Was heißt “Fluchtursachen bekämpfen”?Von Sepp Stahl und Gerhard Breidenstein Fluchtursachen bekämpfen wollen eigentlich alle Parteien. Vor allem, um die Opfer der eigenen Politik nicht anschauen zu müssen, wenn diese "plötzlich" vor der Tür stehen. Fluchtursachen-Erzeuger fordern deshalb am eifrigsten deren Bekämpfung. Es müsste nicht nur viel getan, sondern vor allem auch viel Destruktives unterlassen werden, um Menschen in Afrika in die Lage zu versetzen, ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes Leben zu führen. Doch die Antwort der Europäer sind vielfach "Freihandelsverträge", die durch die freiwilligkeitserzwingende Erpressung der afrikanischen Länder zustande kamen. Industriell gefertigte Produkte aus dem Norden überschwemmen die Märkte im Süden und zerstören dort die heimische Agrikultur. Seit einigen Monaten ist beim Thema Migration viel von der Bekämpfung der Fluchtursachen die Rede. Das ist sicher ein besserer Ansatz als die Bekämpfung der Flüchtlinge! Aber diese Aufgabe ist sehr komplex und ohnehin nicht kurzfristig zu lösen. Fluchtbewegungen gibt es schon lange, noch länger bestehen die Fluchtursachen, die Menschen dazu bringen, ihre Heimat, meist auch ihre Familie zu verlassen. Diese Ursachen werden teils in afrikanischen Ländern selbst erzeugt: ethnische Konflikte, religiöser Terrorismus, Diktaturen und ihre Repressionen, interne Ausbeutungsstrukturen, Misswirtschaft, Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit. Viele aber werden von außen, d.h. von Europa und den USA geschaffen oder verschärft: Kriege als Folgen der Kolonialzeit, Terror und Gewalt im Hinblick auf Rohstoffe, ungerechte Handelsbeziehungen, Landraub, Umweltzerstörung und Klimaveränderung. Dabei gehört Deutschland zu den größten Waffen-Exporteuren, gerade auch für Kleinwaffen, die in diesen Konflikten besonders verbreitet sind. Die aus unseren Ländern erzeugten Fluchtursachen sollen in diesem Beitrag näher angesehen werden. Freihandelsabkommen der EU mit afrikanischen Ländern2002 begann die EU, mit 78 AKP-Staaten (Staaten in Afrika, der Karibik und im Pazifik) Abkommen auszuhandeln, die wohlklingend "Wirtschaftspartnerschaftsabkommen" (WPA) oder ebenso heuchlerisch "Freihandelsabkommen" genannt werden. In Afrika verhandelte die EU mit drei Ländergruppen: Südliches Afrika, Ost- und Westafrika. Die Verhandlungen zogen sich mehr als zehn Jahre hin, weil etliche der afrikanischen Länder Widerstand leisteten, verzögerten oder das Regelwerk ganz ablehnten. Tansania z.B. weigerte sich, weil es seine bereits existierende aber noch junge Industrie gefährdet sah und sich nicht auf einen Absatzmarkt für EU-Produkte reduzieren lassen wollte. Daraufhin erhöhte die EU den Druck auf die "Partner", indem sie in neokolonialer Manier androhte, die Entwicklungshilfe zu reduzieren und bisherige Handelserleichterungen ganz zu streichen. So erhob die EU gegen Kenia Einfuhrzölle, d.h. Strafzölle auf Kenianische Produkte, bis Kenia einknickte. 2014 wurden dann alle drei Regionalabkommen unterzeichnet. In Deutschland wiesen Nichtregierungsorganisationen immer wieder daraufhin, dass die Kleinbauern in Afrika - zwei von drei Afrikanern - nicht mit den industriellen Agrarprodukten aus der EU konkurrieren können, die mit Milliarden-Beträgen subventioniert werden (mehr als ein Drittel des EU-Budgets!). Aber alle Warnungen, sogar aus dem Entwicklungshilfe-Ministerium, waren fruchtlos gegenüber dem Primat der neoliberalen Handelspolitik und ihrer Vorstellung von "Freiheit". Die Auswirkungen sollen an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Beispiel GeflügelmarktHühnerschlachtabfälle (Flügel, Hälse, Füße, Innereien, Knochen), die in der EU keinen Absatz finden, aber auch komplettes Geflügel werden in tausenden Tonnen tiefgefroren nach Afrika exportiert. 12.000 Tonnen z.B. nach Togo. Dort konnte ein Farmer mit seiner Familie und 25 Angestellten bisher davon leben, dass er jährlich 30.000 Hühner an Restaurants und Märkte in der Hauptstadt Lome lieferte. Mit den europäischen Ramschpreisen konnte er aber nicht mehr konkurrieren, musste seinen Hof schließen und die Angestellten entlassen. Seit 2010 hat Deutschland seinen Geflügelexport fast verdreifacht (3SAT, 2.12.2016). Beispiel TomatenmarkEin Kleinbauer in Ghana baute Tomaten an. Der Verkauf seiner Tomaten erbrachte seiner Familie gerade genug zum Leben. Aber die afrikanischen Märkte werden mit Tomatenmark aus Süditalien überschwemmt. Die Tomatenbauern in Italien verfügen zusätzlich zu den hohen EU-Subventionen auch über ein unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften, nämlich Flüchtlinge aus Afrika! Von 1998 bis 2013 stiegen die Importe von ausländischem Tomatenmark nach Afrika um das 34-Fache (FAO der UN). Beispiel MilchpulverAllein im Jahr 2016 exportierte die EU nach Burkina Faso, wo es immerhin zehn Millionen Milchkühe gibt, Milchpulver im Wert von 198 Millionen Euro. Aber während die lokale Frischmilch 76 bis 110 Cent pro Liter kostet, müssen für einen Liter Milchpulver-Milch nur 35 Cent bezahlt werden; kein Wunder, dass Milchpulver mit 95 Prozent den Markt beherrscht (German Watch). Beispiel MeeresfischZwischen 2008 und 2015 waren ca. 22.000 Fischerei-Schiffe und schwimmende Fisch-Fabriken zum Fischen in den Außengewässern autorisiert. Dies war in einem entsprechenden Fischerei-Abkommen garantiert. Die Küstengewässer rund um Afrika sind ohnehin schon mehr oder weniger leer gefischt. Ein Fischer aus Senegal wird so zitiert: "Hört auf, unsere Meere leer zu fischen. Wenn wir selbst wieder genügend Fang machen und Ihr uns lehrt, die Fische im Land für den Markt zu verarbeiten, dann muss sich kein Senegalese mehr auf den Weg nach Norden machen." Beispiel BaumwolleAfrika gilt als Baumwoll-Kontinent und in Afrika wuchs Burkina Faso zum größten afrikanischen Baumwoll-Erzeuger heran. Die dortigen Bauern lieferten auf den Weltmarkt ein Kilo Baumwolle für 1,12 US-Dollar, während die Baumwollfarmer der USA zunächst nur für 1,51 Dollar produzieren und verkaufen konnten. Aber unter Bill Clinton zahlte dann die US-Regierung ihren 20.000 Baumwoll-Farmern jährlich Hunderte Millionen Subventionen. Daraufhin konnten die zehn Millionen afrikanischen Baumwoll-Bauern auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrieren. Beispiel LandgrabbingIn Afrika vollzieht sich in erschreckendem Ausmaß Landgrabbing, also das Aufkaufen von großen Landflächen durch ausländische Industrie- und Agrar-Konzerne, Investmentfonds, internationale Banken wie auch chinesische Institutionen. Die britische Hilfsorganisation Oxfam schätzt, dass im vergangenen Jahrzehnt ca. 220 Millionen Hektar an fruchtbarstem Boden von ausländischen Landkäufern erworben wurden, eine Fläche so groß wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Belgien, Holland, Spanien und Italien zusammen. Sie kaufen oder pachten riesige Ländereien für den Anbau von Palmöl oder Pflanzen für Treibstoff-Produktion. Hirten, Nomaden, Kleinbauern, LandarbeiterInnen verlieren so den für ihre Ernährungsgrundlage wichtigen Zugang zu Land. Enteignungen und Vertreibungen vernichten ganze Dörfer und treiben Millionen Menschen in Armut bzw. Abhängigkeit von externer Nahrungsmittelhilfe. Fluchtursache KlimaveränderungDie Klimaveränderung, die wir Menschen und zwar vor allem in den Industriestaaten verursachen, hat immer mehr Dürren und Fluten und Wetterkatastrophen zur Folge. Das entwurzelt und vertreibt Millionen Menschen gerade in Afrika, sodass sie im eigenen Land, in Nachbarländern oder unterwegs nach Europa als Flüchtlinge in riesigen Lagern leben müssen. Die Prognosen im Zusammenhang der Klimaveränderung sind erschreckend. Sogar der Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) soll gesagt haben: "Wenn wir es nicht schaffen, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, werden in Zukunft 100 Millionen Menschen in Richtung Norden wandern." Die Präsidentin von "Brot für die Welt", Frau Füllkrug-Weitzel: "Der Klimawandel vernichtet Entwicklungserfolge wie kaum eine andere Kraft, und er ist der größte Armutstreiber." KonsequenzenEine deutliche Reduzierung und schließlich die Abschaffung der Agrarsubventionen, wie sie im Rahmen der UNO und den "Doha-Entwicklungsrunden" immer wieder aber erfolglos gefordert werden, wären dringendste erste Schritte. Bei einer Konferenz im Dezember 2015 in Nairobi wurde erstmals von einem schrittweisen Abbau der Export- Subventionen auch in anderen Branchen gesprochen. Allerdings stoßen solche Pläne auf den erbitterten Widerstand des Deutschen Bauernverbandes, der Agrarindustrie sowie der Industrie insgesamt. Die Mittel, die jetzt in die immer militantere Abwehr der Flüchtlinge an Europas Außengrenzen fließen, sollten in eine konsequente Bekämpfung der in den Herkunftsländern liegenden Fluchtursachen investiert werden. Dabei wird es aber nicht genügen, für ein paar hundert oder tausend Jugendliche örtliche Berufsausbildungen zu schaffen, wenn gleichzeitig die massiven Ungerechtigkeiten in den Handelsbeziehungen und damit die größten Armutsverursacher bestehen bleiben. Für den immensen Investitionsbedarf in die Infrastruktur der afrikanischen Länder mit ihren enormen geografischen Dimensionen bräuchte es einen "Marshallplan für Afrika", der, ähnlich wie der ursprüngliche Marshallplan von 1945 für West-Deutschland, unter Wahrung der Unabhängigkeit aller Beteiligten entsprechende Mittel (z.B. der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds) bereitstellt. Der "Entwicklungsinvestitionsfonds" von 1 Milliarde Euro, wie er von der Bundesregierung bei der Afrika-Konferenz (Ende Oktober 2018 in Berlin) in Aussicht gestellt wurde, dürfte dafür nicht genügen, zumal er vor allem private Investitionen aus Deutschland in Afrika fördern soll. Außerdem waren bezeichnenderweise gerade die ärmsten Länder Afrikas gar nicht eingeladen zu dieser "Compact with Africa"-Konferenz. Und schließlich muss es um die Fluchtursache Klimaveränderung gehen, eine wohl noch größere, komplexere und langwierigere Aufgabe, die andererseits aus vielen weiteren Gründen dringend ist für alle Menschen und Lebewesen bei uns und auf der ganzen Welt. Nur mit Schritten in diese Richtungen könnte es gelingen, die entscheidenden Fluchtursachen zu beseitigen, so dass Menschen in Afrika nicht mehr gezwungen sind, eine mühsame, teure und sogar lebensgefährliche Flucht nach Europa anzutreten, weil sie in ihrer Heimat wieder menschenwürdige Lebensbedingungen bekommen. Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 04.12.2018. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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