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Deutschland düpiert den Kampf gegen den Antisemitismus

Von Avraham Burg und Dani Karavan

1948 war ein Meilenstein in der Welt und in der jüdischen Geschichte. Drei Jahre nach dem Holocaust und dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Staat Israel gegründet und nahm sofort mehr als 600.000 Immigranten auf, viele von ihnen Flüchtlinge aus Europa und Überlebende des Holocaust.

Für viele von ihnen repräsentierte der neugeborene Staat die ultimative Antwort auf den Horror, den sie erlitten hatten. Sie waren stolz, gegen ihn zu kämpfen, und sie errichteten neue Häuser und kehrten in ihr Leben zurück.

Juden und Nichtjuden in aller Welt einschließlich der Nichtzionisten unterstützten die Gründung Israels, weil sie darin einen Hafen für Juden in einer Welt sahen, in der Juden immer wieder als Sündenböcke angegriffen wurden.

Doch derselbe Krieg zur Geburt des Staates Israel verursachte eine Katastrophe für die Palästinenser - die Nakba. Rund 750.000 Palästinenser flohen oder wurden aus ihrer Heimat vertrieben, ohne dass sie zurückkehren durften. Hunderte arabische Dörfer wurden zerstört, ihre städtischen Zentren entleert und zerkrümelt. Innerhalb einer historisch unglaublich kurzen Periode wurden die Palästinenser von einer Mehrheit zu einer Minderheit in ihrer eigenen Heimat, mit endlosen Flüchtlingen in die arabischen Staaten und in alle Welt. Dies war der Moment in der Geschichte, der den Israel/Palästina-Konflikt definierte - einen Konflikt, der weit von seiner Lösung entfernt ist.

Im Dezember 1948 verabschiedete die UN-Vollversammlung die Konvention zur Verhinderung und Bestrafung von Verbrechen des Genozids sowie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie waren weltweit gültige Konventionen, die das Verständnis zum Ausdruck brachten, dass die internationale Gemeinschaft zusammenwirken muss, um die Wiederkehr der Schrecken des Zweiten Weltkrieges zu verhindern, so den Holocaust, und sich auf eine Ordnung von Werten und Normen zu verständigen, die alle Menschen vor der Willkür gewalttätiger Regimes schützen und solche maßlosen Leiden und Schmerzen verhindern soll. 

Die Balance im Vermächtnis

Mit der Schaffung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht 45 Jahre später wurden die Menschenrechte in verfassungsgemäße und moralische Codes als Teil des Vermächtnisses des Holocaust eingeführt. Diese Ethik des Erinnerns wurde 2005 von der Resolution der UN-Vollversammlung angenommen und der 27. Januar als Internationaler Tag zur Erinnerung an den Holocaust bestimmt. Die Resolution begann mit einem klaren, detaillierten Bezug zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die in der Resolution sieben Mal erwähnt wurde.

Diese Vorgänge bildeten die Grundlage der doppelten Verantwortung Europas und besonders Deutschlands seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges: die historische Verantwortung, das Wohl von Juden zu garantieren, den Antisemitismus zu bekämpfen und den Staat Israel zu unterstützen. Zur selben Zeit verpflichteten sich Europa und Deutschland zum Kampf gegen alle Formen des Rassismus und zur Unterstützung liberaler Demokratien, welche die Menschen- und Bürgerrechte respektieren.

Leider wurde im Falle des israelisch-palästinensischen Konflikts diese Balance für Europa zunehmend schwierig, insbesondere für Deutschland.

Einerseits hat Deutschland eine besondere Beziehung zu Israel. Zum anderen wurde es mehr und mehr des massiven Missbrauchs der palästinensischen Menschenrechte gewahr und der systematischen Entgleisung der israelischen Regierung, eine friedliche Regelung des Konflikts zu ermöglichen.

Im vergangenen Monat [17. Mai] hat der Bundestag darauf verzichtet, was von der Balance zwischen diesen beiden Pflichten übriggeblieben ist, und gab das Ideal der Menschenrechte auf. Stattdessen optierte er für eine blinde Unterstützung der israelischen Regierung - der am weitesten rechtsgerichteten und populistischen Regierung, die Israel jemals führte. Ihre gegenwärtigen Werte stehen in direktem Gegensatz zu allen Werten, die Deutschland im 21. Jahrhundert zu unterstützen beanspruchte.

Der Bundestag erklärte, dass die BDS-Bewegung, die sich für die palästinensischen Rechte einsetzt, antisemitisch und deshalb illegitim sei. Nach der Resolution verwandte sich die israelische Regierung bei der deutschen Regierung, die Resolution zu übernehmen, wie Haaretz berichtet hat. 

Antisemitismus gibt es wirklich, und ihm sollte in Deutschland und an allen anderen Orten mit allen juristischen Mitteln entgegengetreten werden. Doch gibt es an BDS als solcher nichts Antisemitisches. Gewaltlose Volkskampagnen sind ein legitimes und angebrachtes Mittel, um Staaten dazu zu bewegen, mit schwerer Diskriminierung und arger Verletzung von Menschenrechten ins Gericht zu gehen. Denken wir an die Apartheid in Südafrika.

Gefährliche Gleichsetzung

Wir fragen die deutsche Regierung: Glauben Sie wirklich, dass es eine Ähnlichkeit zwischen dem Boykott einer Flasche Wein, die in den besetzten Gebieten auf von Siedlern gestohlenem Land, die von der stärksten Armee in der Region geschützt werden, produziert wurde, und dem Boykott eines Geschäfts in Nazi-Deutschland gibt?

Wer diesen Vergleich zieht, befleckt die Erinnerung an den Holocaust und untergräbt massiv die Balance der Verpflichtungen in Deutschlands Nachkriegszeit. Schlimmer noch: Die Entscheidung beschädigt den Kampf gegen den wahren Antisemitismus, der im europäischen Nationalismus seinen Ursprung hat und heute von Teilen der muslimischen Gemeinschaften in Europa kommt.

Die Entscheidung des Bundestages vermischt den Kampf gegen den Antisemitismus mit der Unterstützung der israelischen nationalistischen Agenda, wodurch große Teile der Bevölkerung [in Deutschland] verlorengehen, die andererseits den Kampf gegen den Judenhass in eben diesen Gemeinschaften bekämpfen.

Mehr noch: Die Resolution des Bundestages schränkt die Meinungsfreiheit ein, einer Säule jeder liberalen Demokratie. Deutschland hat eine Vielzahl Einrichtungen, die den Verpflichtungen der Nachkriegszeit und den liberalen Traditionen der EU loyal gegenüberstehen. Sie können bestimmen, was die Grenzen der Kritik an Israel sind und wann diese Kritik tatsächlich Antisemitismus repräsentiert.

Doch der Bundestag hat all diese Ecksteine umgangen und hat willkürlich und falsch bestimmt, was Antisemitismus sei. Das ist sehr gefährlich auf einer glitschigen Böschung.

Das Vermächtnis aus der Geschichte

Die israelische Regierung hat sich beeilt, diese riesige Errungenschaft zu feiern. Ohne jede Balance hat sich der Bundestag hinter eine Regierung gestellt, die das Beste tut, um jede politische Lösung des Konflikts zu verhindern, indem sie mit dem Bau und der Erweiterung von Siedlungen fortfährt - eine Regierung, welche die Hoffnung äußert, die palästinensischen Territorien zu annektieren und die Macht des Obersten Gerichtshofs zur Blockade undemokratischer Gesetze einschränkt.

Aus der deutschen Geschichte wissen wir, wie gefährlich ein solcher Schachzug sein kann. Bezalel Smotrich, von dem erwartet wird, dass er eine zentrale Position in der neuen Regierung einnimmt, hat angedeutet, dass ethnische Säuberung eine mögliche "Lösung" des Konflikts sein könnte.

Das ist die Regierung, die das Nationalstaatsgesetz eingebracht hat, welches Minderheiten in einer Weise diskriminiert, die in anderen westlichen Demokratien keine Parallele findet. Obendrein tut die israelische Regierung ihr Bestes, die EU zu spalten und zu schwächen, und baut Allianzen mit populistischen Führern weltweit auf.

Der israelische Ministerpräsident Netanjahu ist einer der stärksten Unterstützer der Vorstellung "illiberaler Demokratien". Sind dies die Lehren aus dem Holocaust? Wird damit der Kampf gegen den Antisemitismus befürwortet?

Wir bedauern, das sagen zu müssen. Doch der Bundestag hat seine Pflicht düpiert, den Antisemitismus in einer prinzipiellen und aufrichtigen Art zu bekämpfen. Er hat seine liberalen und demokratischen Werte betrogen und ebenso seine Pflicht, Menschenrechte und die Autorität des Gesetzes zu fördern, in Deutschland und in Israel. Gegenwärtig betrügt er auch seine Pflicht als wahrer Freund Israels. Er hat das entscheidende Vermächtnis von 1948 betrogen.

Wir hoffen, dass die deutsche Regierung dem nicht folgt [die Resolution nicht in einen Gesetzentwurf einzubringen].

Der Beitrag erschien am 17. Juni 2019 in der Tageszeitung "Haaretz". Die Übersetzung aus dem Englischen erfolgte von Reiner Bernstein. Die drei Zwischenüberschriften wurden ergänzt. Avraham Burg war zwischen 1999 und 2001 Präsident der Knesset. Er ist der Autor des Buches "Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss" (Frankfurt am Main 2009). Von dem Skulpteur Dani Karavan stammen in Köln die in den Fußboden eingelassenen Streifen "Ma’alot" ("Stufen") zur Erinnerung an den Bahnhof Köln-Deutz, von dem die Verfolgten in den Tod geschickt wurden. Beide Autoren wandten sich mit anderen 238 israelischen und jüdischen Autoren gegen die Gleichsetzung von Kritik an der israelischen Politik mit dem Antisemitismus. Wie bekannt, hat die Empfehlung der Pressereferentin des Jüdischen Museums Berlin, den Beitrag in der taz vom 5. Juni 2019 zu lesen, zum Rücktritt des Direktors Peter Schäfer geführt. Ergänzend wurden in Israel Stimmen laut, künftig alle Direktionsstellen in jüdischen Museen Deutschlands mit politisch willfährigen Jüdinnen oder Juden zu besetzen. Damit soll der wissenschaftlichen und pädagogischen Unabhängigkeit ein Riegel vorgeschoben werden.

Quelle: www.jrbernstein.de -  17.06.2019.

Veröffentlicht am

19. Juni 2019

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