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Der Kampf um Wyhl

Von Wolfgang Sternstein

Es fällt schwer, sich die sozialen Bewegungen aus der deutschen Nachkriegsgeschichte wegzudenken. Wo wären wir heute, hätte es die Bürgerinitiativen-, die Anti-AKW-, die Frauen-, die Ökologie-, die Alternativ-, die Dritte-Welt- und die Friedensbewegung nicht gegeben? Für mich sind sie Ausdruck einer lebendigen Demokratie. In Verbindung mit der Studentenrevolte von 1968 sind sie ein Indiz dafür, dass wir Deutsche uns die Demokratie, die uns die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg in den Schoß legten, weitgehend angeeignet haben. Der zivile Ungehorsam als Aktionsform spielt in diesen Bewegungen eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Die Geschichte der neuen sozialen Bewegungen beginnt mit Wyhl, einem kleinen Dörfchen am Oberrhein in der Nähe des Kaiserstuhls. Dort sollte 1975 ein Atomkraftwerk errichtet werden, das von der Bevölkerung der Region jedoch vehement abgelehnt wurde. Die Winzer und Bauern sahen ihre wirtschaftliche Existenz gefährdet. Sie fürchteten um die Qualität ihrer Sonderkulturen durch das Atomkraftwerk und die geplante Industrieansiedlung in seinem Gefolge. Im Laufe der Auseinandersetzung traten die Gefahren der zivilen Nutzung der Atomkraft aber mehr und mehr in den Vordergrund.

Ursprünglich sollte das Atomkraftwerk bei Breisach errichtet werden, was verhindert werden konnte. Bei Marckolsheim auf der Wyhl gegenüber liegenden Rheinseite war der Bau eines Bleichemiewerks geplant, der durch eine gewaltfreie Bauplatzbesetzung verhindert wurde. Doch damit nicht genug. In Kaiseraugst bei Basel sollte ein Atomkraftwerk gebaut werden. Auch dort konnte das Projekt durch eine Bauplatzbesetzung verhindert werden. Diese Erfolge wurden zum Vorbild für die Platzbesetzungsversuche bei den Atomkraftwerken Brokdorf und Grohnde, die letztlich scheiterten, sowie bei den Standorten für eine Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben und Wackersdorf, die erfolgreich waren.

In Wyhl gab es schon bald nach der Bekanntgabe des Standorts durch die Landesregierung heftige Proteste in der Region. Es gab zahlreiche Protestveranstaltungen und Kundgebungen sowie eine Unterschriftensammlung mit 90.000 Unterschriften. Mehrere Gemeinden und Einzelpersonen klagten vor dem Verwaltungsgericht Freiburg gegen das Projekt.

Die Träger des Widerstands waren 21 badisch-elsässische Bürgerinitiativen, deren Zahl im Laufe des Kampfes auf über 50 anwuchs. Es gab sie in fast jedem Dorf und jeder Kleinstadt in der Region, selbst im 30 Kilometer entfernten Freiburg. Die Bürgerinitiativen hatten angekündigt, sie würden den Bauplatz besetzen, falls mit den Bauarbeiten vor dem Gerichtsentscheid begonnen würde.

Die Landesregierung und die Betreiberin, die Kernkraftwerk Süd GmbH, hatten es jedoch eilig. Sie wollten noch im Winter mit dem Bau beginnen. Sie errichteten eine gewaltige Drohkulisse. Empfindliche Strafen und Schadenersatzforderungen wurden angedroht, falls der Bauplatz widerrechtlich betreten und die Bauarbeiten behindert würden. So kam es, dass am 17. Februar 1975 die ersten Baumaschinen in den Auewald am Rhein rollten und mit den Erdarbeiten begannen. Waldarbeiter schlugen eine Lichtung in den Wald.

Die Besetzung beginnt

Am Tag darauf wagte es ein kleines Häufchen von Studenten und BürgerInnen aus den umliegenden Gemeinden, den Platz zu betreten und die Einstellung der Bauarbeiten zu erzwingen, indem sie in den Schwenkbereich der Bagger traten oder sich vor die Bäume stellten, die gefällt werden sollten.

Die Landesregierung unter Ministerpräsident Hans Filbinger nahm das nicht hin. Sie ließ nach zwei Tagen den Platz von einem riesigen Polizeiaufgebot räumen. Dabei wurde auch ein Wasserwerfer eingesetzt. Zufällig war ein Kamerateam der ARD vor Ort und filmte den Polizeieinsatz. Dieser Film lief zur besten Sendezeit nach den Abendnachrichten über den Sender und löste bundesweit einen Schock aus. Das war der Startschuss für die Anti-AKW-Bewegung in der Bundesrepublik, die bis heute lebendig ist. Ohne Wyhl hätte es sie in der Form, wie wir sie kennen, nicht gegeben.

Drei Tage nach der Räumung des Bauplatzes durch die Polizei gelang es den Bürgerinitiativen nach einer Großkundgebung mit 10.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, den Platz zurückzuerobern, obwohl er von der Polizei verteidigt wurde. Es kam zu blutigen Auseinandersetzungen. Der Schlagstock wurde eingesetzt. Daraufhin griffen die Bauern und Winzer vom Kaiserstuhl in ohnmächtigem Zorn zu Steinen und warfen sie auf die Polizisten. Es gab Verletzte auf beiden Seiten.

Der Konflikt um das AKW Wyhl war aber auch die Geburtsstunde einer neuen Polizeistrategie, der so genannten "Stuttgarter Linie", die bis zum 30. September 2010, dem Schwarzen Donnerstag, galt. Im Wesentlichen besteht sie darin, dass die Polizei sich verpflichtete, bei gewaltfreien Aktionen des zivilen Ungehorsams keine Gewaltmittel einzusetzen. Am Schwarzen Donnerstag setzte die Polizei jedoch Wasserwerfer, Schlagstock und Pfefferspray gegen die Demonstranten ein, die sich der polizeilichen Aufforderung widersetzten, den Schlossgarten zu räumen, weil sie die Parkbäume schützen wollten. Viele Demonstrantinnen und Demonstranten wurden durch Pfefferspray verletzt, einige durch den Strahl des Wasserwerfers schwer.

Zurück zu Wyhl. Nach der Eroberung des Bauplatzes durch die Bürgerinitiativen wagte es die Landesregierung nicht, den Platz erneut räumen zu lassen, weil sie einen regelrechten Volksaufstand befürchtete. Sie bot den Bürgerinitiativen Verhandlungen an unter der Bedingung, dass zuvor der von Aktivisten Tag und Nacht besetzte Bauplatz freiwillig geräumt wurde. Dieses Angebot führte zu einer Zerreißprobe in der Widerstandsbewegung, denn viele Widerständler sahen darin eine Falle. Sie fürchteten, die Landesregierung und die Betreiber könnten wortbrüchig werden und die Fortsetzung der Bauarbeiten unter Polizeischutz erzwingen, nachdem die Bürgerinitiativen den Platz aufgegeben hätten. Sie sahen im besetzten Platz ein Faustpfand, um das Atomkraftwerk zu verhindern. Nach heftigen Auseinandersetzungen in und zwischen den Bürgerinitiativen entschied sich die Delegiertenversammlung der Bürgerinitiativen im Herbst 1975 für die Annahme des Verhandlungsangebots.

Verhandlungen

Die Sache ist nicht ohne Delikatesse. Man muss es sich einmal bildlich vorstellen: Da saßen der Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion und spätere Ministerpräsident Lothar Späth, der Wirtschaftsminister des Landes Baden-Württemberg und hohe Beamte sowie die Vertreter der Betreiberfirma auf der einen Seite und die gewählten Vertreter der Bürgerinitiativen, die den Bauplatz widerrechtlich besetzt und ein halbes Jahr lang besetzt gehalten hatten, darunter ein waschechter Kommunist aus dem Wyhl benachbarten Dorf Weisweil, auf der anderen Seite des Verhandlungstisches einander gegenüber und suchten gemeinsam nach einer Lösung des Konflikts.

Das Ergebnis der Verhandlungen war die so genannte Offenburger Vereinbarung, die den Forderungen der Bürgerinitiativen weit entgegen kam. Unter anderem fand sich darin ein Paragraf, der kurz und bündig bestimmte: "Sämtliche Straf- und Zivilverfahren werden eingestellt". So schön und erfolgreich läuft es freilich nicht immer. Zum zivilen Ungehorsam gehört meiner Meinung nach grundsätzlich die Bereitschaft, den Preis zu zahlen, den die Gesetzesübertretung nun einmal kostet.

Fazit: Ohne Wyhl hätte es die Anti-AKW-Bewegung in der Form, wie wir sie kennen, wohl kaum gegeben. Der Impuls, der davon ausging, reicht sogar weit über die Anti-AKW-Bewegung hinaus. Er inspirierte den gewaltfreien Widerstand gegen die Raketenstationierung  zu Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts sowie den Widerstand gegen Stuttgart 21.

Dr. Wolfgang Sternstein ist Friedens- und Konfliktforscher mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis der gewaltfreien Aktion. Er kam als Wissenschaftler nach Wyhl, schloss sich aber schon bald der Widerstandsbewegung gegen das Atomkraftwerk an. In seiner Autobiografie "Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit" berichtet er ausführlich über den "Kampf um Wyhl".

Quelle: FriedensForum 2/2011.

Veröffentlicht am

23. April 2011

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