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Lob der Widerstandskraft

Historische Outlaws sollten uns ein Vorbild sein.

Der mit renommierten Preisen für seine Dokumentarfilme und bahnbrechenden Enthüllungen ausgezeichnete australische Journalist John Pilger lässt uns einen Blick in seine Familiengeschichte werfen. Seine Vorfahren: rebellische Sträflinge und Outlaws, die man aus Großbritannien in die australische Kolonie verschickt hatte. In Pilgers Augen sind seine Ururgroßeltern dennoch alles andere als ein Schandfleck. Vielmehr taugen ihre Widerspenstigkeit und Zähigkeit gerade in unserer stromlinienförmigen, gleichgeschalteten Gesellschaft zum Vorbild. 

Von John Pilger

Wie jede Kolonialgesellschaft hat auch Australien seine Geheimnisse. So liegt die Art und Weise, wie wir mit indigenen Völkern umgehen, zum großen Teil noch immer im Dunkeln. Lange Zeit war der Umstand, dass viele Australier, wie man so sagt, "schlechtes Blut" hatten, ein wohlgehütetes Geheimnis.

"Schlechtes Blut" hieß, dass man Sträflinge unter seinen Vorfahren hatte. Dazu gehörte auch meine Ururgroßmutter Mary Palmer, die 1823 hier ins Female-Factory-Gefängnis gesperrt worden war.

Dem Geschwätz zufolge, das zahlreiche Tanten - zerfressen vom Ehrgeiz, im gutbürgerlichen Milieu Fuß zu fassen - verbreitet hatten, waren Mary Palmer und ihr Ehemann Francis McCarthy ein viktorianisches Ehepaar comme il faut, das es zu einigem Wohlstand gebracht hatte.

In Wahrheit jedoch war Mary das jüngste Mitglied einer Bande wilder junger, größtenteils irischer Frauen, die im Londoner East-End-Stadtteil aktiv war. Die Gang war als "The Ruffians" ("Die Rüpel") bekannt und hielt sich mit Prostitution und Gelegenheitsdiebstahl über Wasser.

Schließlich aber wurden die Ruffians festgenommen, vor Gericht gestellt und gehängt - alle bis auf Mary, die man verschonte, da sie schwanger war.

Mit gerade einmal 16 Jahren wurde sie im Laderaum der Lord Sidmouth in Ketten gelegt und nach New South Wales verschifft, dort sollte sie "den Rest ihres Lebens verbringen", wie der Richter anordnete.

Die Reise dauerte insgesamt fünf Monate und muss die reinste Hölle an Krankheiten und Verzweiflung gewesen sein. Ich selber weiß, im welchem Zustand Mary damals gewesen sein muss, da ich vor einigen Jahren auf ein außergewöhnliches Ritual der Saint Mary Kathedrale von Sydney aufmerksam wurde.

Jeden Donnerstag verliest dort in der Sakristei eine Nonne das Register der irisch-katholischen Strafgefangenen. Dort aufgeführt ist auch Mary, die als "kaum größer als vier Fuß, ausgemergelt und pockennarbig" beschrieben wird.

Als Marys Schiff in der Sydney-Cove-Bucht andockte, wollte sie niemand als Dienerin oder Hausmädchen haben. Sie war eine "drittklassige" Gefangene, noch dazu eine "vom aufbrausenden irischen Schlag". Ob ihr Neugeborenes die Reise überlebt hat? Ich weiß es nicht.

Also brachten man sie in die Female Factory am Parramatta Fluss, die sich als eine der Einrichtungen auszeichnete, in denen die viktorianischen Strafvollzugsexperten ihre aufregenden neuen Theorien in der Praxis ausprobierten. 1823, dem Jahr von Marys Ankunft, war gerade die Tretmühle eingeführt worden, ein Gerät zur Bestrafung und Folter.

Im Cumberland Pilgrim wurde die Female Factory als "erschreckend abscheulich" beschrieben: "Allein schon der Sportplatz dort erinnert einen an das Tal des Schattens des Todes."

Als sie in der Nacht dort ankam, hatte Mary zum Schlafen nichts weiter als ein paar Bretter, Steine und Stroh, dazu schmutzige, mit Zecken und Spinnen durchsetzte Wolle. Alle Frauen saßen in Einzelhaft. Man rasierte ihre Köpfe und sperrte sie in völliger Dunkelheit ein. Einzig das Surren der Mücken leistete ihnen Gesellschaft.

In der Female Factory unterschied man nicht nach Alter oder Art der begangenen Verbrechen. Mary und die anderen Frauen nannte man einfach die "Widerspenstigen". Mit einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung beschrieb der damalige Generalbundesanwalt Roger Terry, wie die Frauen Soldaten, die man einmal zu ihnen geschickt hatte, um einen Aufstand niederzuschlagen, mit "Salven von Steinen und Stöcken verjagt" hatten. Mehr als einmal durchbrachen sie die Sandsteinmauern und stürmten die Gemeinde von Parramatta.

Mit Missionaren, die man aus England geschickt hatte, um die Seelen der Frauen zu retten, machten sie gleichfalls kurzen Prozess.

Ich bin so stolz auf sie.

Außerdem gab es noch den "Tag der Brautschau". Das hieß, dass sich einmal pro Woche "einsame Herren" (wer auch immer das war) eine Frau aussuchen durften. Danach waren die Soldaten an der Reihe und zu guter Letzt die männlichen Sträflinge.

Einige der Frauen putzten sich, so gut es ging, heraus, in der Hoffnung, einer der Männer würde sie von ihrem Elend erlösen. Andere wiederum wandten sich ab, wenn sich ein Anwärter als "einer dieser Eukalyptus kauenden Hinterwäldler" entpuppte.

Währenddessen zählte eine Aufseherin lautstark die "guten Eigenschaften" einer jeden Frau auf, was natürlich eine wahre Offenbarung für alle Anwesenden war.

Auf diese Weise begegneten sich meine Ururgroßeltern. Ich denke, sie passten gut zusammen.
Francis McCarthy war aus Irland verschleppt worden, weil er seinen Gutsherrn mit "ungesetzlichen Flüchen" belegt hatte. So hatte man damals nämlich die Märtyrer von Tolpuddle bestraft.

Auch auf ihn bin ich so stolz.

Mary und Francis heirateten am 9. November 1823 in der Saint-Mary’s-Kirche, der späteren Saint-Mary’s-Kathedrale, zusammen mit vier weiteren Sträflingspaaren. Nach acht Jahren wurden sie entlassen, wobei Mary von einem gewissen Colonal Snodgrass, dem Generalkapitän von New South Wales, die Auflage erhielt, dass sie niemals die Kolonie verlassen dürfe.

Mary gebar Francis zehn Kinder. Sie hatten ein hartes Leben und erreichten - allen Berichten nach geliebt und respektiert - ihr neunzigstes Lebensjahr.

Meine Mutter wusste um das Geheimnis von Mary und Francis. An ihrem Hochzeitstag im Jahre 1922, und ihrer Familie zum Trotz, besuchte sie zusammen mit meinem Vater die ehemalige Gefängnisanlage, um Mary und den anderen Widerspenstigen Tribut zu zollen. Sie war stolz auf ihr "schlechtes Blut".

Manchmal frage ich mich: Wo findet man heute eine solche Geisteshaltung? Wo findet man das Temperament der Widerspenstigen bei jenen, die behaupten, uns zu repräsentieren, oder denen, die träge und stillschweigend die konzerngesteuerte Einförmigkeit akzeptieren, die so charakteristisch für die moderne Ära der sogenannten entwickelten Länder ist?

Wo sind jene abgeblieben, die bereit sind, "ungesetzliche Flüche" auszustoßen und sich mit der Obrigkeit und jenen Scharlatanen in der Regierung anzulegen, die den Krieg glorifizieren und sich Feinde im Ausland ausdenken, die jedweden Widerspruch kriminalisieren und schutzlose Flüchtlinge, die versuchen, in unser Land zu gelangen, für ihre Zwecke missbrauchen und als "Illegale" diffamieren?

Mary Palmer war "illegal". Francis McCarthy war "illegal". All die Frauen, die die Female Factory überlebten und sich gegen die Obrigkeit zur Wehr setzten, waren "illegal".

Die Erinnerung an ihren Mut und ihre Zähigkeit und ihren Widerstand sollte geehrt und nicht verleumdet werden durch unsere gegenwärtige Gesellschaft. Denn nur wenn wir uns der Einzigartigkeit unserer Vergangenheit gewahr werden - sowohl der Vergangenheit unserer indigenen Vorfahren als auch unserer stolzen Sträflingsvergangenheit - wird diese Nation zu ihrer wahren Unabhängigkeit gelangen.

John Pilger, gebürtiger Australier, war viele Jahre Auslandskorrespondent und Kriegsreporter und ist heute Autor und Dokumentarfilmer. Er hat zahlreiche internationale Preise gewonnen, darunter die Goldmedaille der United Nations Association. Er ist einer von nur zwei Journalisten, die zweimal zum "Journalist of the Year", der höchsten Auszeichnung im britischen Journalismus, ernannt wurden. Seinen Dokumentarfilm "Cambodia Year Zero" aus dem Jahr 1979 zählt das British Film Institute zu den zehn wichtigsten Dokumentationen des 20. Jahrhunderts. Sein aktueller Film ist "The Coming War on China".

Quelle: Rubikon - 01.08.2018. Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz ( Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International ) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen. Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel "John Pilger on a hidden history of the women who rose up" . Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.

Veröffentlicht am

13. August 2018

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