Von Donnergrollen und SommerwochenVon Katrin Warnatzsch, Sozialer Friedensdienst im Lebenshaus (aus: Lebenshaus Schwäbische Alb, Rundbrief Nr. 94, September 2017 Der gesamte Rundbrief Nr. 94 kann hier heruntergeladen werden: PDF-Datei , 905 KB. Den gedruckten Rundbrief schicken wir Ihnen/Dir gerne kostenlos zu. Bitte einfach per Mail abonnieren .) Warum ein Händedruck manchmal nicht kräftig sein kann: ein junger Geflüchteter wurde im Krieg von einem Geschoss in seine rechte Hand getroffen. Sie ist nun teilweise gefühllos und schmerzt ständig. "Meine Hand ist ein bisschen besser geworden und es ist so gut bei Dietmar. Ich fahre vier Kilometer mit dem Fahrrad zur Therapie, es geht; wenn es regnet, nehme ich den Schirm in eine Hand. Er hat mir eine Murmel geschenkt, damit mache ich die Übungen. Ich greife sie auf und halte sie zwischen den Fingern. Es geht schwer und ich fühle immer noch nichts in den Fingern, aber ich übe. Und Dietmar ist so freundlich, er kann nur schwäbisch, aber wir verstehen uns. In den Ferien machte Dietmar einen Schwimmkurs für uns aus Afghanistan. Zwei Wochen lang jeden Vormittag. Das Schwimmbecken ist absenkbar, ich habe keine Angst. Aber einer von uns konnte nicht untertauchen. Das ist die Erinnerung an die Angst vor dem Meer, weil er nicht schwimmen konnte, zwischen der Türkei und Griechenland, im kaputten Schlauchboot. Einmal kam ein Gewitter, wir sind alle total nass geworden auf dem Heimweg. Das war lustig, zuerst nass vom Schwimmen, dann vom Regen. Und am letzten Tag kam die Prüfung: reinspringen, tauchen und schwimmen. Ich habe das Seepferdchen und einen Freischwimmerpass bekommen. Ich bin so glücklich." Ein anderer Geflüchteter hat in seiner Heimat das Abitur gemacht und zwei Jahre studiert. Eine dort verbotene Liebesgeschichte brachte ihn in Lebensgefahr, auch er trägt, neben den seelischen Verwundungen, eine Schussverletzung davon. "Ich kann es nicht mehr aushalten hier. Ich kann keine Menschen mehr um mich haben. Die Wut in mir wird stärker. Ich schlage schnell zu, so vieles ärgert mich. Ich habe seit zwei Monaten keinen Kontakt mehr zu meiner Familie. Dort ist wieder so viel Krieg. Vielleicht sind sie nach Pakistan geflüchtet. Dort sterben die Menschen auf den Wegen. Ich habe solche Angst. Unterwegs kann so viel passieren. Und ich kann ihnen nicht helfen. Schlafen kann ich nur ein paar Stunden am Tag. In der Nacht ist es unmöglich, zu schlafen. Da sind die Sorgen und die Angst, ich sehe alles vor Augen, was mir passiert ist. Nein, im Krankenhaus wollte ich nicht bleiben. Dort ist es noch schlimmer als in der Unterkunft. So viele kranke Leute. Und niemand versteht mich. Ich will auch keine Tabletten nehmen. Sie können mir nicht helfen. Den Arzt konnte ich nicht verstehen. Ich glaube, ich stoppe alles und gehe zurück nach Afghanistan. Deutschland will mich nicht. Hier kann ich nichts tun, keine Arbeit, keine Ausbildung, keine Wohnung. Und studieren kann ich hier auch nicht. Die Sprache bleibt nicht in meinem Kopf. Und vielleicht braucht mich meine Familie. Die Antwort, ob ich hier bleiben kann oder gehen muss, kann ich nicht mehr abwarten. Es dauert zu lange. Diese Ungewissheit und das Warten. Ich weiß nie, ob es richtig ist, was ich mache. Andere sterben, ich habe überlebt, aber ich weiß nicht, warum." Bereit für eine Ausbildung in der Altenpflege ist ein Mann, dessen Familie zurückgeblieben ist und weiterhin mit dem Krieg leben muss. Er ist so froh, jeden Tag zur Arbeit zu können und nicht mehr in der Langeweile der Unterkunft unterzugehen. "Meine Kolleginnen sind so nett, nur eine ist ein bisschen streng. Die Arbeit ist einfach, ich habe das alles schon gekannt; in meiner Heimat gibt es auch behinderte und alte Leute. Ich konnte einen Verband machen, besser als meine Kolleginnen. Sie haben gestaunt und wir haben eine Stunde darüber geredet, woher ich komme. Mein Vater war Arzt, ich habe ihm viel geholfen. Kannst du mir sagen, wie ich den Dienstplan verstehen kann? So viele verschiedene Schichtdienste gibt es hier. Bei uns ist es normal, dass man von 8 Uhr bis 16 Uhr arbeitet. Aber was geschieht danach mit den Menschen, die unsere Hilfe brauchen? Langsam verstehe ich, wie das hier organisiert wird. Ich arbeite gerne viel und ich bin auch schnell, dann kann ich noch anderen Kolleginnen helfen. Ja, alleine sollen sie mich nicht arbeiten lassen. Aber zusammen, das ist schön. Kannst du nachfragen, wann ich das erste Mal Geld bekomme? Und ob ich eine Monatskarte bekomme, wenn ich in der Ausbildung bin? Und wie viele Tage in der Woche ich dann in die Schule gehe, damit ich entscheiden kann, wo ich eine Wohnung suchen könnte?" Ein erfolgreiches Praktikum und der anschließende Ausbildungsvertrag konnten nicht verhindern, dass sich Depression und Posttraumatische Belastungsstörung durchsetzten und der Mut zum ersten Schritt in ein selbständiges Leben den jungen Mann verließ: das sind traurige Enttäuschungen für den Betroffenen, aber auch für alle, die sich sehr bemüht haben um ihn: "Nein, ich kann heute nicht zu meiner Ausbildung gehen. Ich bin zu müde für all das. Die Probleme meiner Freunde sind ständig nah. Ich habe so viel auf mich genommen, um meiner Familie zu helfen, aber ich habe versagt. Jetzt muss ich ins Krankenhaus, mein Bein muss untersucht werden. Endlich habe ich einen Termin dafür, das Sozialamt bezahlt das MRT. Ich kann das nicht verschieben. Ja, es kann sein, dass der Chef mich dann rausschmeißt. Schon in der ersten Woche der Ausbildung. Aber die alte Schussverletzung schmerzt mich, ich warte seit zwei Jahren auf Hilfe. Was soll ich machen? Dann gehe ich eben wieder zur Schule im September. Ich werde zuerst zum Arzt gehen, dann spreche ich nochmal mit dem Chef." Das vorläufige Ende einer anstrengenden Arbeit, ungewiss der Erfolg: "Lieber Ullrich, lieber Oskar, anbei die Klagebegründung von N.N. … Es folgen Anlagen mit der Post sowie der Prozesskostenhilfeantrag." Fünfzehn Mal habe ich so die Lebensgeschichten der Afghanen vor Ort zu ihren Rechtsanwälten geschickt. Sie sind die Ergänzungen und Korrekturen zu ihrer Anhörung im Asylverfahren, das lapidar abgelehnt worden war. Mit den immer gleich lautenden Hinweisen, es sei nicht genügend Krieg in Afghanistan, dort gäbe es sichere Gebiete, man sei ein gesunder junger arbeitsfähiger Mann… Die Lebens- und Fluchtgeschichten wohnen nun in mir; es war eine lange Zeit, die ich für jeden Einzelnen benötigte, um trotz der bruchstückhaften Sprachkenntnisse das ihnen Wichtigste aufzunehmen, zu sortieren, aufzuschreiben. Ich bin sehr erleichtert, dass das nun endlich geschafft ist. Ob es allerdings den erhofften Erfolg haben wird, nämlich eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland zu erhalten, hängt von vielen anderen Faktoren auch noch ab und wir wissen es alle noch nicht. Unter anderem natürlich auch vom weiteren Protest gegen die Abschiebungen in das Kriegsland Afghanistan. Ein Ferienticket und die Ferienschule für Geflüchtete als Medizin gegen die tödliche Langeweile: In den Ferien gelten die Monatskarten der Schüler nicht. Sie fühlen sich gefangen in unserer Kleinstadt, kostet das Tagesticket mit dem Zug doch gleich fast 10 € in die nächste Stadt. Wenn man von 320 € Taschengeld minus 50 € Raten an den Rechtsanwalt leben muss, ist das viel im Laufe von sechs strukturarmen Wochen Sommerferien. Deshalb haben drei der jungen Männer uns gebeten, ob wir ihnen das Geld für ein Ferienticket geben können, damit sie sich Baden-Württemberg ansehen können. Es kostet 32 Euro pro Person und macht die drei glücklich. Zweimal in der Woche kommen sie eifrig am Vormittag zur "Ferienschule", also Deutsch sprechen im Garten des Lebenshauses. Danach machen sie sich auf in Städte wie Tübingen, Stuttgart und Ulm. Obwohl ihr Geld kaum für ein Eis unterwegs reicht, sind sie dankbar und stolz für die vielen kostenlosen Erfahrungen bei den Erkundungen. Und einer hat sich ein Abonnement in der Stadt für ein Fitnessstudio geleistet. Es ist günstig, aber wie dorthin kommen, ohne Fahrkarte in den Sommerferien? Und das Geld reicht auch nicht, um jedes Mal 50 Cent fürs Duschen aufzubringen. Also hat er sich unter die Pfandflaschensammler gesellt. Da springt dann vielleicht das Duschgeld raus. Vielen Dank für jede Unterstützung, die uns die Arbeit für das Lebenshaus ermöglicht und erleichtert! Es hilft, solidarische Menschen im Rücken zu wissen, die dauerhaft dranbleiben, über jede einzelne Enttäuschung hinweg und hinein in jede Freude. FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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