Libyen: Das Versagen der FriedensforschungSelbst die pazifistischen Institutionen sind Teil des sicherheitspolitischen Mainstreams. Es fehlen Phantasie - und MutVon Ekkehart Krippendorff Zu der libyschen Variante der großen arabischen Revolutionsbewegung, und wie sich "der Westen" dazu verhalten sollte, hat inzwischen jedermann eine Meinung. Das ist in Ordnung. Das scheinbare Ausscheren der Bundesregierung aus der europäisch-amerikanischen Einheitsfront (oder waren es nur ein Dutzend Berater zwischen Kanzleramt und Auswärtigem Amt, die diese Entscheidung getroffen haben?) gibt den Experten und Kolumnisten dankbares Material. Wenn man aber genauer hinschaut, so ist das Meinungsspektrum sehr eng. Fast unisono heißt es, die deutsche Enthaltung zum Militäreinsatz in Libyen sei ein Fehler gewesen, ein Bruch mit der gesamten UNO- und Bündnispolitik der deutschen Diplomatie. Der publizistische Meinungskonformismus wurde um so kräftiger, je weniger die Bundesregierung ihren erstaunlichen Schritt verteidigte, ihn vielmehr stückchenweise relativierte. An die "vasallenhaft pro-amerikanische Stigmatisierung" von auch nur vorsichtigen Ansätzen zu selbstständigem außenpolitischen Denken hat Andreas Zumach kürzlich erinnert (der Freitag Nr. 17). Die Angst vor einem "deutschen Sonderweg" gehört zu den Traumata deutscher Demokraten, seit Thomas Mann 1914 damit den Krieg gegen die Westmächte kulturell begründet hatte. Aber was dann? Die Argumente für eine bewaffnete Intervention zum Schutz der unverblümt mit Massakern konfrontierten, schlecht bewaffneten und noch schlechter militärisch ausgebildeten Zivilbevölkerung sind so überwältigend, dass auch grundsätzliche Kriegsgegner verstummen. Dem Pazifismus scheint es die Sprache verschlagen, er scheint politisch kapituliert zu haben. Dieser anscheinenden Kapitulation eines deutschen Friedenslagers ist das Schweigen der akademischen Friedensforschung gewissermaßen vorgelagert. Dass diese in Deutschland über keinen explizit dieser Spezialdisziplin gewidmeten Lehrstuhl verfügt, ist beschämend genug und hat sie intellektuell geschwächt. Es gibt zwar zwei renommierte Institute, die diese Lücke teilweise füllen könnten: In Hamburg das "Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik" und in Frankfurt am Main die "Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung". Aber haben diese solide ausgestatteten Institutionen ihren originären wissenschaftlichen Auftrag erfüllt, gewaltfreie und praktische Optionen als Alternativen zur konventionellen Außenpolitik militärischer Konfliktlösungen zu entwickeln? Das Wenige, was man von ihnen gehört hat, unterscheidet sich in Sachen Libyen und den arabischen Revolutionen nur marginal vom Unisono der publizistischen und außenpolitischen Experten - sie sprechen gemeinsam die Establishment-Sprache der "Sicherheitspolitik" bzw. der "Konfliktforschung", nicht aber die der Friedensforschung. Waisenkinder der WissenschaftAlternative Handlungsstrategien haben sie der deutschen Außenpolitik nicht anzubieten, verlangen auch im Friedensgutachten von dieser Woche bloß verstärkte Diplomatie. Im Effekt erhöhen sie das Ohnmachtsgefühl des kritischen Teils der deutschen Öffentlichkeit, dass es eigentlich keine Alternative zur NATO-Militärpolitik gebe und dass die deutsche Enthaltung in der UNO eine zu korrigierende diplomatische Tölpelei war. Pazifistische Positionen haben in den Institutionen keinen akademisch absichernden Schutzschirm, keinen Raum intellektueller Auseinandersetzung und keine ernsthafte Chance des Gehörtwerdens; sie sind Waisenkinder der Wissenschaft und der Meinungsöffentlichkeit. Pazifismus gründet sich auf der Maxime, dass es für jeden politisch-gesellschaftlichen Konflikt gewaltfreie Lösungen gebe: Sie sind die schwierigeren, die zeitaufwändigeren, die unkonventionelleren, die anstrengenderen, die mühsameren, auch die weniger populären Lösungen - aber es gibt sie. Sie müssen sich an jeweils neu zu entwickelnden Parametern orientieren, die quer zu und außerhalb der konventionellen politischen Wahrheiten liegen. Sie haben zu tun mit der Mühe der Überzeugungsarbeit zwischen Konfliktparteien. Sie müssen sich rechtfertigen vor dem Effizienz-Versprechen der abkürzenden Lösung durch Gewalt. Ihre Ergebnisse sind oft erst Jahre später sichtbar - wie übrigens auch die Langzeitfolgen der Gewalt. Wie könnte man sich also in Libyen gewaltfreie Interventionen vorstellen? Denn dass die Weltgesellschaft es nicht tatenlos hinnehmen kann, wenn ein pathologischer Herrscher Teile seines eigenen Volkes zwecks Machterhaltung massakriert, das bedarf keiner Rechtfertigung. Einmischung wird zur moralischen Pflicht - aber welche Einmischung? Dazu bedarf es der politischen Phantasie. Die Kenner der libyschen Situation stimmen darin überein, dass es strategisch darauf ankomme, den Gewaltherrscher Gaddafi zu isolieren, ihn seinem entpolitisierten Volk zu entfremden, die Stammesverbände und Familienclans zu entloyalisieren, den Diktator gewissermaßen von unten zu entmachten. Das könnte zum Beispiel durch Verbreitung von Informationen geschehen. Wie es heißt, ist die libysche Bevölkerung seit Jahrzehnten von der Außenwelt isoliert worden, weiß also fast nichts von dem, was sich im arabischen Raum in den vergangenen Monaten abgespielt hat. Eine massive Aufklärungskampagne mittels Flugblättern, abgeworfen von Flugzeugen, müsste sich vergleichsweise einfach organisieren lassen. Zweitens sollten die Söldner des Regimes darüber informiert werden, dass alle, die sich Kriegsverbrechen zuschulden kommen lassen, vor das Haager Tribunal gebracht werden. Drittens wären für Überläufer Anlaufstellen mitzuteilen, und die Nachbarstaaten könnten die Errichtung von Auffanglagern für Flüchtlinge ankündigen. Viertens könnten bei lokalen Waffenstillständen Gespräche zwischen verfeindeten Stämmen und Familien durch ausgebildete Mediatoren, die es etwa in Deutschland in großer Zahl bereits gibt, angebahnt werden, mit der Lieferung von Hilfsgütern als begleitende Friedensaktion. Eine solche flächendeckende Informationskampagne wäre nur bei Mitarbeit der Betroffenen effektiv, die am besten wissen, welche Argumente bei ihren Landsleuten ankommen, welche Sprache gesprochen werden muss. Barenboim zeigt einen WegDer Entwurf einer gewaltfreien Friedens- und Befreiungsstrategie mit korrespondierenden taktisch-praktischen Umsetzungsschritten kann aber nicht aus der Phantasie einzelner Pazifisten am heimischen Schreibtisch entstehen. Sie kann nur das gemeinsame Werk vieler Friedensforscherinnen und Friedensforscher sein. Theoretiker, Praktiker, Historiker, Psychologen aus Wissenschaft und Publizistik, Regionalexperten, Diplomaten, Juristen, Schriftsteller, Musiker müssten ihre Phantasie spielen lassen. Sie sollten keine Luftschlösser produzieren, sondern praktikable Vorschläge erarbeiten, Optionen zur öffentlichen Diskussion stellen, die zur Freisetzung weiterer Ideen führen würden und die der handelnden Politik vorgelegt würden. Eine solche zivilgesellschaftliche Interventionskonferenz hat ihre Berechtigung darin, dem auf den ersten Blick Unwahrscheinlichen eine Chance zu geben, zumindest argumentativ geprüft zu werden. In der aktuellen Situation eines völkerrechtlich mandatierten Interventionismus - und der wird nicht in Libyen haltmachen - braucht der Pazifismus eine glaubwürdige, sachkompetente Stimme für alternative Praktiken. Das aber könnte nur die gemeinsame Stimme von motivierten, phantasiebegabten und sozialwissenschaftlich ausgebildeten Pazifisten sein. Der Diplomatie fallen in der Regel unter "gewaltfrei" bestenfalls die Sperrung von Bankkonten und Waffenembargos ein. Nicht einmal ein Öl-Embargo wurde wenigstens versucht. Dies ist die Stunde der Friedensforschung - und man muss selbstkritisch zugeben: Sie hat völlig versagt. In das unbegrenzte Reich der praktischen Phantasie gewaltfreier Politik gehören auch ein so unkonventionelles Projekt wie das "West-östliche Divan-Orchester" und Daniel Barenboims Musizieren über die Gräben der Politik hinweg, deren Profis so etwas natürlich verspotten. Dabei ist es doch ganz offensichtlich, dass auch in Israel/Palästina die konventionelle Sprache der Macht und der Gewalt längst bankrott ist. Als Barenboim kürzlich die politische Schallmauer um Gaza mit einem Orchester und der Musik von Mozart durchbrach, erklärte er sich für die Gerechtigkeit der palästinensischen Sache - "aber eine gerechte Sache darf man nicht mit Gewalt betreiben". Pazifistisch gedacht und gesagt auch das. Warum hört nicht wenigstens die Friedensforschung auf solche Töne? Vergleichbare Wege bietet die belletristische Literatur, die nicht zuletzt der arabischen Revolution und dem Israel-Palästina-Konflikt eigene Sprachen und Kommunikationsebenen erschlossen hat. Ein deutscher friedenspolitischer Sonderweg könnte darin bestehen, dass eine der genannten Institutionen oder eine der vielen Akademien hierzulande den Mut hat, entweder gewaltfreie Optionen selbst vorzustellen oder aber eine Plattform für eine pazifistische Praxis-Konferenz zur Verfügung zu stellen. Diese könnte wie Barenboims musikalisches Engagement mit dem Mut zur politischen Phantasie unter dem Goethe-Motto stehen: "In der Idee leben, heißt, das Unmögliche zu behandeln, als wenn es möglich wäre." Ekkehart Krippendorff ist Politikwissenschaftler und einer der Pioniere der Friedensforschung in Deutschland Quelle: der FREITAG vom 31.05.2011. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Ekkehart Krippendorff und des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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