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Mohandas K. Gandhi: Satyagraha

Am 30. Januar 1948 wurde der indische Rechtsanwalt, Widerstandskämpfer und gewaltfreie Revolutionär Mohandas Karamchand Gandhi, genannt Mahatma ("Große Seele"), ermordet. Anlässlich Gandhis 70. Todestag stellen wir zusätzlich zu den bisherigen Veröffentlichungen zeitnah einige Texte neu auf unserer Website ein, um an diesen Pionier der konsequenten Umsetzung, Entwicklung und weltweiten Bekanntmachung eines gewaltfreien Kampfkonzeptes für Gerechtigkeit.

Der Artikel "Satyagraha" entstammt einem Bericht der indischen Congress-Partei über die Unruhen im Punjab. Darin führt zunächst Gandhi aus, was er unter Satyagraha versteht, bevor die Berichterstatter diese Ausführungen kurz kommentieren.

Satyagraha

Von Mohandas K. Gandhi

Während der letzten 30 Jahre habe ich die Satyagraha gelehrt und praktiziert. Die Prinzipien der Satyagraha sind mir im Laufe dieser Jahre in einer stufenweisen Evolution bewusst geworden.

Den Begriff Satyagraha habe ich in Südafrika geprägt, um der Kraft einen Namen zu geben, mit der die Inder dort für volle acht Jahre (1906-1914) gekämpft haben. Ich sprach von Satyagraha, um diese Kraft von der Bewegung zu unterscheiden, die damals in Großbritannien und in Südafrika unter dem Namen des passiven Widerstands lief.

Der Grundgedanke der Satyagraha ist das "Festhalten an der Wahrheit", darum heißt Satyagraha "Kraft der Wahrheit". Ich habe es auch "Kraft der Liebe" oder "Kraft der Seele" genannt. Schon bei den ersten Versuchen der Anwendung der Satyagraha entdeckte ich, dass das Streben nach Wahrheit es nicht erlaubt, dem Gegner Gewalt anzutun, sondern dass er durch Geduld und Mitgefühl von seinem Irrtum abgebracht werden muss. Was der eine für Wahrheit hält, mag der andere als Irrtum ansehen. Und Geduld zu üben bedeutet, selbst zu leiden. Satyagraha nahm also die Bedeutung von Verteidigung und Rechtfertigung der Wahrheit an: Verteidigung nicht, indem man dem Gegner Leid zufügte, sondern indem man selbst Leiden ertrug.

Die Satyagraha ist vom passiven Widerstand so weit entfernt wie der Nordpol vom Südpol. Der passive Widerstand ist die Waffe der Schwachen und dabei ist die Anwendung von physischem Druck oder verletzender Gewalt nicht grundsätzlich ausgeschlossen, um das Ziel zu erreichen. Dagegen ist Satyagraha eine Waffe für die Stärksten. Hierbei ist die Anwendung von Gewalt in jeder Form ausgeschlossen (…).

Die Lehre von der Satyagraha ist nicht neu. Es werden lediglich die Regeln des familiären Zusammenlebens auf den Bereich der Politik angewandt. Familiäre Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten werden im Allgemeinen nach dem Gesetz der Liebe geregelt. Der verletzte Familienangehörige hat so viel Achtung vor den anderen, dass er um des prinzipiellen familiären Zusammenhaltes willen eine Kränkung hinnimmt, ohne Vergeltung zu üben und ohne böse mit denen zu sein, die anderer Meinung sind als er. Und weil das Hinunterschlucken von Ärger und eigenes Leiden schwierig sind, macht er nicht aus einer Mücke einen Elefanten, sondern stimmt in allen unwesentlichen Dingen bereitwillig mit dem Rest der Familie überein und bringt es auf diese Weise fertig, ein Maximum an Frieden für sich selbst zu erreichen, ohne den Frieden der anderen zu beeinträchtigen. Ob er sich wehrt oder nachgibt, stets ist seine Handlungsweise darauf abgestellt, das gemeinsame Wohlbefinden der Familie zu fördern. Es ist das Gesetz der Liebe, das im größten Teil der zivilisierten Welt stillschweigend und selbstverständlich das Leben der Familie bestimmt.

Ich glaube, dass die Nationen nur dann wirklich eine Nation sein und mit ihren Handlungen zum Wohlergehen der gesamten Menschheit beitragen können, wenn sie dieses Gesetz der Familie anerkennen und auf ihre nationalen und internationalen Angelegenheiten anwenden - also nach diesem Gesetz Politik treiben. Man kann eine Nation nur insoweit als zivilisiert bezeichnen, als sie sich diesem Gesetz unterwirft.

Dieses Gesetz der Liebe ist nichts anderes als das Gesetz der Wahrheit. Ohne Wahrheit gibt es keine Liebe; ohne Wahrheit mag man vom eigenen Land begeistert sein - auf Kosten eines anderen; oder man kann verliebt sein wie ein junger Mann in ein Mädchen; oder man kann unbegründet und blind lieben wie Eltern, die jeden Fehler ihrer Kinder ignorieren. Doch wirkliche Liebe übersteigt alles Animalische und ist nie einseitig. Darum ist die Satyagraha als eine Münze zu sehen, auf deren Vorderseite Liebe und auf deren Rückseite Wahrheit zu lesen ist. Diese Münze ist überall gültig und besitzt unbestimmbaren Wert.

Satyagraha lebt aus sich selbst heraus. Satyagraha kann ohne vorherige Billigung der Gegner ins Spiel gebracht werden. Satyagraha besitzt die größte Ausstrahlungskraft dann, wenn der Gegner Widerstand leistet. Deshalb ist Satyagraha unwiderstehlich. Ein Satyagrahi kennt keine Niederlage, denn er kämpft unermüdlich für die Wahrheit. Für ihn ist der Tod im Kampf eine Befreiung und das Gefängnis das Tor zur Freiheit.

Satyagraha wird auch die Kraft der Seele genannt, weil die Gewissheit einer allem innewohnenden Seele notwendig ist, wenn der Satyagrahi daran glauben soll, dass der Tod nicht das Ende, sondern den Höhepunkt des Kampfes bedeutet. Der Körper ist nur ein Mittel der Selbstverwirklichung und der Satyagrahi gibt freudig seinen Körper hin, wenn dessen Existenz seine Gegner daran hindert, die Wahrheit zu erkennen, für die er eintritt. Er riskiert seine physische Existenz im sicheren Vertrauen darauf, dass, wenn irgendetwas die Ansicht seiner Gegner verändern könnte, dies das freiwillige Darangeben des eigenen Lebens sein müsste. Und in dem Wissen, dass die Seele den Körper überlebt, brennt er nicht ungeduldig darauf, den Sieg der Wahrheit im gegenwärtigen Körper zu erleben. Tatsachlich liegt der Sieg in der Fähigkeit zu sterben; zu sterben bei dem Versuch, den Gegner die Wahrheit erkennen zu lassen, die der Satyagrahi in diesem Augenblick bezeugt.

Und weil ein Satyagrahi nie seinen Gegner beleidigt und stets wieder durch ruhige Argumente an dessen Vernunft, oder durch sein Selbstopfer an dessen Herz appelliert, ist Satyagraha zweifach gesegnet; es segnet denjenigen, der Satyagraha praktiziert und denjenigen, gegen den es sich richtet.

Trotzdem wurde dagegen eingewandt, dass die Satyagraha - wie wir sie verstehen - nur von einer auserwählten Minderheit praktiziert werden könne. Meine Erfahrung beweist das Gegenteil. Werden ihre einfachen Grundsätze - Festhalten an der Wahrheit und durch eigenes Leiden dafür einstehen - erst einmal begriffen, kann jeder die Satyagraha praktizieren. Es ist so leicht oder so schwer auszuüben wie jede andere Tugend. Für die Praxis der Satyagraha ist es genau so wenig erforderlich, dass jeder ihre ganze Philosophie versteht, wie es für die Praxis des vollständigen Alkoholverzichts einer weltanschaulichen Begründung bedarf.

Eigentlich bestreitet niemand, dass man auf etwas, das man als wahr erkannt hat, auch bestehen sollte. Und es ist leicht zu begreifen, dass es vulgär ist zu versuchen, den Gegner durch die Anwendung roher Gewalt zum Akzeptieren dieser Wahrheit zu zwingen; dass es entehrend ist, sich dem Irrtum zu beugen, wenn es den Argumenten an Überzeugungskraft fehlte; dass der einzige wahre und ehrenhafte Weg ist, sich nicht zu unterwerfen - nicht einmal um den Preis des eigenen Lebens. Die Welt kann nur dann vom Irrtum befreit werden, wenn alle so handeln. Wo der Irrtum das menschliche Sein verletzt, kann es mit ihm keinen Kompromiss geben.

Doch auf politischer Ebene besteht der Kampf im Namen des Volkes vorwiegend darin, dem Irrtum in Form ungerechter Gesetze entgegenzutreten. Wenn es misslungen ist, dem Gesetzgeber den Irrtum durch Petitionen und dergleichen eindringlich vor Augen zu führen, bleibt einem als einziges Gegenmittel - wenn man sich nicht unterwerfen will -, ihn zu zwingen, die Gesetze aufzuheben, indem man durch Verletzung des Gesetzes eine Bestrafung herausfordert und dadurch selbst Leiden auf sich nimmt. Deshalb erscheint die Satyagraha der Öffentlichkeit weiterhin als ziviler Ungehorsam oder ziviler Widerstand. "Zivil" ist in dem Sinne aufzufassen, dass dieses Vorgehen nicht kriminell ist.

Der Kriminelle, der gewöhnliche Gesetzesbrecher, bricht das Gesetz heimlich und versucht, der Strafe zu entgehen; nicht so der zivile Widerstandskampfer. Er befolgt stets die Gesetze seines Staates, nicht aus Furcht vor Sanktionen, sondern weil er meint, dass sie dem allgemeinen Wohl dienen. Doch es gilt Anlässe - und im Allgemeinen sind sie selten -, wo er bestimmte Gesetze für so ungerecht hält, dass er es für unehrenhaft halten würde, sie zu befolgen; dann bricht er sie offen und zivil und duldet still die Strafe für diese Übertretung. Um seinen grundsätzlichen Protest gegen einen bestimmten Gesetzgebungsmechanismus anzumelden, hat er auch die Möglichkeit, dem Staat seine Mitarbeit radikal zu entziehen, indem er selbst diejenigen Gesetze nicht einhält, deren Übertretung moralisch nicht zu verwerfen ist. Nach meiner Meinung sind die Erhabenheit und Wirksamkeit der Satyagraha so groß und ist die Lehre so klar und einfach, dass sie sogar Kindern gelehrt werden können. Ich habe zu Tausenden von Frauen, Kindern und Männern, deren sozialen Status man gewöhnlich mit Kontrakt-Arbeiter angibt, über die Satyagraha gesprochen, und die Ergebnisse waren ausgezeichnet.

Als die Rowlatt-Gesetze veröffentlicht wurden, spürte ich, dass sie eine starke Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten bedeuteten und daher bis zum äußersten bekämpft werden mussten. Ich stellte außerdem fest, dass die Inder in ihrer Gesamtheit dieses Gesetz ablehnen. Ich unterstelle, dass kein Staat - auch kein despotischer - das Recht besitzt, Gesetze zu erlassen, die im Widerspruch zum Willen des gesamten Volkes stehen; noch viel weniger darf das eine Regierung, die von verfassungsmäßigen Normen bestimmt ist, wie die indische Regierung. Ich empfand auch, dass die wachsende Bewegung unter der Bevölkerung eine klare Richtung brauchte, wenn sie weder zusammenbrechen noch den Weg in die Gewalt nehmen sollte. Darum riskierte ich es, dem Land - unter nachdrücklicher Betonung des Gesichtspunktes des zivilen Widerstandes - Satyagraha zu empfehlen. Und weil dies in erster Linie eine nach innen gerichtete und reinigende Bewegung ist, regte ich an, einen Tag lang - am 6. April - jegliche Arbeit niederzulegen und zu fasten und zu beten. Das fand in ganz Indien einen überwältigenden Widerhall, sogar in den kleinen Dörfern, wo es weder eine Trägerorganisation noch eine vorhergehende umfassende Vorbereitung gab. Die Idee wurde von der Öffentlichkeit so schnell aufgegriffen, wie sie entwickelt worden war. Am 6. April 1919 wurde von der Bevölkerung keine Gewalt angewendet, und es gab keine nennenswerten Zusammenstöße mit der Polizei. Die Aktion war absolut freiwillig und spontan.

Über die Veröffentlichung der folgenden Botschaft vom 24. Marz 1919 in Madras hinaus habe ich keine Schritte unternommen, um die Idee zu fördern:

"Wie ich in zahlreichen Versammlungen zu erklären versuchte, ist die Satyagraha im Wesentlichen eine religiöse Bewegung, ein Prozess der Läuterung und Buße. Die Satyagraha bemüht sich darum, Reformen zu erreichen oder Missstände abzubauen, indem man freiwillig Leiden auf sich nimmt. Darum möchte ich vorschlagen, den 2. Sonntag nach der Veröffentlichung des Gesetzes No. 2 durch den Vizekönig, also den 6. April 1919, als einen Tag der selbstkritischen Reflexion und des Gebetes zu begehen. Weil dieses Ritual auch zur wirkungsvollen öffentlichen Demonstration werden soll, bitte ich wie folgt zu verfahren:

1) Eine 24-stündige Fastenzeit, gerechnet von der letzten Mahlzeit der vorhergehenden Nacht an, sollte von allen Erwachsenen eingehalten werden, sofern sie nicht gesundheitliche oder religiöse Rücksichten daran hindern. Das Fasten darf nicht zu einer Art von Hungerstreik gemacht werden; es hat nicht zum Ziel, auf die Regierung Druck auszuüben. Die Satyagrahis soll das Fasten dazu erziehen - entsprechend ihrem Gelübde - zivilen Ungehorsams zu leisten; allen anderen soll das Fasten die Möglichkeit geben, der persönlichen Betroffenheit und der Verletzung des Ehrgefühls einen gewissen symbolischen Ausdruck zu verleihen.

2) An diesem Tage sollte jede Arbeit - außer der im öffentlichen Interesse liegenden - eingestellt werden. Märkte und Geschäfte sollten geschlossen sein. Arbeitnehmer, die auch an Sonntagen zu arbeiten haben, dürfen die Arbeit nur einstellen, nachdem sie zuvor Urlaub erhalten haben. Ohne Bedenken empfehle ich auch den Staatsbediensteten, diese zwei Vorschläge zu akzeptieren; obwohl sie zweifellos nicht an politischen Diskussionen und Versammlungen teilnehmen sollten, haben sie meiner Ansicht nach doch ein unbestreitbares Recht, in lebenswichtigen Fragen ihre Gefühle in der zurückhaltenden Art und Weise, wie sie hier vorgeschlagen wird, zum Ausdruck zu bringen.

3) An diesem Tage sollten in allen Teilen Indiens - die kleinen Dörfer eingeschlossen - öffentliche Versammlungen stattfinden, auf denen Resolutionen angenommen werden, in denen um Rücknahme der beiden Maßnahmen gefordert wird. Sollte mein Vorschlag angenommen werden, so wird die Verantwortung für die notwendige organisatorische Arbeit in erster Linie bei den verschiedenen Satyagraha-Vereinigungen liegen; aber ich hoffe, dass alle anderen Vereinigungen mithelfen werden, damit diese Demonstration ein Erfolg wird."

Die Lehre von der Satyagraha, wie Mr. Gandhi sie erklärte, scheint als theoretischer Vorschlag klar und verständlich. Aber wir glauben, dass es nicht so leicht ist, wie es auf den ersten Blick erscheint, sie auf jede Situation im Leben zu übertragen. Eine umfassende Erziehung zu Geduld und Selbstkontrolle ist erforderlich, um die Satyagraha zu praktizieren. Und das sind gerade die Eigenschaften, die im Leben immer dann fehlen, wenn sie am meisten gebraucht werden. Wenn eine große Zahl von Menschen die Satyagraha-Lehre ins tägliche Leben übernehmen soll, muss sie für den durchschnittlichen Menschen praktizierbar sein; doch der Durchschnittsmensch neigt eher zu Gewalttätigkeit als zur Selbstopferung, wenn er das Gefühl hat, dass ihm Unrecht angetan wird. Mr. Gandhis Antwort darauf ist, dass der Durchschnittsmensch diese Geduld im Familienkreise übt, und er nur deren Ausdehnung auf den politischen Bereich fordere.

Jedenfalls ist dies nicht der Ort, um die Durchführbarkeit der Lehre weiter zu untersuchen. So viel ist klar, dass das Lehren einer unschädlichen Doktrin dieser Art für die Gesellschaft nur von Nutzen sein kann. Aufgrund unserer Anhörung von Hunderten von Menschen sind wir fest davon überzeugt, dass die Folgen weitaus verheerender gewesen wären, wenn die Menschen, die an der Bewegung teilnahmen, nicht der Geist der Satyagraha beseelt hätte. Die beispielhafte Selbstkontrolle, die die Menschen in den anderen Teilen Indiens ausübten, zeigt nicht, dass diese sich im Temperament wesentlich von den Punjabis unterscheiden, sondern dass der zügelnde Einfluss von Satyagraha stark genug war, um den Zorn der Menschen auf die Regierung, die Indien das Rowlatt-Gesetz aufgezwungen hatte, unter Kontrolle zu halten. Wenn die Menschen fähig gewesen wären, ihrem Unwillen Luft zu machen, indem sie den Gesetzen des Staates den Gehorsam verweigerten, würde die Regierung höchst wahrscheinlich schon viel früher dem Willen des Volkes entsprochen haben."

Quelle: Gewaltfreie Aktion. Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit. Heft 57/58, 1983. S. 23-27. Der Text entstammt einem Bericht der Congress-Partei über die Unruhen im Punjab, in: M. K. Gandhis Collected Works, Vol. XVII, S. 151-157. Übersetzt von Theodor Ebert.

Veröffentlicht am

30. Januar 2018

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