Syrien: Konfliktüberblick und LösungsansätzeVon Clemens Ronnefeldt Der Syrien-Krieg dauert nunmehr seit fünf Jahren an; 500.000 Menschen sind bisher ums Leben gekommen. Er hat sich zu einem wahren Stellvertreterkrieg entwickelt, und ein Ende ist nicht abzusehen. Clemens Ronnefeldt liefert im folgenden eine eingehende Analyse des Konfliktes und zeigt Lösungsansätze auf. 1. KonfliktüberblickIn Syrien und Irak sind mehr als 50% der Bevölkerung jünger als 25 Jahre, in Deutschland nicht einmal 25%. Die Perspektivlosigkeit dieser jungen - häufig gut ausgebildeten - Generation, wird weiterhin ein Spannungsfaktor bleiben, wenn ihr nicht lebenswerte Zukunftschancen ermöglicht werden. Zwischen Iran und Saudi-Arabien wird ein blutiger Machtkampf um die Vorherrschaft in der Region ausgetragen, bei dem die sunnitisch-schiitische Frage instrumentalisiert wird und die Zivilbevölkerung in Syrien, Irak und auch Jemen die Leidtragende ist. Unter den ethnischen Konflikten spielt die Kurdenfrage eine zunehmend wichtigere Rolle, seit im Norden Iraks sowie im Nordosten Syriens kurdische Vertreter Selbstverwaltungen ausgerufen haben, die vor allem bei der türkischen Regierung Ängste vor einem Übergreifen dieser Bewegungen auch auf die Türkei verursacht haben. Mit der Bombardierung der PKK-Führung in den irakischen Kandilbergen sowie der Bombardierung zahlreicher kurdischer Hochburgen im Osten der Türkei versucht die Regierung Erdogan durch eine Islamisierung (Bau neuer Moscheen) sowie Arabisierung (Ansiedlung von sunnitisch-arabischen Flüchtlingen aus Syrien in kurdischen Hochburgen) die Demographie neu zuungunsten der kurdischen Seite "zu gestalten" - mittels Krieg. Mehr als 400.000 Kurdinnen und Kurden sind seit Herbst 2015 aus ihren osttürkischen Heimat-Städten geflüchtet. Die Faktoren "Klimawandel" und "Wasser" spielen ebenfalls für die Kriege in Syrien und Irak eine zunehmend wichtigere Rolle: In den Jahren vor Beginn des Krieges in Syrien 2011 gab es Dürrekatastrophen vor allem an der syrisch-türkischen Grenze, die Hunderttausende von Klimaflüchtlingen zur Folge hatten, welche sich in Elendsvierteln von Aleppo und Damaskus niederließen und sich von der Regierung Assad vernachlässigt fühlten. Die türkischen Staudammprojekte des Euphrat und Tigris führen schon jetzt zu einer Verschärfung der Wasserverteilungsfrage zwischen Türkei, Syrien und Irak. Nach der us-amerikanisch-britischen Militärintervention in Irak 2003 nahm Syrien viele Hunderttausende Flüchtlinge aus dem Nachbarland Irak auf, deren Unterbringung und Versorgung das Land destabilisierten. In Syrien wird auch ein Machtkampf zwischen USA und Russland ausgetragen, bei dem Russland wieder einen Platz jenseits der US-amerikanischen Zuschreibung als "Regionalmacht" beansprucht - und die US-Regierung selbst nach den beiden verlorenen Kriegen in Afghanistan und Irak keinen weiteren Krieg mehr mit Bodentruppen finanzieren kann. Dadurch entstand ein Machtvakuum, in das regionale und internationale Akteure gestoßen sind, und es noch einige Zeit brauchen wird, bis sich Machtbalancen wieder ausgependelt haben. Die beiden Kriege in der Ukraine und in Syrien haben geostrategisch viel miteinander zu tun - in beiden geht es um Macht- und Einflusssphären, bei denen Russland verlorenes Terrain der letzten Jahrzehnte wiedergewinnen möchte. Im Tauziehen um zwei (gescheiterte) alternative Erdgas-Pipelines-Pläne der Jahre 2009/2010 (entweder eine Katar-Saudi-Arabien-Syrien-Türkei-Pipeline oder alternativ eine Iran-Irak-Syrien-Pipeline mit Mittelmeer-Hafenterminal) ist Russland aus nachvollziehbaren Gründen nicht daran interessiert, seine starke Rolle auf dem europäischen Erdgasmarkt durch Konkurrenz verringern zu lassen. Europäische Staaten sähen gerne mehr Alternativen zum Erdgas aus Russland, die US-Regierung möchte Putin schwächen - und Iran und Hizbollah wissen, dass nur bei einem Verbleib Assads im Amt die schiitisch-alawitische Landverbindung von Iran, Irak, Syrien und Hizbollah im Libanon - z.B. auch für iranische Waffenexporte an die Hizbollah - erhalten werden kann. Der ungelöste Israel-Palästina-Konflikt bleibt eine schwelende Wunde, die weit in die gesamte Region hinein negative Auswirkungen hat. 2. LösungsansätzeDie Wiederaufnahme der Verhandlungen in Genf unter Leitung des UN-Beauftragten für Syrien, Staffan de Mistura, sind zentral für einen Waffenstillstand. Bei den bisherigen Friedensverhandlungen in Genf fehlten VertreterInnen aus Iran und den kurdischen Gebieten. Die Teilnahme der Letzteren scheiterte bisher am Widerstand der türkischen Regierung, die die kurdische Seite nicht aufgewertet sehen möchte. Ohne kurdische Vertreterinnen und Vertreter aus Nordirak, Rojava (Nordsyrien) und auch der Türkei kann es keinen Frieden in Syrien geben. Das erste Ziel der Genfer Konferenz wäre der Beschluss eines dauerhaften Waffenstillstandes. Diesem könnte die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone, überwacht durch UN-Blauhelme folgen. Hilfsorganisationen bräuchten Zugang zu Verwundeten und Flüchtlingen. Zur Stabilisierung der Nachbarländer wären die zugesagten, aber bisher nicht überwiesenen Zahlungen zahlreicher Geberländer für die Versorgung der Flüchtlinge in Lagern im Libanon, in der Türkei und in Jordanien notwendig. Nach der starken Unterstützung durch Russland und Iran verweigerte sich bisher die Syrische Regierung dem Vorschlag einer gemeinsamen Übergangsregierung mit der Opposition. Um ein Auseinanderbrechen des Staates Syrien zu verhindern, halte ich eine solche Übergangsregierung für ein deeskalierendes Moment. Im Rahmen einer gemeinsamen Erklärung plädierten im Herbst 2016 alle relevanten syrischen Kirchenvertreter für eine Aufhebung der Sanktionen, die vor allem Zivilisten in Syrien treffen. Die Aufhebung ist von den jeweiligen nationalen Regierungen zu treffen, die in unterschiedlichem Maße Sanktionen beschlossen haben. Voraussetzung eines dauerhaften Friedens in Syrien ist die Einstellung aller Bombardierungen der US-geführten Koalition wie auch der russischen Luftwaffe. Die Einstellung aller Drohnen-Angriffe, bei denen zahlreiche Zivilisten auch in Syrien getötet wurden, wäre ein Akt der Vernunft. Im Jahre 2015 verweigerten vier US-Drohnenpiloten den Dienst, weil sie in Drohnenangriffen ein "Terrorzuchtprogramm" sahen. Ohne eine massive internationale Wirtschaftshilfe zum Wiederaufbau der Region fehlt den Menschen eine Perspektive. Die baldige Ankündigung einer solchen Perspektive könnte viele Notleidenden der Region dazu bewegen, am Wiederaufbau vor Ort mitzuarbeiten. Ein wesentlicher Beitrag zu einer Deeskalation wäre die Schließung von IS-Rekrutierungsbüros sowie die Beendigung der Kooperation zwischen Unterstützern in der Türkei, Katar und Saudi-Arabien und dem so genannten Islamischen Staat. Eine westliche Entschuldigung für mehr als einhundert Jahre kolonialer Politik, Unterstützung von diktatorischen Regimen, Sturz demokratischer Regierungen sowie Anstiftungen zu Aufständen und Regime-Wechseln wäre ein erster Beitrag zu einer Aussöhnung zwischen Orient und Okzident. Die Anklage in Den Haag vor dem Internationalen Strafgerichtshof gegen George W. Bush, Tony Blair, Donald Rumsfeld und Dick Cheney wäre ein Zeichen, dass es westliche Demokratien mit ihren eigenen Werte ernst nehmen - auch wenn die USA den Strafgerichtshof nicht anerkannt haben und schon allein an dieser Tatsache eine Verurteilung der genannten Personen scheitern würde. Die Einberufung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit für die Krisen- und Kriegsregion könnte Themen wie Wasser, Erneuerbare Energie, Interreligiöser Dialog, Friedenserziehung oder Massenvernichtungsfreie Zone (ABC-waffenfrei von Israel bis Pakistan) als Ergebnis hervorbringen. Die Einrichtung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen könnte den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen zu einem Ausgleich verhelfen und nach einem Waffenstillstand das Neuaufflammen von Kämpfen verhindern helfen. 3. Beiträge von DeutschlandDeutschland hat eine hervorragenden Infrastruktur im medizinischen Bereich und könnte Verwundete aus der Region aufnehmen, die eine - derzeit dort nicht mögliche - Spezialbehandlung benötigen. Zur Verbesserung der Lebensbedingungen in Flüchtlingslagern der Region könnte Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen und nicht nur den täglichen Kalorienbedarf bereitstellen, sondern z.B. auch Lehrerinnen und Lehrer in Jordanien oder dem Libanon bezahlen, die derzeit als Asylbewerber in Deutschland kaum Aussicht auf eine berufliche Perspektive haben. Diesen Personen, deren Expertise vor Ort dringend benötigt wird und die eine ganze Generation junger Menschen durch Bildung davor bewahren kann, in einigen Jahren erneut zu Kriegern zu werden, wäre im Falle lebensbedrohlicher Zuspitzungen oder Verfolgung vor Ort die erneute Einreise nach Deutschland zu garantieren. Die Einstellung aller Rüstungsexporte in die Region Naher und Mittlerer Osten würde mit dazu beitragen, bewaffnete Konflikte erst gar nicht wie bisher eskalieren zu lassen. Deutschland zählt zu den fünf größten Rüstungsexporteuren und hat im ersten Halbjahr 2016 die Ausfuhr von Munition gegenüber dem Vorjahr verzehnfacht. Die Kündigung der US-Drohnen-Basis Ramstein wäre ein Beitrag zur Einhaltung des Völkerrechts. In seinem Buch "Mit dem IS verhandeln? Neue Lösungen für Syrien und den Terrorismus", München 2016, hat Thomas Carl Schwoerer die Irrationalität militärischer Interventionen offengelegt und plädiert für einen grundlegenden Paradigmenwechsel hin zu zivilen Verhandlungsansätzen: "Wenn wir den Konflikt in Syrien beenden wollen, müssen wir die Spirale der Gewalt durchbrechen … Deutschland setzt dort Tornado-Aufklärungsflugzeuge, eine Fregatte zum Schutz eines französischen Flugzeugträgers, mindestens ein Airbus-Tankflugzeug und Satellitenaufklärung ein. Wer Ziele aufklärt, damit sie bombardiert werden können, ist genauso verantwortlich für die Zerstörung wie der, der die Bomben abwirft". Der jüngste Beschluss des Bundestages zur Ausweitung des deutschen Syrien-Beitrages in Syrien durch den Einsatz von AWACS-Flugzeugen beinhaltet Gefahren für eine Eskalation in der Region. Die Flugzeuge sind auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik stationiert - einem Land, das in die Diktatur abgeglitten ist. Die Regierung Erdogan wird an den Aufklärungsergebnissen interessiert sein, um kurdische PKK-Stellungen und Kämpfer bombardieren zu können. Die AWACS-Maschinen können nicht nur Bildmaterial liefern, sondern auch als Feuerleitzentralen fungieren. Im jüngsten Beschluss des Bundestages ist zwar diese Funktion ausdrücklich ausgenommen worden, im Falle einer Eskalation steht jedoch zu befürchten, dass auch ohne das Zusammenrufen zu einem erneuten Bundestagsbeschluss deutsche Soldaten möglicherweise für die Koordinierung von Angriffen mittels Kampfbombern eingesetzt werden. In den AWACS-Maschinen sind etwa ein Drittel des Personals deutsche Bundeswehrsoldaten. Die Syrien-Kampagne "Macht Frieden. Zivile Lösungen für Syrien" hat es sich zum Ziel gesetzt, den Bundeswehreinsatz in Syrien zu beenden und zivile Lösungsansätze zu stärken. Koordiniert wird diese Kampagne vom Netzwerk Friedenskooperative. ( www.macht-frieden.de ). Quelle: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig - Versöhnung Rundbrief 4 / 2016. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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