“Warum habt ihr nichts getan?”Von Georg Rammer "Die Welt ist aus den Fugen", klagen Politiker und Medien. Es drohen Klimakatastrophen, ein Zusammenbruch der Finanzmärkte, noch mehr Armut und Ungleichheit - mit der Folge neuer großer Kriege und eines modernen Faschismus. Weitere -zig Millionen Menschen werden ihre Heimat verlassen müssen, um Elend und Krieg zu entgehen. Wir schreiben das Jahr 2039 und wir müssen uns den kritischen Fragen unserer Kinder und Enkel stellen: Habt ihr nicht bemerkt, wohin die Reise geht? Warum habt ihr nichts getan? Ich verstehe es nicht. Ihr konntet doch unmöglich die zunehmende Gefahr übersehen. Es gab so viele Warnzeichen! Warum habt ihr nichts getan? Wir konnten doch nicht wissen, was auf uns zukommt. Uns ging es eigentlich recht gut: Es herrschte Frieden, es gab Freiheiten, die meisten hatten Arbeit, Geld, Urlaub… …und die anderen, die all das nicht hatten? Erinner dich: Seit 2000 war die Ungleichheit in Deutschland ständig gewachsen, jeder Fünfte war arm. Wie viele Alleinerziehende, Migranten, Rentner lebten in ständiger Sorge! Die Daseinsvorsorge war nicht mehr gewährleistet. Unbezahlbare Wohnungen, Klagen über Krankenhäuser und Bahn, die Heizung in Schulen fiel aus - und warum? Weil Reiche, Banken und Konzerne ungehemmt absahnen konnten! Na ja, verboten war es ja nicht. Wäre doch Sache der Politik gewesen. Eben! Die Regierungen, die EU hatten dafür gesorgt, dass die mächtigsten Konzerne gar keine Steuern bezahlen mussten. Was war mit Cum Ex und Diesel und Steuerparadiesen? Das wussten doch alle! Ja, da haben schon viele gemurrt. Aber wir hatten doch keinen Einfluss. Irgendwie hatten alle das Gefühl, das ist in der ganzen EU so, eigentlich überall. Stimmt ja auch! Die EU hatte sich zu einer Maschinerie zur Förderung der neoliberalen Wirtschaft und Gesellschaft entwickelt. Alles privatisieren, weg mit sozialer Sicherung, kein Mitleid mit Armen. Große Teile der Jugend in der EU blieb ohne Perspektive. Wie konnte euch das alles kalt lassen? Du, irgendwie ging es doch in der Welt allmählich allen besser. Wirklich? Einige wenige Superreiche hatten so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Ihr habt auf Kosten der anderen gelebt. Hat es euch nicht zu denken gegeben, dass 70 Millionen Menschen wegen Krieg und Elend ihre Heimat verlassen mussten? 70 Millionen! Ja, also das mit den Flüchtlingen hat bei uns schon Probleme geschaffen. Bei uns, bei uns! Genau das war eure imperiale Sicht auf die Welt, die den Blick auf die brutale Realität versperrt und Empathie verhindert! Euch hat anscheinend nur dann etwas bewegt, wenn es eure Bequemlichkeit gestört hat. Ich würde eher sagen: Wir konnten nicht die ganze Welt verbessern. Quatsch! Die Länder waren für euch nur Absatzmärkte, Raum für Investitionen - ja, eure Kolonien! Und wenn die Menschen die Folgen nicht ausgehalten haben, habt ihr gleichgültig zugeschaut, wie sie sterben. 35 Tausend Menschen sind im Mittelmeer ertrunken. Ihr habt sogar die Rettung für die Sterbenden mit Gewalt verhindert! Wo war eure Menschlichkeit? Du, viele haben den Flüchtlingen aufopfernd geholfen. Und wurden dann als Kriminelle behandelt! "Ankerzentren", nein, Konzentrationslager habt ihr errichtet, Diktatoren mit Waffen ausgerüstet. Natürlich alles im Namen der Menschenrechte und der Würde des Menschen! Du siehst das zu einseitig. Wir konnten doch nicht alle aufnehmen. Und das tut den Ländern auch nicht gut, wenn so viele junge Leute das Land verlassen. Verlassen müssen! Haben nicht eure Regierungen und Wirtschaftsverbände die Länder dazu gezwungen, eure Exporte zu kaufen, ihr Land den Agrarkonzernen zur Verfügung zu stellen, ihre Ressourcen billig zu verscherbeln, ihre Küsten leerfischen zu lassen! Mit "Freihandel" habt ihr in Afrika einheimische Märkte kaputtgemacht, Bauern abhängig gemacht von Bayer und Monsanto. Menschenverachtend! Jetzt wirst du polemisch. Deutschland und die EU haben nicht die Ursachen behoben, sondern aufgerüstet, abgeschottet. Warum habt ihr die Politik nicht gezwungen, für die Menschen zu handeln und nicht nur für den Profit? Als wäre das so einfach! Ja, vielleicht dachten wir wirklich, diese Wirtschaftspolitik sei alternativlos, würde allen zugute kommen. In den Zeitungen konnten wir immer lesen, welche Fortschritte es gibt, in der Tagesschau, in den Talkshows. Und noch was: Wenn alle anderen nichts tun, wieso sollst ausgerechnet du anfangen? Wolltet ihr was tun? Ihr habt die Augen zugemacht, nichts wissen wollen. Vergiss nicht: Wir haben an die Demokratie geglaubt, an die freie Presse, die unabhängige Justiz, die Parteien, an Europa. Und immerhin hatten wir Frieden! Ich fass es nicht: Frieden? Den Krieg habt ihr exportiert! Hast du Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, Jemen vergessen? Total zerstörte Länder! Das war euch alles egal, Hauptsache weit weg? Ihr seid in totale Gleichgültigkeit versunken. Millionen sterben, aber was soll’s: Ihr habt euer Häuschen, Smartphone, SUV,… Nicht mal die UNO konnte was bewirken. Weil sich die NATO einen Dreck darum gekümmert hat, was die UN sagt. Du hast doch registriert, dass dem Iran ständig mit Krieg und Regime Change gedroht wurde! Du konntest auf der Karte sehen, dass Russland von der NATO umzingelt war! Der "westlichen Wertegemeinschaft" ging es nie um Gerechtigkeit und Frieden, sondern um Rohstoffe und globale Herrschaft. Das ist mir zu krass. Die demokratischen Regeln galten für alle. Welcher Demokratie? Der der Spekulanten und Lobbyisten, der Steuerparadiese, der Goldman Sachs, BlackRock und Bayer/Monsanto mit ihrem Einfluss in der Politik? Echte Demokratie war für Konzerne und Banken ein lästiges Hindernis. Sie waren auch für den Faschismus, wenn das gut für sie war. Weißt du, was die Deutsche Bank zur Wahl des Faschisten Bolsonaro in Brasilien gesagt hatte? Er sei "Wunschkandidat der Märkte". Der Neoliberalismus zerstört die Menschlichkeit, die Empathie. Sicher war der CEO von Rheinmetall ein freundlicher Herr. Aber 85.000 Kleinkinder waren im Krieg der Saudis gegen Jemen verhungert. Und wer hat die Waffen geliefert? Rheinmetall. Du siehst nur das Negative. Du kannst nicht behaupten, die Menschenrechte wären bei uns nicht garantiert gewesen. Waren sie es wirklich? Auch die wirtschaftlichen und sozialen Rechte? Abgesehen davon: Deutschland hat alles getan, um ein UN-Abkommen zu verhindern, das auch die Konzerne zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichten sollte. Die deutsche Präferenz war: Profit statt Menschenrechte. Welche Heuchelei! Du hast es leicht, jetzt im Nachhinein zu kritisieren. Es wurde wirklich viel diskutiert, es gab Demos, es gab die Linkspartei. Überall sonst gab es Unterdrückung, aber wir konnten uns doch frei fühlen. Aber habt ihr nicht erkannt: soziale Ungleichheit, Konzerndiktatur mit dem menschenfeindlichen Neoliberalismus und dann noch Militarismus und rechte Gewalt. Das ist doch die Basis für Faschismus! Du kannst nicht 1933 mit 2019 vergleichen! Faschismus war vollkommen undenkbar. Nichts von der Rechtsentwicklung in der EU mitgekriegt? Von Fremdenhass und rechter Gewalt gegen Flüchtlinge und Linke? Von den rechten Netzwerken bei Geheimdiensten und Bundeswehr? Faschismus beginnt nicht mit Hitler und SS! Er beginnt, wenn Menschen als ungleichwertig behandelt, Feindbilder gezüchtet werden, Angst, Hass und Gewalt wachsen. Wenn Widerstand gegen die Diktatur der Konzerne und die Kriegshetze durch immer mehr Überwachung unterdrückt wird. Vielleicht gewöhnt man sich an solche Veränderungen. Was vor ein paar Jahren noch ein Skandal gewesen ist, ist plötzlich normaler Alltag. Aber ich war sehr wohl gegen AfD und Pegida. Und das waren auch alle Parteien… …ja, und dann haben sie selber AfD-Politik betrieben. Aber die größte Gefahr ging nicht von AfD aus, sondern von der neoliberalen Politik, die sie groß gemacht hat. Du kannst doch nicht für jede Fehlentwicklung die Politik verantwortlich machen. Die Menschen hatten einen Groll. Konnten sie das Gefühl haben, dass die Politik ihre Bedürfnisse nach Frieden und Gerechtigkeit berücksichtigt? Immer mehr Menschen haben doch erlebt, dass sie nur als Konsumenten zählen! Dass sie auf wichtige Entscheidungen überhaupt keinen Einfluss haben! Wir hatten immerhin den Eindruck, dass unsere Proteste etwas bewirken: Auf Klimagipfeln wurden Ziele vereinbart, Erfolge erzielt… …und die Klimabeschlüsse waren halbherzig, ohne Verbindlichkeit - und nicht einmal die wurden eingehalten. Und die Leute machten auch keine Abstriche bei Flugreisen, Fleischkonsum oder ihren grotesken Blechpanzern. Dabei war allen klar: Es wird Wasserkriege, Dürre und gigantische Stürme geben und -zig Millionen werden auf der Flucht sein. Also: Was habt ihr getan? Was hast du getan? Was hättest du an meiner Stelle getan? Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 29.01.2019. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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