cees Nooteboom schrieb in einer Reportage über den Mai 68 in Paris:

"Der erste Eindruck war, als ob sich plötzlich ein riesiger Deckel hob, als ob plötzlich bisher zurückgehaltene Gedanken und Träume in das Reich des Wirklichen und Möglichen übertragen wurden. Indem sie ihre Umgebung verändern, verändern sich die Leute auch selbst. Leute, die es niemals gewagt haben, etwas zu sagen, bekamen plötzlich das Gefühl, dass ihre Gedanken das Wichtigste auf der Welt seien - und redeten auch so. Die Schüchternen wurden mitteilsam. Die Hoffnungslosen und Vereinsamten entdeckten plötzlich, dass gemeinsame Macht in ihren Händen lag. Die traditionell Apathischen erfuhren plötzlich, wie stark sie an der Sache beteiligt waren. Eine ungeheure Woge von Gemeinschaft und Zusammenhalt ergriff diejenigen, die sich selbst zuvor nur als vereinzelte und machtlose Marionetten angesehen hatten, die von Institutionen beherrscht wurden, die sie weder kontrollieren noch verstehen konnten. Die Leute machten sich jetzt ganz einfach daran, ohne jede Spur von Befangenheit miteinander zu reden. Dieser Zustand der Euphorie dauerte die ganzen vierzehn Tage an, in denen ich dort weilte. Eine Inschrift, die auf eine Mauer gemalt worden war, bringt das wohl am besten zum Ausdruck: ‚Schon zehn Tage Glück’!"

Die politische Ausgangslage

Die ökonomische Lage in Frankreich verschlechterte sich in der 2. Hälfte der 60er Jahre, die Arbeitslosigkeit stieg. Frankreich war seit langer Zeit eine konservative Gesellschaft mit General de Gaulle an der Spitze, die sich mehr und mehr technokratisch und materialistisch entwickelte.

Die Mai-Revolte war zunächst der Kampf um bessere Studienbedingungen. An der Uni in Nanterre gab es verschiedene Aktionen. Die konservative Regierung De Gaulle setzte Polizisten in Zivil auf dem Campus ein. Daraufhin gab es Protestaktionen gegen diese Polizisten. Vorlesungen wurden gestört. Die Enragés (Wütenden) besetzten die Studentenheime. Sie wollten hochschulpolitische Ziele und die Aufhebung der Geschlechtertrennung in den Studentenheimen erreichen.

Aus diesem Anfang entwickelte sich der Protest der StudentInnen. Ihre Ziele formulierten sie im Laufe der nächsten Wochen: "Organisation des Kampfes"; "Politische und gewerkschaftliche Rechte in der Universität"; "Universitätskrise oder Krise der Gesellschaft"; "Bericht über politische Unterdrückung"; "Selbstverwaltung"; "Keine Auslese mehr"; "Unterrichtsmethoden", "Examen", aber auch "Sexuelle Unterdrückung", die "Kolonialfrage", "Ideologie und Mystifikation"

Die Forderungen der StudentInnen bezogen sich nicht nur auf die Hochschule. Sie wollten eine Demokratisierung der Gesellschaft, andere Lebensmodelle. "Die Fantasie an die Macht", "Nimm deine Wünsche für Wirklichkeit", "Gewerkschaften sind Bordelle", "Die Macht den Arbeiterräten, Vive la Commune!" wurde an die Wände der Sorbonne gesprüht.

Großen Einfluss hatte z.B. die Kritische Theorie von Marcuse, sein Buch "Der eindimensionale Mensch" war der Renner. "Die freizügige Kultur der Hippie-Bewegung war erst kurze Zeit zuvor aus den USA nach Europa gekommen, vermittelt z.B. durch Musik und Mode, und beeinflusste dort die Jugendkultur. Es wurde nun auch in Frankreich immer mehr über die Sexuelle Revolution, über Freie Liebe und Selbstverwirklichung diskutiert. Häufig entstand ein Generationenkonflikt kultureller Art mit den Eltern im katholisch geprägten Frankreich, in dem Verhütungsmittel bis 1967 verboten waren.

Am 3. Mai 1968 besetzten politisch links stehende Studierende der Sorbonne die Räume der Universität, nachdem eine Versammlung in der Universität, bei der gegen die Schließung der Uni von Nanterre protestiert werden sollte, verboten worden war. Die Polizei räumte die Sorbonne, setzte Tränengas ein, viele StudentInnen wurden verhaftet.

Von diesem Tag an eskalierte die Lage. Die Straßenschlachten begannen. Barrikaden wurden errichtet, Pflastersteine ausgebrochen. Der Slogan "Unter dem Pflaster liegt der Strand" wurde ein Motto. Autos wurden angezündet.

In der Nacht vom 10. auf den 11.Mai räumte die Polizei die Barrikaden. Es gab hunderte Verletze und Verhaftete. Es folgte eine Welle der Solidarisierung mit den Pariser Studenten erst in ganz Frankreich, kurz darauf in ganz Europa. Auch die französischen Gewerkschaften außer der kommunistischen CGT solidarisierten sich und riefen zu einem eintägigen Generalstreik gegen das Vorgehen der Polizei auf. Die Sorbonne wurde zur Volksuniversität erklärt, zu der jeder Mensch Zugang haben sollte. Die Bewegung weitete sich auf andere Städte aus.

ArbeiterInnen aus verschiedensten Industriezweigen übernahmen Forderungen der StudentInnen und bezogen sie auf ihre Lage.

"Wenn wir wollen, dass unsere Lohnerhöhungen und unsere Forderungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen Erfolg haben, wenn wir nicht wollen, dass sie ständig bedroht sind, dann müssen wir jetzt für eine grundlegende Veränderung in der Gesellschaft kämpfen … Als Arbeiter sollten wir selbst danach streben, den Gang unserer Unternehmen zu kontrollieren. Unsere Forderungen sind denen der Studenten ähnlich. Die Verwaltung der Industrie und die der Universität sollten von denen, die dort arbeiten, auf demokratischem Weg sichergestellt werden." (aus einem Flugblatt von Renault-Arbeitern)

Eine nie da gewesene Streikbewegung begann. Bei Renault, Lockheed und vielen anderen Betrieben. Forderungen wie "Abschaffung der Klassengesellschaft" wurden laut. "Am 16. Mai waren bereits 50 Unternehmen besetzt. Am 17. Mai streikten schon 200.000 Arbeiter, dabei war bereits fast die gesamte Metall- und Chemieindustrie betroffen. Zwei Tage später waren es ungefähr 2 Millionen Menschen geworden, die sich beteiligten. Frankreich erlebte nun den ersten wilden Generalstreik der Geschichte, der sich fast einen Monat hinzog." Wikipedia

Auch andere Gruppen schlossen sich den Kämpfen an. "Wir Fußballer, Angehörige verschiedener Clubs der Pariser Region, haben beschlossen, heute den Sitz der französischen Fußballföderation zu besetzen. Wie die Arbeiter die Fabriken besetzen, wie die Studenten ihre Fakultäten besetzen. Warum? Um den 600.000 französischen Fußballern und ihren Millionen Freunden das zurückzugeben, was ihnen gehört: Den Fußball, den die Bonzen ihnen abgenommen haben, um ihren eigennützigen Interessen als Profitschöpfer des Sports zu dienen…" (Aufruf des Aktionskomitees der Fußballer, zitiert nach Vienet, S. 188)

Es gab Mietstreik, Wechselstreik, Steuerstreik, Besetzung leerer Wohnungen. Die Streikenden forderten höhere Löhne und den Rücktritt der Regierung.

Die Regierung formierte sich. De Gaulle versicherte sich beim Generalstab darüber, dass die Armee auf der Seite der Regierung war. Er forderte die Arbeiter auf, zur Arbeit zurückzukehren, und drohte mit der Verhängung des Ausnahmezustands Am 30. Mai gab es einen Marsch von einigen hunderttausend Menschen, die die Forderung De Gaulles unterstützen.

An diesem Punkt zerbrach die Protestbewegung. Viele Streikende beendeten in der Folge ihre Betriebsbesetzungen und begannen wieder zu arbeiten. Bei den nächsten Wahlen gewannen die Konservativen noch Sitze hinzu.

In Folge des Mai 68 kam es aber auch, ähnlich wie in anderen Ländern, zu kulturellen, sozialen und politischen Reformen in Frankreich, und ein neuer Stil hielt in der Gesellschaft Einzug.


50 Jahre 1968 (1): "68 war nicht der Anfang"

50 Jahre 1968 (2): "Achtundsechzig, das war das Lebensgefühl: Wir werden die Welt verändern"

50 Jahre 1968 (3): "Der Vietnamkrieg"

50 Jahre 1968 (4): "Der Pariser Mai"

50 Jahre 1968 (5): "Black is beautiful! Die Bewegung der AfroamerikanerInnen in den USA"

50 Jahre 1968 (6): "Prager Frühling - Aufstand für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz"

50 Jahre 1968 (7): "Wer war Rudi Dutschke?"

50 Jahre 1968 (8): "Sexuelle und sonstige Selbstbestimmung"

50 Jahre 1968 (9): Die Sache der Frauen

50 Jahre 1968 (10): 68 ist nicht das Ende - "Das Volk von Seattle" und andere Bewegungen

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 25.01.2018.

Veröffentlicht am

27. Januar 2018

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