1918: Blut über allesDas deutsche Heer tritt an der Westfront zur letzten großen Offensive, der "Kaiserschlacht", an. Der Friedensplan des US-Präsidenten Wilson wird zurückgewiesenVon Lutz Herden Es verspricht, das Gewissen zu erleichtern, und lässt dennoch die Last der Verantwortung spüren, die man sich wie eine Schuld aufgeladen hat. Präsident Woodrow Wilson pilgert am 4. Juli 1918 zum Grab von George Washington in Virginia, um zum Nationalfeiertag vieler toter Soldaten zu gedenken. Auf den Schlachtfeldern in Europa sind zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 80.000 Amerikaner gefallen. Wilson, ein Demokrat, hat die Nation vor einem solchen Opfergang bewahren wollen und hält bis Anfang 1917 auf strikte Neutralität. Wozu in einen Krieg ziehen, bei dem sich die Verderbtheit des alten Europa austobt und Amerika nichts verloren hat? Dann jedoch fängt der britische Geheimdienst im Januar 1917 ein Telegramm aus dem Berliner Auswärtigen Amt ab. In der Zimmermann-Depesche, verfasst vom damaligen Staatssekretär, wird Mexiko für den Fall eines Kriegseintritts der USA deutscher Beistand versprochen, sollte es auf einen Rückgewinn 1848 verlorener Gebiete wie Kalifornien, Nevada, Arizona, Utah und Neu-Mexiko Wert legen. Diesen Wink kann die US-Regierung ebenso wenig ignorieren wie die sich häufenden brutalen U-Boot-Attacken der Deutschen. "Recht ist kostbarer als Frieden", erklärt Wilson am 2. April 1917 vor dem Kongress und vier Tage später Deutschland den Krieg. Doch soll diese Entscheidung mehr bewirken, als den Mächten der Entente den Sieg über Wilhelm II. zu bescheren, es soll nach diesem Krieg keinen solchen Krieg mehr geben, weil das Recht zum Weltgesetz erhoben ist und "alle egoistischen Regierungen" (Wilson) ausgedient haben. Am 8. Januar 1918 legt der Präsident sein 14-Punkte-Programm für einen "Frieden ohne Sieg" vor, das mehr ist als ein Verhandlungsangebot an Deutschland und Österreich-Ungarn. Wilson schwebt eine neue Weltordnung vor, in der sich Staaten auf Regeln einlassen, um miteinander auszukommen. Sie sollen faire Handelskontakte unterhalten, die Freiheit der Schifffahrt wahren, das Selbstbestimmungsrecht der Völker achten, unbedingt abrüsten, einen Völkerbund gründen und ihre Konflikte dort auf friedliche Weise beilegen. Deutschland wäre einbezogen, würde es nach dreieinhalb Jahren Weltkrieg seine Truppen aus Frankreich und Belgien abziehen, besetztes russisches Territorium verlassen und die 1871 erfolgte Annexion Elsass-Lothringens annullieren. Hier freilich ist Wilson als sendungsbewusster Moralist ein schlechter Taktiker. Oder verkappter Stratege, der dem ewigen Frieden nicht so ganz glaubt, weil er als Politiker um den Wert von Feinden weiß. So sehr der Wunsch nach einer militärischen Demission Deutschlands berechtigt scheint, so erhebt ihn doch kein "moralisches Faktum", wie Wilson die USA hofiert, sondern eine Kriegspartei, die mit Frankreich wie Großbritannien verbündet ist. Der deutschen Obersten Heeresleitung (OHL) unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff fällt es daher leicht, Wilsons Ansinnen zurückzuweisen. Nach Kapitulation rieche, was ehrenhafter Frieden genannt werde. Zu verschenken habe man nichts, kein Verständigungs-, ein Siegfrieden stehe bevor. Weshalb die deutsche Armee an der Westfront in eine alles entscheidende Offensive geschickt werden soll. Da am 3. März 1918 der Vertrag von Brest-Litowsk mit Sowjetrussland unterschrieben ist, kann Ludendorff Zehntausende Soldaten von Ost nach West und in die Gegend zwischen Cambrai und St. Quentin in Nordfrankreich verlegen. Er hält es für möglich, Briten und Franzosen bis an die Marne zu drängen und derart zu demoralisieren, dass Paris im Handstreich zu nehmen ist. In seinen Memoiren wird Ludendorff später schreiben: "Diese Offensive würde eine der schwierigsten Operationen der Geschichte sein, dessen war ich mir vollends bewusst. Die deutsche Nation würde alles dafür geben müssen." Und sie konnte alles verlieren, sollte der General den Siegfrieden verspielen, den der Politiker Ludendorff für unumgänglich hält. Am 21. März 1918 beginnt die "Kaiserschlacht", 6.500 Kanonen und 3.500 Granatwerfer feuern auf die feindlichen Linien, Winston Churchill, gerade zum Frontbesuch in Frankreich, spricht von der furchtbarsten Kanonade, die er je erlebt habe. Über den eigenen Gräben stehe eine turmhohe Feuerwand. Ihr entgegen stürmt die deutsche Infanterie und kommt voran, weil Dauerbeschuss von der feindlichen Artillerie nicht viel übrig lässt. In 14 Tagen gewinnt die deutsche Armee auf einer 80 Kilometer breiten Front 30 Kilometer, verglichen mit dem Stellungskrieg seit 1915 ein beachtlicher Geländegewinn. "Wir haben erreicht, was Engländer und Franzosen zusammen nicht geschafft hatten, und das im vierten Kriegsjahr", triumphiert Ludendorff im Hauptquartier bei Mézières. Tatsächlich misslingt, was der große Schlag bewirken soll - die Ententemächte in die kriegsentscheidende Niederlage zu zwingen. Woraufhin Ludendorff am 26. Mai 1918 das erschöpfte Heer nochmals zur Offensive treibt - bis zwei Monate "Kaiserschlacht" ihren Tribut fordern. Bei 350.000 Gefallenen werden die deutschen Linien dünner und durchlässiger für Gegenangriffe, zu denen die alliierten Truppen antreten. Mit Tanks wie dem monströsen britischen Mark-IV-Panzer und dem französischen Renault M 17/18, dem "Babytank" mit MG-Turm, zieht die militärtechnische Revolution übers Schlachtfeld. Die Infanterie wird nicht mehr im Sturmangriff verheizt, sondern geht im Schutz eiserner Festungen vor. Die 650 Panzer der Alliierten lassen sich am 8. August 1918 bei der Offensive von Amiens kaum mehr aufhalten. Eine mobile Kriegführung bricht sich Bahn und lässt die Deutschen einbüßen, was die "Kaiserschlacht" an Terrain gebracht hat. Marschall Ferdinand Foch, Oberkommandierender der Entente-Truppen, nennt den 8. August 1918 den "erfolgreichsten Kriegstag" seit August 1914. Weiß er, dass Ludendorff ein letztes Aufgebot auf dem Schlachtfeld verbluten ließ und keine Reserven mehr hat? Mitte September 1918 überwinden US-Verbände mit ihrer ersten selbstständigen Operation die deutsche Frontspitze bei St. Mihiel und stehen vor der "Siegfriedstellung" zwischen Arras und Soissons. Wer sie nimmt, der sperrt das Tor ins Reich weit auf. Nun drängt die Oberste Heeresleitung auf sofortige Gespräche über einen Waffenstillstand, statt des Siegfriedens muss ein Kompromissfrieden her, um den Kapitulationsfrieden zu vermeiden, der unweigerlich auf das Kaiserreich zukommt und am 11. November 1918 besiegelt sein wird. Da er solches als Schmach empfindet, will Ludendorff nicht selbst verhandeln. Präsident Wilson kommt ihm insofern entgegen, als er darauf besteht, mit keiner "military party", sondern nur einer parlamentarisch legitimierten deutschen Regierung zu verkehren, wie es die unter dem Kanzler Max von Baden inzwischen gibt. Und das 14-Punkte-Programm? Wilsons "neue Weltordnung" hat Anfang 1918 Gehör gefunden, weil der erbärmliche Zustand Europas im vierten Kriegsjahr dazu nötigt. Als sich dann aber die Kräftebalance an der Westfront zugunsten der Entente verschiebt, bestimmt statt der Suche nach dem ehrenvollen Frieden wieder imperialistische Konkurrenz das Handeln. Wie mit der "Kaiserschlacht" der Politiker am Kriegsherrn Ludendorff scheitert, bleibt dem Politiker Wilson verwehrt, was er als Friedensstifter durchsetzen wollte. Auf der Anfang 1919 in Paris beginnenden Friedenskonferenz wollen die Sieger Frankreich, Großbritannien und Italien keine neue Weltordnung aus der Taufe heben, sondern sich an die alte halten, indem sie Deutschland als Rivalen ausschalten. Als im Mai 1919 eine deutsche Delegation unter Außenminister Graf Brockdorff-Rantzau nach Paris zitiert wird, beruft die sich auf Wilsons Erklärung vom 8. Januar 1918 und kommt damit 16 Monate zu spät. In den Vereinigten Staaten selbst ist der Visionär längst als Phantast verschrien, sodass eine republikanische Kongressmehrheit den Rückzug aus Europa erzwingen kann. Die USA werden nie Mitglied, nur Beobachter des von einem ihrer Präsidenten erfundenen Völkerbundes sein. Quelle: der FREITAG vom 21.03.2018. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. 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