Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Brauchen wir einen neuen Maschinensturm?

"Ein neuer Menschentyp ist im Begriff zu entstehen, der alles vergessen haben wird, was vor dem Smartphone und dem Tablet war. Wie Lemminge stürzen wir uns von der digitalen Klippe." Kein Zweifel: der homo digitalis ist der Mensch der Zukunft. Ob er noch sapiens (weise, vernunftbegabt) sein wird, kann bezweifelt werden. Der Antrieb, in immer schnelleren Rhythmen immer perfektere Maschinen zu erschaffen, mündet in das Bestreben der Erbauer, selbst durch Angleichung maschinenhaft zu werden. Es ist höchste Zeit, dass sich der Mensch die Kontrolle über die Richtung, in die der Fortschritt marschiert, zurückholt. (Auszug aus dem Buch "Zwischen Anarchismus und Populismus. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus, Band 3" von Götz Eisenberg)

Von Götz Eisenberg

"Und wenn es Wahnwitz ist, und wenn es zwecklos ist. Wir müssen kämpfen, weil wir Menschen sind. Schweigen wir, so sind wir Tiere, die sich stumm ins Joch beugen." (Ernst Toller)

An der Schwelle zur sogenannten digitalen Revolution müssen wir uns entscheiden, ob wir die Kontrolle über unsere Lebensbedingungen vollends verlieren und an Maschinen abtreten wollen, oder ob wir die verselbständigten Prozesse zurückpfeifen und unserem bewussten Willen unterstellen. Wollen wir zulassen, dass Algorithmen uns versklaven und den menschlichen Geist abtöten? Der Internet-Pionier Jaron Lanier nannte die sogenannten Sozialen Netzwerke unlängst "Imperien der Verhaltensmanipulation", und Slavoj Žižek schrieb in seiner Kolumne in der FAZ, er sei der Auffassung, "dass soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook verboten gehören". Der Frankfurter Autor Jürgen Roth geht noch weiter: "Ich behaupte, dass die Erfindung von Internet/Smartphone schlimmer als die Erfindung der Atombombe ist. Das hat den ›Wirklichkeitssinn‹ (W. v. Humboldt/Musil) vollends ausradiert. Welt gibt es nicht mehr. Und danach sieht sie aus. … Wer angesichts des Weltzustandes kein Luddit ist, hat sie nicht mehr alle." Die Schriftstellerin Karen Duve kommentierte meine im Text "The sound of money" enthaltene Aufforderung, das ganze digitale Geraffel wegzuschmeißen, mit dem Satz: "Und ja: weg damit, weg mit diesem ganzen Scheiß!" Einsame Rufer in einer sich ausbreitenden digitalen Wüste.

Wenn man solche Gedankengänge laut werden lässt, bekommt man stereotyp das Argument zu hören, man könne das Rad der Geschichte nun mal nicht zurückdrehen. "Das ist nicht aufzuhalten", höre ich regelmäßig, wenn ich meine Kritik der Digitalisierung vortrage. Das sind Einwände, die zum Verstummen bringen und den Kritiker als naiven Fortschrittsfeind kenntlich machen sollen. Manchmal muss ich an eine soziologische Grundregel erinnern: Alles, was von Menschen gemacht worden ist, kann auch von Menschen geändert werden! Wir haben also die Wahl - jedenfalls im Moment noch. Noch könnten wir Einfluss nehmen und die Digitalisierung nach menschlich-gesellschaftlichen Maßstäben gestalten oder, wenn das nicht möglich ist, zu stoppen. Irgendwann könnte es zu spät sein, nämlich dann, wenn es der Maschinenwelt gelungen ist, die Menschen nach ihrem Bild und ihrer Logik zu formen. Unter dem Stichwort "Selbstoptimierung" sind viele Menschen bereits dabei, sich an das Maschinen-Ideal anzupassen und sich zu Maschinenmenschen zu entwickeln. Die "prometheische Scham" (Günther Anders), die sie angesichts der Perfektion der Maschinen empfinden, treibt sie der Selbstoptimierungs-Industrie in die Arme, die ihnen verspricht, sie in kürzester Zeit selbst in eine makellose Maschine zu verwandeln. Wir werden Zeugen einer anthropologischen Mutation - im Sinne Pasolinis, nicht Darwins: vom Homo sapiens zum Homo digitalis. Ein neuer Menschentyp ist im Begriff zu entstehen, der alles vergessen haben wird, was vor dem Smartphone und dem Tablet war. Wie Lemminge stürzen wir uns von der digitalen Klippe.

Wo neuerdings so viel von "künstlicher Intelligenz" die Rede ist, stellt sich mir die Frage: Sollten wir nicht, bevor wir uns auf die Abenteuer und Unwägbarkeiten der "künstlichen Intelligenz" einlassen, erst einmal die Potenziale unserer "natürlichen Intelligenz" ausschöpfen? Der durchschnittliche Mensch in dieser Gesellschaft lebt und nutzt nur fünf bis fünfzehn Prozent seines Potenzials, schätzte der Begründer der Gestalttherapie Fritz Perls. Perls sprach von einer systematischen Blockierung menschlicher Möglichkeiten durch diese Gesellschaft, die gewisse kapitalistisch verwertbare Fähigkeiten treibhausmäßig entwickele, andere verkümmern lasse. Die Digitalisierung wird dieser Blockierung und Vereinseitigung noch einmal einen kräftigen Schub verpassen. Nur bestimmte Fähigkeiten werden entwickelt, das Nicht-Digitalisierbare bleibt liegen. Was wird aus ihm?

Die sinnliche Dichte der Welt ist im Begriff zu verschwinden; die wahrgenommene Wirklichkeit wird all ihrer sinnlichen Qualitäten entkleidet, kaum noch ist irgendwo leibliche Anwesenheit erforderlich. Der Alltag verödet zusehends, er wird erfahrungsarm und monoton. Alle sind vernetzt und gleichzeitig sind die Menschen durch Abgründe voneinander getrennt und gegeneinander isoliert - digitale Autisten. Die Menschen kommunizieren ununterbrochen, kennen sich nicht und haben sich eigentlich nichts zu sagen.

Wir müssen die Reißleine ziehen, den Generalstreik ausrufen gegen die Überwältigung des Lebendigen durch das Tote, das Maschinell-Mechanische. "Künstliche Intelligenz", Roboter und Algorithmen rauben uns Arbeit, Erfahrung und die Kontrolle über unsere Daseinsbedingungen.

Gesetzt, wir wären der von Marx antizipierte "Verein freier Menschen, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben", dann könnten wir die neuen digitalen Techniken unserer Kontrolle unterstellen und gesellschaftlichen Zielsetzungen dienstbar machen. Ein "Verein freier Menschen" würde in freier Diskussion und nach gründlicher Abwägung aller Argumente darüber entscheiden, welche Techniken und Apparate er zulassen und entwickeln will und auf welche er lieber verzichtet, weil sie die Gefahr der Entmündigung und Entfremdung mit sich bringen. In der Deutschen Ideologie, die im Brüsseler Exil von Marx und Engels geschrieben wurde, heißt es: Im Sozialismus wird es möglich, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden." Alle Apparate und Techniken, die einen solchen Lebensentwurf fördern, sind zu begrüßen, alle, denen die Gefahr innewohnt, die Menschen in sich hineinzuziehen und in Anhängsel zu verwandeln, sind abzulehnen. So einfach ist das oder wäre das, wenn wir ein "Verein freier Menschen" wären und in einer menschlichen Gesellschaft lebten. Als Kriterium dafür, ob etwas zuzulassen oder eher zu unterlassen wäre, hat Herbert Marcuse im Jahr 1970 in einem Gespräch mit Friedrich Hacker formuliert: "Alles, was dem Leben, besonders dem glücklichen Leben dient, ist gut. Reduktion der repressiven Erlebens- und Lebensbedingungen ist schließlich das Ziel der erotischen Instinkte." Und er fügte abschließend hinzu: "Das Kriterium ist das, was lebensbejahend ist, was der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten, menschlichen Glücks und Friedens dient. Ich weiß keine bessere Definition, ich bin einfach nicht gescheit genug." Im Gespräch mit Jürgen Habermas erklärte Marcuse: Das seien Werturteile, die irreduzibel sind. Wer die nicht akzeptiere, mit dem könne er nicht reden: "Wenn jemand nicht weiß, was ein besseres Leben ist, ist er hoffnungslos."

In dem Buch Geschichte und Eigensinn von Oskar Negt und Alexander Kluge findet sich eine englische Karikatur aus dem 19. Jahrhundert, die "Wirkung des Eisenbahnbaus auf die rohe Schöpfung" betitelt ist und Kutscher und Pferde zeigt, die durch den Eisenbahnbau arbeitslos geworden sind und neuartige Eigenschaften entfalten. Die Pferde tanzen und musizieren, während die ehemaligen Kutscher träge herumliegen oder spazieren gehen. Doch die Fortexistenz des kompakt Falschen, sprich der kapitalistischen Produktionsweise, hat gegen diese Karikatur recht behalten: Seit der Erfindung der Eisenbahn und des Automobils sind die Pferde - in unseren Breiten bis auf wenige Ausnahmen - frei und genießen unbeschwert ihr Pferdedasein, während die Kutscher sich als Lohnarbeiter in den Fabriken verdingen mussten oder Fernfahrer wurden. Wenn es uns in nächster Zeit nicht gelingt, die neuen Techniken in vernünftige gesellschaftliche Zielsetzungen einzubinden und unseren Entwürfen unterzuordnen, werden sie uns in ein Volk von Hightech-Fellachen verwandeln.

Gegen diese hochtechnisierte Barbarei müssen Bewegungen initiiert werden, die auf eine Wiederaneignung von Lebens- und Arbeitsbedingungen abzielen. Solche Bewegungen könnten unter anderem Anleihen beim Luddismus machen, der Anfang des 19. Jahrhunderts eine breite Bewegung in England war, die sich gegen die Zerstörung agrarisch-handwerklicher Lebens- und Arbeitsformen durch die Industrialisierung und den Siegeszug der kapitalfixierten Maschinen wandte, die das handwerkliche Können entwerteten und den Menschen ihren Rhythmus aufzwangen. Ernst Toller hat sich während seiner Festungshaft im Zuchthaus Niederschönenfeld mit dem Phänomen des Maschinensturms beschäftigt. Nach eingehendem Quellenstudium verfasste er ein Theaterstück mit dem Titel Der Maschinenstürmer, das uns in die Welt der frühen Fabrikhöllen und das Elend der in sie eingepferchten Menschen versetzt. Toller lässt Ned Ludd, nach dem die Bewegung benannt wurde, sagen: "In ungeheuerliche Knechtschaft will man unsere Leiber zwängen. … Sie wollen uns in Fesseln schlagen. Sie wollen uns schmieden an ein furchtbar Ungeheuer. An eine Mühle, die von Dampf getrieben, den Menschen krallt und schleudert und zu Tode dreht!" Zahlreiche Ludditen wurden wegen Zerstörung von Maschinen zum Tode verurteilt oder nach Australien deportiert.

Die Maschinenstürmer vermochten letztlich den "Fortschritt" nicht aufzuhalten, der nun - rund 200 Jahre später - in Form der Digitalisierung über uns kommt. Die Fabrikhöllen und Knochenmühlen wurden an die Peripherie verbannt, wo sie in der von Toller geschilderten Form fortexistieren. Hierzulande werden die Leute an saubere Arbeitsplätze gekettet, die sie als Hölle nicht mehr erkennen, sondern als Erfüllung ihrer Sehnsucht erleben. In der schönen, neuen Arbeitswelt verschwimmen die Grenzen von Arbeit und Freizeit. Rund zweihundert Jahre, nachdem sich die Produktion aus vorbürgerlichen Lebenszusammenhängen herausgelöst und als abstrakte, kapitalverwertende Arbeit verselbständigt hat, durchdringt die Logik der entbetteten Arbeit und des Geldes alle Lebensbereiche, und es kommt zu einer pervertierten Wiedervereinigung von Arbeit und Leben. Das vom "sozialen Urknall" (Klaus Dörner) der industriellen Revolution zerrissene und fragmentierte Leben wird wieder ein Ganzes, aber ein vollständig kapitalistisch integriertes und von den Imperativen des entfesselten Geldes beherrschtes.

Etienne de la Boétie würde sich angesichts der freiwilligen digitalen Knechtschaft verwundert die Augen reiben und sich fragen, wie dieser weltgeschichtliche Dressurakt gelingen konnte. Die Chancen stehen schlecht, die Digitalisierung stoppen oder ihr wenigstens eine halbwegs erträgliche Form geben zu können. Ernst Toller lässt Ned Ludd wenig später fortfahren: "Und wenn es Wahnwitz ist, und wenn es zwecklos ist. Wir müssen kämpfen, weil wir Menschen sind. Schweigen wir, so sind wir Tiere, die sich stumm ins Joch beugen."

Buchtipp:
Götz Eisenberg
Zwischen Anarchismus und Populismus. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus, Band 3
Verlag Wolfgang Polkowski, Edition Georg-Büchner-Club
453 Seiten, € 24,90

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er war jahrzehntelang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug tätig. Eisenberg arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", aus deren drittem Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" dieser Text entnommen wurde.
Eine ausführliche Rezension dieses Buches finden Sie hier .

Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 13.12.2018.

Veröffentlicht am

26. Dezember 2018

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