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Kritik an Netanyahu: Ist sie Ausdruck von Antisemitismus?

Kritik an Israel sei die moderne Form des Antisemitismus, sagen Israel-freundliche Kreise. Die Argumentation ist kontraproduktiv.

Von Christian Müller

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat in den letzten Wochen alles unternommen, um US-Präsident Donald Trump zu motivieren, aus dem sogenannten Atom-Abkommen mit dem Iran auszusteigen. Seine publikumswirksame Präsentation der vom israelischen Geheimdienst Mossad aus iranischen Archiven geholten Dokumente zur Anreicherung von Uran im Iran zum Beispiel war zeitlich sehr gezielt angesetzt. So war es denn auch kein Zufall, dass Donald Trump in seiner Rede, in der er ankündigte, die Sanktionen gegen Iran wieder in Kraft zu setzen, ausdrücklich die von Netanyahu erhaltenen Informationen erwähnte.

Fast die ganze Welt bemühte sich darum, Trump zu überzeugen, dass ein Abrücken vom Atom-Abkommen die Spannungen in Nahen und Mittleren Osten und damit auch die unmittelbare Kriegsgefahr erhöhen werde. Etliche europäische Spitzenpolitiker, allen voran der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, setzten alles daran, Trump von seinem Vorhaben abzubringen. Nur einer ermunterte Trump in aller Öffentlichkeit zu diesem Schritt: Israels Ministerpräsident Netanyahu. Mit seinen Aktivitäten hat sich Netanyahu für Trumps Entscheid damit mitverantwortlich gemacht.

Harte Kritik an Trump, wenig Kritik an Netanyahu

Seither fehlt es an Kritik nicht - in Richtung der USA. Und wo ist die Kritik an Israels Ministerpräsident Netanyahu? Sie ist bis jetzt verhältnismäßig leise. Aber auch das ist kein Zufall, denn in den letzten Jahren arbeitet die Israel-Lobby weltweit daran, Israel-Kritik als Ausfluss von Antisemitismus zu verstehen und als Antisemitismus zu brandmarken. Mit zunehmendem Erfolg. Welcher Politiker wagt noch offen Kritik an Israel, wenn er weiß, dass ihm dies umgehend als Antisemitismus ausgelegt wird? (Auch Infosperber hat schon darüber geschrieben .)

Dabei ist zu beobachten, dass es nicht nur irgendwelche PR-Büros im Auftrag von Israel sind, die die These propagieren, Kritik an Israel sei die moderne Form von Antisemitismus. Ja, diese PR-Büros, die über die Israelisierung des Antisemitismus schreiben, gibt es. Aber auch prominente Intellektuelle wie etwa der jüdische Herausgeber der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit", Josef Joffe, unterstützen diese These. Gerade wieder in der "Zeit"-Ausgabe vom 26. April war der Vorabdruck eines Kapitels aus einem von ihm im kommenden Herbst erscheinenden Buches, in dem er ausführlich von dreierlei Formen des Antisemitismus berichtet: vom historischen Antisemitismus, vom "Sekundär-Antisemitismus" und vom "Israelbezogenen Antisemitismus". Den Satz "Kritik an Israel ist doch kein Antisemitismus" bezeichnet Joffe als "übliche Floskel". Und ganz konkret attackiert Joffe in seinem Artikel etwa den früheren deutschen Arbeitsminister Norbert Blüm von der CDU, von dem der folgende Ausspruch stammt: "Wenn die deutsche Vergangenheit dazu benutzt wird, uns (den Deutschen) jede Kritik (an Israel) zu verbieten, dann wäre die deutsche Schuld mit (einem) Denkverbot verbunden." Auch Anetta Kahane, Gründerin der Amadeu Antonio Stiftung , zielt in diese Richtung. Sie sagt, die Frage "Wann ist Israelkritik antisemitisch?" müsse ersetzt werden durch die Frage "Wann ist Israelkritik nicht antisemitisch?"

Der Begriff "Antisemitismus" wird relativiert

Israel ist, nach eigener Bestimmung, ein "jüdischer Staat". Kann diese feste Wort-Kombination zur Folge haben, dass Kritik an diesem "jüdischen" Staat, ja sogar schon Kritik an dessen Ministerpräsidenten, also anti-jüdisch ist? Und ist Kritik an Netanyahu, an dem Mann, der unaufhörlich von Israel besetztes Land mit israelischen Siedlungen überbaut und de facto zu israelischem Staatsgebiet macht, schon antisemitisch, nur weil Netanyahu natürlich ein Jude ist?

Wer so argumentiert, hilft mit, den Begriff "Antisemitismus" zu relativieren. Der Tag ist nicht mehr allzu fern, da sich Israel-Kritiker sagen werden: "Wenn Kritik an Israel bereits Antisemitismus ist, muss ich damit leben lernen, als Antisemit zu gelten - obwohl ich nichts gegen Juden, sondern ausschließlich etwas gegen die gegenwärtige Politik Israels habe." Oder mit anderen Worten: Wenn Israel-Kritik bereits Antisemitismus ist, dann ist es keine Überraschung mehr, dass der ‘Antisemitismus’ - jetzt eben im erweiterten Sinn - spürbar zunimmt.

An diese inhaltliche Relativierung des Begriffs "Antisemitismus" sollten all jene denken, die Kritik an Israel bereits als Antisemitismus brandmarken. Ihr Tun wird damit zum Gegenteil dessen, was sie zu vertreten vorgeben: dass Antisemitismus wie in Deutschland zu Hitlers Zeiten nie vergessen werden und nie mehr entstehen darf. Was besonders zu bedenken ist: Der Kampf gegen jeglichen - wirklichen! - Antisemitismus verliert mit dem Verwässern des Begriffs "Antisemitismus", mit der Ausweitung auch auf Israel-Kritik, an historisch-exemplarischer Bedeutung. Das ist klar nicht im Interesse der an vielen Orten weiterhin diskriminierten Juden.

Und was ist mit Israel-kritischen Juden?

Was von jenen, in deren Augen Kritik an Israel bereits Antisemitismus ist, meist mit Nicht-Erwähnung übergangen wird: Auch in jüdischen Kreisen gibt es mittlerweile - und es scheint sogar mehr und mehr - harte Kritik an Israel, nicht nur in Europa, auch in den USA und in Kanada. Die Infoplattform Mondoweiss zum Beispiel publiziert jeden Tag mehrere Berichte und Kommentare zu Israel und seiner Besatzungspolitik. Die Plattfom "The Real News" hat eben ein informatives Gespräch mit dem prominenten jüdischen Autor Norman Finkelstein zu Israels Politik gegenüber Gaza aufgeschaltet. Die Organisation Independent Jewish Voices Canada verurteilte öffentlich und scharf das israelische Vorgehen gegen die unbewaffneten Protestierenden in Gaza. Und jetzt kritisiert die US-amerikanische Organisation "Jewish Voice for Peace" Trump und mit ihm Netanyahu in Sachen Atomabkommen mit Iran in aller Schärfe. Wörtlich (auf ihrer Website nachzulesen): "Jewish Voice for Peace is outraged at U.S. President Trump’s announcement of the U.S. withdrawal from its nuclear agreement with Iran. This decision, made in close coordination with Israeli Prime Minister Netanyahu, is short-sighted and hawkish. It will only continue to put the U.S. and Israel at odds with the international community, and increases the chances that the U.S., and perhaps Israel, could be headed to war. On the eve of the U.S. moving its embassy to Jerusalem, this is yet another alarming instance where the U.S. and Israel stand virtually alone."

(Die ‘Jüdische Stimme für Frieden’ ist empört über Präsident Trumps Ankündigung des Ausstiegs aus dem Atom-Abkommen mit dem Iran. Diese Entscheidung, fällt in enger Abstimmung mit Israels Ministerpräsidenten Netanyahu, ist die eines Kriegsfalken und kurzsichtig. Sie wird die USA und Israel noch weiter ins Abseits der internationalen Gemeinschaft führen und die Wahrscheinlichkeit eines Krieges der USA und vielleicht auch Israels erhöhen. Am Vorabend der Verschiebung der US-Botschaft nach Jerusalem ist dieser neue Entscheid ein weiterer alarmierender Fall, wo die USA und Israel den Alleingang wählen.)

Und an gleicher Stelle: "Rabbi Joseph Berman, JVP’s Government Affair Liaison said: ‘Trump’s decision to withdraw from the Iran Deal is disastrous. The Iran Deal was a huge victory for diplomacy over war, and showed what grassroots pressure can accomplish. We are ready to fight this decision any way we can - and we will do everything in our power to keep the United States from going to war.’"

(Rabbi Joseph Berman, der Zuständige der ‘Jüdischen Stimme für Frieden’ für öffentliche Angelegenheiten, sagte: ‘Trumps Entscheid, sich aus der Atom-Vereinbarung mit dem Iran zu verabschieden, ist katastrophal. Das Atom-Abkommen mit dem Iran war ein riesiger Sieg der Diplomatie über den Krieg und zeigte, was Graswurzel-Bewegungen erreichen können. Wir sind bereit, diesen Entscheid zu bekämpfen, auf welche Weise wir auch immer können, und wir werden alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um die USA von einem Kriegsgang abzuhalten.’)

Frage:

Ist in den Augen jener, die Israel-Kritik für Antisemitismus halten, auch diese Kritik ein Ausdruck von Antisemitismus - Kritik an Israel, formuliert von Juden und jüdischen Organisationen?

  • Siehe dazu auch den heutigen Kommentar zur morgigen Verlegung der US-amerikanischen Botschaft nach Jerusalem von Gideon Levy in der israelischen Zeitung Haaretz, hier anklicken .

Und schließlich noch ein Literaturhinweis:

David Grossman: Eine Taube erschießen. Aus dem Hebräischen übersetzt von Anne Birkenhauer. Hanser Verlag 2018, 121 Seiten.

David Grossmann ist ein israelischer Schriftsteller, der unentwegt darüber schreibt, wie Benjamin Netanyahus Politik Israel ins Verderben bringt.

Zum Autor Christian Müller .

Weiterführende Informationen:

Quelle: Infosperber.ch - 13.05.2018.

Veröffentlicht am

14. Mai 2018

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