Lernen aus dem KriegKollateralschäden: Die Leichtigkeit, mit der die bombardierenden NATO-Staaten sie für zwangsläufig erklärten, weist auf politisch moralische VerwahrlosungVon Wolf-Dieter Narr, Roland Roth, Klaus Vack I Vom Lateinischen kommend, übers Englische eingeführt, machte ein alter Begriff mit neuer Bedeutung die Runde: Kollateralschäden. Das meint, nach Auskunft diverser Wörterbücher, Schäden, die "seitlich" entstehen (latus = die Seite, auch Verwandtschaft); Schäden, die im Zusammenhang von Aktionen anfallen, die andere Absichten verfolgen; Schäden, die jedoch aus diesen Aktionen erfolgen. Die Summe von Kollateralschäden durch den NATO-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien begrübe selbst die besten Kriegsmotive und Kriegsziele unter sich, wenn es sie denn mehr als moraltäuscherisch dick aufgestrichen gegeben hätte.
II Von all dem wortgewaltigen Menschenrechtsaufwand bleiben nur schlimme Effekte; nackte NATO-eigene Fahrlässigkeit und eigene, nun kriegerisch zusammengezwungene Interessen. Um die im Blick auf die deutsche Vergangenheit und Gegenwart peinigend peinliche andere Auschwitzlüge - als ob NATO-Bomben über Belgrad ein neues Auschwitz verhinderten -, ist es stiller geworden. Freilich: die Mundschenke der NATO-Kriegspolitik tun nach wie vor so, als stellte dieser Krieg den Anfang einer neuen Weltordnung dar. Die Nationalstaaten verlören ihre souveräne Zwangsgewalt, wenn sie sich in ihrem Innern grob menschenrechtswidrig verhielten. Richtig ist allein, daß Menschenrechte und Gruppen, die für sie eintreten, keine Grenzen irgendwelcher souveräner Staaten achten. Ob sie wider die Todesstrafe und andere Menschenrechtsverletzungen in den USA (oder die von den USA ausgehen) ankämpfen oder in China, in Afrika… oder gegen die systematische Unterdrückung und Verfolgung der Kurden in der Türkei. Apropos: NATO- und Menschenrechte. Falsch ist es zu behaupten, überlegene Staaten hätten nicht allemal ihre Interessen imperial gegenüber kleineren und schwächeren Staaten verfolgt. Der sogenannte Balkan ist spätestens seit dem Berliner Kongreß von 1878 ein einziges Exempel dafür. Es lehrt, mit welch schlimmen Folgen die jeweiligen Großmächte uninformiert und zugleich eigeninteressiert, Grenzen verschiebend und Pläne aufpressend, herumgepfuscht haben. Ein schlimmer Ausdruck der oben genannten Verwahrlosung ist die Sprache. Nicht nur, daß mit der Bildersprache bombensicher gelogen wird. Vielmehr findet zusätzlich eine Art Sprachraub und Sprachperversion statt. Wer zum Beispiel von "Rechtspazifismus" redet, der selbstredend alle staatliche, NATO-zentrierte Gewalt erforderte, ohne daß von Gewalt die Rede sein darf, ist mit seinem humanen Latein am Ende. Seitdem der Krieg nicht nach Tagen, wie von manchen in unverzeihlicher Fahrlässigkeit angenommen, sieggebombt zu Ende gegangen ist, muß die NATO siegen. Weil der Sieg im NATO-Krieg die alles überragende Devise ist, wurde der Einsatz von Bodentruppen ernsthaft erwogen. Dabei stand von vornherein fest: dieser Bodenkrieg fände in einem durch Bomben schon weithin zerstörten Land statt, er hätte schlechterdings nur desaströse Folgen haben können. III Am wahrscheinlichen "Ende" dieses von Anfang an jenseits allen prinzipiellen Pazifismus falschen Kriegs sind mehrere Faktoren wichtig:
IV Dieser Krieg mußte besonders in Deutschland, eben weil es der erste Angriffskrieg mit deutscher militärischer Beteiligung seit 1945 war, viele friedensbewegte Menschen verunsichern und lähmen. Ihren Mut zum gewaltfreien Widerstand brechen. Nicht zuletzt, weil er in die Verantwortung einer "rot-grünen" Regierung fiel. Die SPD hat zwar seit jeher außerparlamentarische Opposition und soziale Bewegungen im Sinne ihrer stets staatstragenden und gewaltträchtigen Politik zu instrumentalisieren versucht. Die "grüne" Partei hat in ihrer kurzen Geschichte diesen Weg im Sauseschritt vollzogen und ist nun mit im Passepartout der Herrschaft. Viele von uns haben diese fatale Rolle der einstmals außerparlamentarischen "Opposition" bis zu den Desastern nach dem Regierungs"wechsel" jedoch nicht durchschaut. Schlimmer noch: immer erneut setzten sich Hoffnungen auf ein "kleineres Übel" fest. War auch der Spielraum, gar der "Erfolg" unseres Engagements, unseres demokratischen Widerstands in der Vergangenheit mehr als beschränkt, einiges an menschenrechtlicher Sensibilität, an Friedenssehnsucht hat sich doch bei mehr und mehr Bürgerinnen und Bürgern im Fühlen, Denken und Handeln ausweiten können. Bei nicht wenigen Deutschen war die Forderung von 1945 in das Bewußtsein gemeißelt: "Von Deutschland darf nie wieder Krieg ausgehen!" Für die Menschen in Ostdeutschland ein weiteres böses Erwachen: Nach den "blühenden Landschaften" nun die "humanitäre Intervention". Was ist in ähnlichen Fällen zu tun? Widersprechen. Aufklären. Nie anfangen aufzuhören. Nie aufhören anzufangen. Gegen den herrschenden Strom, den sogenannten Zeitgeist. Human helfen - mit unseren Möglichkeiten, in kleinen und großen Schritten. Auf dem Balkan und hierzulande. Den Schwertern, die nie zu Pflugscharen umgeschmiedet wurden, gewaltfrei mit zurückweisenden Händen und Armen entgegentreten. Ziviler Ungehorsam: desertieren, Kriegsdienst verweigern, Militäreinrichtungen und -strukturen blockieren. Von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge und Asylsuchende verstecken, wo möglich, ihnen den Weg in sichere Länder ebnen. Informations- und Protesttexte schreiben, verbreiten und mit den Leuten diskutieren. Uns auf den Plätzen unserer Städte und Stadtteile zeigen, mit unmißverständlichen Parolen auf Plakaten, Transparenten, in Flugblättern. Demonstrieren. Sand streuen ins Getriebe der Kriegsverantwortlichen. Bei allem Widerständigen, die Gewaltfreiheit nicht vergessen und erinnern, was Gandhi uns hinterlassen hat: Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg. Der seit vergangener Woche sich vage andeutende Prozeß, den Krieg zu beenden, läßt neben mancher allzu späten Einsicht (UNO-Beteiligung, Rußland) nicht erkennen, daß die NATO-Staaten die von ihnen ausgehenden Verbrechen sehen. Sie betreiben den "Frieden" wie den Krieg. Wolf-Dieter Narr lehrt Politikwissenschaften an der FU Berlin; Roland Roth lehrt Politikwissenschaften an der FH Magdeburg. Klaus Vack hat viele Jahre für Kinder aus den Kriegsgebieten im zerfallenden Jugoslawien Erholungsurlaube ermöglicht. Narr, Roth und Vack sind seit Jahrzehnten engagierte Protagonisten in sozialen Bewegungen mit radikaldemokratischem, humanem, pazifistischem Anspruch. Quelle: der FREITAG vom 11.06.1999. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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