Neues aus TschernobylVon Alex Rosen Die Kernschmelze von Tschernobyl jährte sich dieses Jahr zum 33. Mal. Man würde meinen, dass alles, was zu der größten Atomkatastrophe aller Zeiten zu sagen gewesen wäre, bereits längst gesagt wurde; dass alles, was zu schreiben gewesen wäre, bereits längst geschrieben wurde. Und dann kommt, 33 Jahre nach den Schicksalstagen im April und Mai 1986, ein neues Buch auf den Markt, von einer Historikerin am angesehenen Massachusetts Institute of Technology, die fließend Russisch und Ukrainisch spricht und sowjetische Quellen im Original lesen kann. Und plötzlich scheint es, als gäbe es noch vieles, was bislang nicht gesagt, nicht geschrieben, nicht gedacht wurde … Prof. Kate Brown hatte bereits mit ihrem Buch "Plutopia: Nuclear Families, Atomic Cities, and the Great Soviet and American Plutonium Disasters" Wellen geschlagen, in denen sie die gesundheitlichen und sozialen Folgen der Plutoniumproduktion im US-amerikanischen Hanford und im sowjetrussischen Majak anhand von Originalquellen und Interviews beleuchtete. Die beiden Atomfabriken bezeichnete Brown in ihrem Buch als Atomkatastrophen in slow-motion, da beide für sich genommen über den Kurs ihres jahrzehntelangen Betriebs jeweils mehr Radioaktivität ausstießen als die Explosion in Tschernobyl. Nun nahm sie sich also konsequenterweise der, aus ihrer Sicht, dritten großen Atomkatastrophe an, durchforstete bislang wenig beachtete sowjetische Originalquellen, reiste durch Russland, Weißrussland und die Ukraine, führte Interviews und fügte, Schritt für Schritt, die unterschiedlichen Aspekte der Geschichte wie in einem Puzzle zusammen. Herausgekommen ist ein beeindruckend frischer und zugleich düsterer Blick auf eine der wohl bedeutendsten Industrieunglücke der Menschheitsgeschichte. Ihren Schwerpunkt legt sie auf die Versuche der sowjetischen Behörden und der internationalen Atomlobby, die wahren Folgen der Kernschmelze vor der Öffentlichkeit zu verbergen oder klein zu reden. Der Titel des Buches - "Manual for Survival - a Chernobyl Guide to the Future" bezieht sich zum einen auf die "Überlebensanleitungen", die nach der Kernschmelze durch die sowjetischen Behörden an Aufräumarbeiter*innen, Soldat*innen und Zivilist*innen ausgeteilt wurden und in denen die wahren Gefahren radioaktiver Strahlung verharmlost wurden. Zum anderen soll das Buch in die Zukunft weisen und mahnt die Leser*innen an, von der Vergangenheit, von Tschernobyl und von den Fehlern, die gemacht wurden, zu lernen, damit sich Tschernobyl nicht wiederholt. Angesichts der aktuell stattfindenden Bemühungen der Atomlobby, die Folgen von Fukushima zu vertuschen, eine notwendige und zeitgemäße Warnung. Konkret untersucht sie die Bemühungen des UN-Gremiums UNSCEAR und der IAEA, deren Aufgabe es ist, die "friedliche" Atomenergie weltweit zu fördern. Internationale Diplomat*innen und Wissenschaftler*innen, die der Atomindustrie nahe standen oder von dieser bezahlt wurden, vertuschten über Jahrzehnte die vorliegende Evidenz der großflächigen gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe. Ignoriert wurden so zum Beispiel die Schicksale der mehr als 800.000 Liquidator*innen - meist junger Menschen, die zum Dienst am brennenden AKW-Reaktor gekarrt und ohne jede Schutzkleidung den strahlenden Müll beiseite schaffen und unter einem gigantischen Sarkophag begraben mussten. Vernachlässigt wurden die Zahlen des weißrussischen Krebsregisters, die Studien aus Ländern außerhalb der Sowjetunion, die messbare gesundheitliche Effekte der Tschernobyl-Strahlung zeigten, die Schilddrüsenuntersuchungen der unabhängigen Kliniken in Weißrussland und die Vielzahl an Publikationen aus Russland, der Ukraine und Weißrussland, die es nie in die englischsprachigen Mainstream-Zeitschriften schafften. Brown kommt zu dem Schluss, dass das cover-up der Atomlobby erfolgreich war: die offizielle Todeszahl von Tschernobyl wird mit 54 Menschen beziffert, Hunderttausende weitere Schicksale werden ausgeblendet. Im Buch kommen, anders als in den Publikationen von UNSCEAR und Co, die vielen kritischen Wissenschaftler*innen zu Wort, die Journalist*innen, Ärzt*innen und Beamt*innen, die im Laufe der letzten drei Jahrzehnten versucht haben, das Netz der Lügen und der Verheimlichungen zu durchdringen. Und nicht zuletzt wird denjenigen eine Stimme gegeben, die jahrzehntelang belogen wurden, deren Gesundheit und deren Leben geopfert wurden, um die Mär von der sauberen und sicheren Atomenergie nicht zu gefährden. Menschen wie die Bewohner von Gomel und Mogilev, den Städten im Osten Weißrussland, über denen der Großteil des radioaktiven Niederschlags herunter geregnet kam. In Browns Buch lernen wir, dass es nicht Zufall war, oder Kapriolen des Wetters in den späten Apriltagen des Jahres 1986, die dazu führten, dass diese beiden Regionen bis heute radioaktiv verseucht sind, sondern ganz bewusste Entscheidungen der sowjetischen Führung in Moskau - denn die strahlenden Wolken trieben auf die Hauptstadt zu und so wurde die folgenschwere Entscheidung getroffen, die Wolken mit Silberjodid zu impfen und ausregnen zu lassen, bevor sie Moskau erreichen konnten. Das Schicksal von Mogilev und Gomel wurde an diesem Tag im Sowjetischen Ministerium für Hydrometeorologie besiegelt. Das ist nur eine der vielen bislang unausgesprochenen und ungeschriebenen Geschichten von Tschernobyl. Wer mehr erfahren möchte, sollte sich Browns Buch bestellen. Kate Brown: "Manual for Survival: A Chernobyl Guide to the Future". W. W. Norton & Company; 1 edition (March 12, 2019), ISBN-10: 0393652513. Dr. Alex Rosen ist Vorsitzender der IPPNW Deutschland Quelle: IPPNW - 06.05.2019. 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