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1969: Nie mehr schämen

In der New Yorker Szenebar "Stonewall Inn" gibt es eine Polizeirazzia gegen Schwule und Lesben. Widerstand flammt auf und führt zu einer historischen Wende

Von Konrad Ege

Die heißen Nächte vor 50 Jahren in New York City sind als Stonewall-Aufstand in die Geschichte eingegangen. Weltweit feiern gegenwärtig Millionen Schwule, Lesben und Transgender diesen Jahrestag. Was war passiert? In der Nacht vom 27. zum 28. Juni 1969 hatten Gäste im "Stonewall Inn", einer Bar im Stadtteil Greenwich Village, vornehmlich für Homosexuelle, erstmals Widerstand geleistet gegen die alltäglichen Drangsalierungen und Demütigungen durch die Polizei. Dies führte dazu, dass sich einige Beamte letztendlich schutzsuchend in der Bar verbarrikadierten.

Das Stonewall Inn, eine seinerzeit heruntergekommene Kneipe ohne fließendes Wasser und Schankerlaubnis, dazu mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität, wie berichtet wird, ist heute Magnet für Erinnerungen. Präsident Barack Obama hat das Lokal in der Christopher Street zum Nationaldenkmal ernannt. Die Ereignisse seien ein "entscheidender Wendepunkt" im Kampf für "die Bürgerrechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgendern" gewesen. Obamas Nachfolger hat es nicht so mit dem Thema; er verfügte jüngst, dass Transgender nicht länger in der Army dienen dürfen.

Polizeirazzien waren während der 1960er Jahre nichts Ungewöhnliches für Gay-Bars in New York City. Allein die Aufforderung zum gleichgeschlechtlichen Sex war strafbar. Es wurden "Lockvögel" in Marsch gesetzt, um Personen wegen anstößigen Verhaltens überführen zu können. In New York konnte damals festgenommen werden, wer "weniger als drei gender-angemessene Kleidungsstücke" trug. In der fraglichen Nacht waren Polizisten kurz nach ein Uhr wieder einmal im Stonewall Inn aufgetaucht. Doch diesmal, wie das alternative Blatt Village Voice berichtete, hätten die Beamten "beträchtliche Probleme" gehabt, Festgenommene abzuführen. Vor der Kneipe wuchsen Unmut und Wut. Münzen seien geworfen worden auf die Polizisten, auch Flaschen. Die Beamten hätten sich in die Bar zurückgezogen. Aus allen Richtungen seien Polizeiwagen vorgefahren, schrieb Punk-Sängerin Jayne Country in ihren Erinnerungen. "Gay Power, Gay Power, Gay Power" sei gerufen worden. Augenzeugen sprechen von brennenden Mülltonnen und eingeschlagenen Fensterscheiben. Jemand habe versucht, mit einer Parkuhr die Tür zum Stonewall zu rammen.

Die Zusammenstöße dauerten Stunden und sollten sich in den darauffolgenden Tagen wiederholen. Der Dichter Allen Ginsberg (1926 - 1997) sei vorbeigekommen, so die Village Voice. "Gay power! Ist das nicht großartig", habe er gesagt. Es sei "an der Zeit, dass wir etwas aus uns machen" ("to smart ourselves"). Zum ersten Mal habe er diese Bar besucht. Stonewall passte zu den 1960ern, einer Zeit des Umbruchs - mit der Frauenbewegung, Black Power, den Hippies und den anschwellenden Protesten gegen den Vietnamkrieg.

Der republikanische Präsident Richard Nixon hatte in einer Rede zum Krieg in Indochina Ende 1969 seine Hoffnungen auf eine "große schweigende Mehrheit" gerichtet. Doch Autorität und Autoritäten wurden umfassend in Frage gestellt in diesem Jahr. Im April 1971 dozierte Nixon im Gespräch mit Stabschef Bob Haldeman und Henry Kissinger zum Thema Homosexualität: Ein Blick auf die Geschichte zeige, dass eine Gesellschaft "Vitalität verliere", so der Präsident, "wenn sie sich in diese Richtung bewegt. Das stimmt doch, Henry?" Und Kissinger: "Well, das war sicher so in der Antike. Die Römer waren berüchtigt … Es ist das eine, wenn Leute, wissen Sie - wie manche Leute, die wir kennen -, es diskret tun, doch das Ganze zur nationalen Politik erheben …?"

In der Textsammlung The Stonewall Reader hat der Schriftsteller Edmund White, selber häufig im Lokal für ein paar Wodka Tonic, wie er sagte, Bilanz gezogen. Der plötzliche Widerstand habe Einstellungen verändert, vornehmlich bei lesbischen und schwulen Menschen, die nun mit mehr Selbstbewusstsein auftraten. Umdenken erfolgte auch in der Gesellschaft, so White, eine "ozeanische Veränderung". Manche Leute hätten Homosexuelle nicht länger als "Kriminelle oder Sünder oder Geisteskranke" gesehen, sondern als Mitglieder einer Minderheit. In der Tat: Damals wurden Flaschen geworfen, heute vermarktet der Bierbrauer Anheuser-Busch sein Bud Light erstmals in regenbogenfarbenen Aluminiumflaschen zur Feier des World-Pride-Tages. Das Bier sei für alle, und man hoffe, dass wir "etwas schaffen, das ein jeder mit Stolz halten" könne während des Pride-Monats, meinte der für das Bud-Light-Marketing zuständige Andy Goeler. Der Hersteller werde der Gay & Lesbian Alliance Against Defamation eine Million Dollar spenden. Die Spirituosenfirma Stoli bringt zum 50. Jubiläum einen "Spirit of Stonewall"-Wodka auf den Markt.

Am Jahrestag selbst steigen Pride-Kundgebungen und Partys ohne Ende. Doch der Weg der Emanzipation war alles andere als geradlinig. Es geschah nur vier Jahre nach Stonewall: In New Orleans wurde am 24. Juni 1973 Feuer in der Schwulenbar Upstairs Lounge gelegt. 32 Menschen verbrannten und erstickten oder erlagen später ihren Verletzungen im Krankenhaus. Es war das schlimmste Massaker dieser Art in der US-Geschichte und wurde nie ganz aufgeklärt. 2016 sollte es vom Inferno im Pulse-Nachtclub in Orlando (Florida) übertroffen werden. 49 Menschen wurden da ermordet. Medien berichteten zurückhaltend über die Katastrophe in der Upstairs Lounge, schrieb Robert Fieseler, Autor des neuen Buches Tinderbox. Im Fernsehen habe es nur Interviews gegeben, bei denen Reporter und Überlebende mit dem Rücken zur Kamera standen, weil die Journalisten Angst hatten, den schwulen Lebensstil zu legitimieren, und die Opfer sich nicht outen wollten. Keine Kirchengemeinde in New Orleans habe 1973 Gottesdienste zum Gedenken an die Toten abgehalten, heißt es auf der Webseite neworleanshistorical.org.

Gleichgeschlechtlicher Sex war nach Stonewall in zahlreichen Bundesstaaten noch lange verboten. In Houston drangen im September 1998 Polizisten in ein Apartment ein. Sie hätten zwei Männer beim Geschlechtsverkehr gesehen. Ein texanisches Gesetz verbat "abartigen sexuellen Verkehr mit einem Individuum gleichen Geschlechtes". Doch die beiden Festgenommenen, John Lawrence und Tyrone Garner, waren nicht bereit, die Geldstrafe zu zahlen, um Aufsehen zu vermeiden. CNN zitierte Garner, er wolle das Gesetz verändern. Und Lawrence: "Das war wie Gestapo." Fünf Jahre später sollte das Oberste Gericht das texanische Gesetz für verfassungswidrig erklären. Einen Riesenerfolg errang das Prinzip Gleichberechtigung 2015, als die höchsten Richter urteilten, gleichgeschlechtliche Paare dürften heiraten wie heterosexuelle. Und 2019 kandidiert erstmals ein verheirateter schwuler Mann fürs Weiße Haus, der demokratische Bürgermeister Pete Buttigieg aus Indiana. Richard Grenell, US-Botschafter in Berlin, kam mit seinem Partner Matthew Lashey zur Akkreditierung bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Doch die gesellschaftlichen und rechtlichen Umstände bleiben widersprüchlich in den USA. Die Trump-Regierung stellt sich auf die Seite von Konservativen, die "Glaubensfreiheit" geltend machen wollen, um LGBT-Rechte zu begrenzen. Gleichgeschlechtliche Paare dürfen heiraten, doch wenn ein Konditor ihnen keine Hochzeitstorte backen will, aus "Glaubensgründen" angeblich, dann müssen sie woanders bestellen. Hinzu kommt, dass Vermittlungsstellen für Adoptionen gleichgeschlechtliche Paare vielerorts diskriminieren dürfen. In etwa der Hälfte aller Bundesstaaten gibt es keine rechtliche Handhabe, um zu verhindern, dass Lesben, Schwule und Transgender am Arbeitsplatz reglementiert werden. Das Oberste Gericht will sich im kommenden Jahr dazu äußern.

New Yorks Polizeichef James P. O’Neill hat sich kurz vor dem Jahrestag für das "repressive Vorgehen" damals entschuldigt. O’Neills Vorgänger Bill Bratton hatte noch 2016 erklärt, das sei nicht nötig.

Quelle: der FREITAG vom 28.06.2019. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Konrad Ege und des Verlags.

Veröffentlicht am

29. Juni 2019

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