Aufruf aus Israel: Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus sind nicht das GleicheIsraelische Intellektuelle wenden sich gegen Ausrichtung der Wiener Antisemitismus-Konferenz.Mit einem außergewöhnlichen Aufruf haben sich am Montag 34 israelische Akademikerinnen und Künstler kritisch gegen eine heute stattfindende Konferenz in Wien zu Wort gemeldet. Die österreichische Regierung hatte als Veranstalterin angekündigt: "Antisemitismus und Antizionismus stellen für Teile unseres heutigen Europas nach wie vor eine deutlich spürbare Plage dar, die das Leben der jüdischen Gemeinschaft in den Ländern der EU und das allgemeine Wohl in Europa bedroht. […] Sehr häufig findet Antisemitismus Ausdruck in übertriebener und unverhältnismäßiger Kritik am Staat Israel." Gegen die Gleichsetzung von Kritik an israelischer Regierungspolitik und Antisemitismus wenden sich die Unterzeichner*innen des Briefes mit ihren Forderungen. Bemerkenswert ist der Aufruf unter anderem deshalb, weil sich damit jüdische Stimmen in die Debatte einschalten, von denen die Mehrzahl bisher nicht durch ihren politischen Aktivismus von sich Reden gemacht hat. Ihre Glaubwürdigkeit speist sich aus ihren Verdiensten als Bürger*innen des Staates Israel (darunter mehrere Träger*innen des renommierten Israel-Preises) und aus ihrem international anerkannten akademischen Renommee in der Erforschung und Lehre u. a. der jüdischen Geschichte, Philosophie und Holocaust-Studien. Mit ihrer Kritik wenden sie sich gegen die israelische Regierung, als deren politisch bedeutendster Vertreter auch Benjamin Netanjahu nach Österreich eingeladen war, und deren Alleinvertretungsanspruch für alle Jüdinnen und Juden weltweit. Durch ihre Verteidigung der Unterscheidung zwischen Israel als Staat und dem Judentum als (Glaubens-)Gemeinschaft erteilen sie auch der politisch motivierten Gleichsetzung von Besatzungskritik und Antizionismus mit dem Antisemitismus eine deutliche und begründete Absage. Es ist ein erklärtes Ziel der österreichischen Regierung, die Antisemitismusdefinition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) möglichst europaweit zur Grundlage von Entscheidungen in Politik und Verwaltung zu machen. Die deutsche Bundesregierung hat bereits im September 2017 beschlossen, die wegen ihres vagen Charakters nicht unumstrittene Definition anzunehmen, verbunden mit der Empfehlung, sie zur Grundlage in den Bereichen Bildung, Justiz und Polizei zu machen. Felix Klein, seinerzeit noch Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Beziehungen zu jüdischen Organisationen und heutzutage Beauftragter für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, gab damals als Ziel an, alle OECD-Staaten auf die IHRA-Definition zu verpflichten. Voraussichtlich wird am 22. November in Leipzig der Stadtrat auf Antrag von SPD, CDU und Grünen qua Beschluss genau die Vermischung zur offiziellen Handlungsanweisung erheben, vor der im nachstehenden Aufruf eindringlich gewarnt wird. Riad Othman AufrufZu Europa sagen wir: Vermischt Kritik an Israel nicht mit AntisemitismusIm Kontext ihres EU-Ratsvorsitzes wird die österreichische Regierung am 21. November eine hochrangig besetzte Konferenz unter dem Titel "Europa jenseits von Antisemitismus und Antizionismus - Sicherung jüdischen Lebens in Europa" abhalten. Wir unterstützen voll und ganz den kompromisslosen Kampf der EU gegen Antisemitismus. Das Erstarken des Antisemitismus erfüllt uns mit Sorge. Aus der Geschichte wissen wir, dass es oft Vorbote von Katastrophen für die gesamte Menschheit war. Das Erstarken des Antisemitismus ist eine reelle Gefahr und sollte der gegenwärtigen europäischen Politik ernsthaft zu denken geben. Die EU steht aber auch für Menschenrechte ein und muss diese genauso energisch schützen wie sie den Antisemitismus bekämpft. Die Bekämpfung des Antisemitismus sollte nicht dafür instrumentalisiert werden, legitime Kritik an der israelischen Besatzung und an schweren Verletzungen palästinensischer Menschenrechte zu unterdrücken. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hätte auf der Konferenz in Österreich sprechen sollen, bis er seine Reise absagte, um seine Regierung zu stabilisieren. Er hat hart daran gearbeitet, Kritik am israelischen Staat mit Antisemitismus zu einem zu vermischen. Zu unserer tiefen Besorgnis sehen wir diese Vermischung auch in der offiziellen Ankündigung der Konferenz durch die österreichische Regierung. Dort heißt es: "Antisemitismus findet seinen Ausdruck sehr oft in übertriebener und unverhältnismäßiger Kritik am Staat Israel." Diese Worte geben die Antisemitismusdefinition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) wieder. Mehrere Beispiele für zeitgenössischen Antisemitismus, die sich der Definition anschließen, beziehen sich auf harsche Kritik an Israel. Im Ergebnis kann die Definition gefährlich instrumentalisiert werden, um Israel Immunität gegen Kritik an schwerwiegenden und verbreiteten Menschen- und Völkerrechtsverletzungen zu verschaffen - Kritik, die für legitim erachtet wird, wenn sie sich gegen andere Länder richtet. Das schreckt jedwede Kritik an Israel ab. Die Ankündigung setzt außerdem Antizionismus mit Antisemitismus gleich. Wie allen modernen jüdischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts widersetzten sich jedoch auch dem Zionismus viele Jüdinnen und Juden heftig, ebenso wie nicht-Juden, die nicht antisemitisch waren. Zahlreiche Opfer des Holocaust waren gegen den Zionismus. Demgegenüber unterstützten viele Antisemiten den Zionismus. Es ist unsinnig und unangemessen, Antizionismus automatisch mit Antisemitismus gleichzusetzen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Staat Israel seit über 50 Jahren eine Besatzungsmacht ist. Millionen von Palästinenserinnen und Palästinenser unter Besatzung entbehren ihrer Grundrechte, Freiheit und Würde. Gerade in Zeiten, in denen die israelische Besatzung sich in Annexion verwandelt, ist es notwendiger denn je, dass Europa alle Versuche entschieden ablehnt, die freie Meinungsäußerung anzugreifen oder Kritik an Israel durch die falsche Gleichsetzung mit Antisemitismus zum Schweigen zu bringen. Europa muss dies auch für die eigene Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit ihrer Bekämpfung des Antisemitismus tun. Die Ausweitung dieses Kampfes zum Schutz des israelischen Staates vor Kritik trägt zu der Fehlwahrnehmung bei, dass Jüdinnen und Juden mit Israel gleichzusetzen seien und deshalb verantwortlich für die Handlungen dieses Staates wären. Als israelische Gelehrte, deren Mehrheit jüdische Geschichte erforscht und lehrt, sagen wir zu Europa: Bekämpft den Antisemitismus unnachgiebig, um jüdisches Leben in Europa zu schützen, und ermöglichet, dass es zur Blüte gelangt. Erhaltet dabei die klare Unterscheidung zwischen Kritik am Staat Israel, so harsch sie auch sein möge, und Antisemitismus aufrecht. Vermischt nicht Antizionismus mit Antisemitismus. Und schützt die Rede- und Meinungsfreiheit derjenigen, die die israelische Besatzung ablehnen und darauf bestehen, dass sie endet. Unterzeichner_innen:
Quelle: medico international - 21.11.2018. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|