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Wo Ziviler Ungehorsam zur Pflicht wird

Gewaltfreier Widerstand gegenüber staatlichen Autoritäten ist nötig, um Unrecht innerhalb eines Rechtsstaats sichtbar zu machen.

Von Romano Paganini

Mit einer Protestaktion verhinderte eine junge Schwedin am 23. Juli den Start eines Flugzeugs, mit dem ein 52-jähriger Afghane aus Göteborg in sein Heimatland zurückgeschafft werden sollte. Die 21-jährige Studentin Elin Ersson weigerte sich, im Flugzeug von Göteborg nach Istanbul Platz zu nehmen. "In Afghanistan herrscht Krieg und der Mann wird möglicherweise getötet", sagte Ersson in die Kamera ihres Handys und streamte das Video live bei Facebook. Die Schwedin blieb so lange im Gang stehen, bis die Polizei den Mann aus dem Flugzeug holte. Danach verließ sie die Maschine ebenfalls.

Nur eine Woche später eine ähnliche Situation, diesmal im Flugzeug von Helsinki nach Berlin : Aino Pennanen, juristische Mitarbeiterin der grünen Fraktion Vihreät im finnischen Parlament, war mit ihrer Familie auf dem Weg in die Ferien. Da bemerkte sie, dass im hinteren Teil des Flugzeugs eine Person sitzt, die ausgeschafft werden sollte. Pennanen stand auf, filmte wie Ersson die Aktion, musste am Ende jedoch kapitulieren. Der Kapitän der staatlichen Finnair verlangte, dass die Polizei Pennanen aus dem Flugzeug bringt.

Rückzug aus Selbstschutz

Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Dieser Satz stammt von einem Theaterregisseur, dessen Bücher vom Staat verbrannt wurden und der auf Grund seiner politischen Haltung flüchten musste. Was Bertolt Brecht in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg widerfuhr, dürfte Ersson und Pennanen nicht passieren. Doch wie alle Menschen, die sich in Zeiten des Umbruchs für Schwächere einsetzen - gerade wenn es um Menschen aus anderen Kulturkreisen geht - wurden auch sie angefeindet und beschimpft. Ersson, deren Video im Internet millionenfach aufgerufen wurde und in den Onlinemedien weltweit für Schlagzeilen sorgte, hatte sich kurz nach ihrer Aktion von Facebook, Twitter und Instagram zurückgezogen. Vorübergehend und aus Selbstschutz. Rassismus und Aggression gegenüber Andersdenkenden gibt es auch auf Schwedisch.

Dabei müsste gerade jener Teil der Gesellschaft, dessen Wahrnehmung durch Unsicherheit geprägt ist, dankbar sein für den Mut der beiden Frauen. Denn was Ersson und Pennanen taten, war nichts weiter, als auf Unrecht innerhalb eines Rechtsstaates hinzuweisen. Oder lässt sich die Ausschaffung eines Menschen in ein Kriegsgebiet irgendwie rechtfertigen?

Der Bruch mit der Norm

Der Zivile Ungehorsam ist eines der letzten Mittel, um gewaltfrei auf Unrecht aufmerksam zu machen. Er bringt Dinge auf den Punkt, die vorher keinen Namen hatten und ist Ausdruck von Empathie mit Schwächeren in Form von konkreten Protestaktionen. Wer ihn ausübt, setzt sich nicht nur physisch dem staatlichen Sicherheitsapparat aus - namentlich Polizei und Armee -, sondern er bricht auch mit der gesellschaftlichen Norm. Denn Ziviler Ungehorsam befördert unter anderem Missstände ans Licht, die von breiten Teilen der Gesellschaft nicht gesehen werden oder nicht gesehen werden wollen, sprich: akzeptiert sind. Im Falle von Ersson und Pennanen ist dies die herrschende Asylpraxis in ihren Ländern.

Ignorieren kann man diese Form des politischen Protests nicht - unabhängig davon, wie man zu ihm steht. Wer den Mut und die Überzeugung aufbringt, sich gewaltfrei zu wehren, um eine Drittperson zu schützen, verdient es, von anderen gehört zu werden. Ziviler Ungehorsam kommt in der Regel erst dann zum Einsatz, wenn sich die Betroffenen politisch oder juristisch kein Gehör verschaffen konnten und deshalb im Widerstand die letzte Chance sehen, Öffentlichkeit zu erzeugen für ein Problem.

Zivilisation sieht anders aus

In einem Rechtsstaat müssen die Rechte immer wieder aufs Neue verteidigt werden - insbesondere dann, wenn dieser seine Gesichtszüge zu verlieren droht. Das Anliegen der beiden Frauen geht jedenfalls nicht nur Schweden oder Finnland etwas an. Es betrifft sämtliche europäischen Staaten und ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Solange sich diese nicht öffentlich gegen die zunehmende Ausgrenzung und den grassierenden Rassismus stark machen und damit einen anderen Umgang mit Fremdem erwirken, solange braucht es den Zivilen Ungehorsam. Spontan oder organisiert, alleine oder in Gruppen. Sei es im Flugzeug oder im Zug, an den Grenzposten oder bei rassistisch motivierten Polizeikontrollen (Racial Profiling) auf der Straße, in Schulen und an Universitäten sowie in den Asylunterkünften und Ausschaffungs-Gefängnissen. Eine Form des Zivilen Ungehorsams kann auch sein, wenn Mann oder Frau Flüchtlinge bei sich Zuhause aufnimmt.

Die gewaltfreie Konfrontation ist nötig, um die Barbarei - also den unzivilisierten Zustand - innerhalb einer Gemeinschaft sichtbar zu machen. Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Ansonsten gewöhnt sich die Gesellschaft Schritt für Schritt an eine Normalität, die Menschenwürde und Respekt ignoriert - und deshalb in einem demokratisch organisierten Staat keinen Platz hat. Wenn jene Spannkraft ethischer Grundsätze nachlässt, die eine Gesellschaft eint und zusammenhält, drohen nicht nur die erkämpften Rechte vergangener Generationen verloren zu gehen. Es bleibt auch der Charakter dessen auf der Strecke, was in Europa unter Zivilisation verstanden wird.

Romano Paganini lebt in Lateinamerika und betreibt von dort aus unter anderem die Website mutantia.ch .

Quelle: Infosperber.ch - 11.10.2018. Dieser Beitrag erschien zuerst auf mutantia.ch .

Weblinks:

Veröffentlicht am

12. Oktober 2018

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