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Eine jüdisch-israelische Antisemitin?

Ilana Hammerman in Haaretz zum BDS-Bundestagsbeschluss

Der Bundestagsbeschluss vom 17. Mai zur Ächtung von Boykotten gegen Israel macht die israelische Friedensbewegung wütend. Haaretz ist die einzige israelische Tageszeitung - mit nur kleiner Auflage in Israel -, in der die Friedensbewegung zu Wort kommt. Am 24. Mai veröffentlichte Haaretz einen zornigen Essay von Dr. Ilana Hammerman. Sie ist 1944 in Haifa geboren und hat in Deutschland promoviert (im schönen Bielefeld), aber ihre Sympathien für Deutschland gehen nach diesem Bundestagsbeschluss gegen Null. BIB hat den Artikel ins Deutsche übersetzt.

Bundestagsabgeordnete, bin ich antisemitisch?

Von Ilana Hammerman

Deutschland, ich will nichts von Dir, weder Schlechtes noch Gutes! Das ist meine Botschaft als jüdische Israelin an Deutschland, dessen Politiker - unter dem Deckmantel der Ablehnung der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung BDS - festgestellt haben, dass ich und meine Kollegen im Kampf gegen die israelische Politik Antisemiten genannt werden sollten.

Die Tatsache, dass Du die Familie meiner Mutter und Millionen anderer Mitglieder meines Volkes ermordet hast, gibt Dir, Deutschland, nicht das Recht zu bestimmen, wer antisemitisch ist. Doch Du hast Dir dieses Recht genommen, in der scheinheiligen Entschließung der Bundestagsmehrheit vom 17. Mai 2019.

Es war überhaupt nicht das Thema BDS (dessen Ablehnung nicht einmal richtig erklärt wurde), das im Mittelpunkt der Resolution stand. Der überwiegende Teil des langen Textes definiert Antisemitismus. Dabei hat der deutsche Gesetzgeber einen gewundenen, verstümmelten und verworrenen Text produziert, dessen eigentlicher Kern die Gleichsetzung von Antisemitismus mit Kritik an der Politik Israels ist.

Die Resolution enthält nicht einen einzigen Hinweis auf die Entwicklungen in Israel und der israelischen Gesellschaft in den letzten Jahren. Doch diese Entwicklungen haben Israel und alle seine Bewohner, Juden wie Nichtjuden, an den Rand des Untergangs gebracht, so dass Israel nun für Juden zum gefährlichsten Ort der Welt geworden ist, und nicht wenige von ihnen ergreifen die Flucht.

Die schändliche Resolution des Deutschen Bundestages sagt kein Wort darüber, dass im israelischen Parlament und Kabinett Männer und Frauen sitzen, die faschistische Ideologien propagieren - eine nationale jüdische Diktatur und die Unterdrückung anderer Völker, vor allem des palästinensischen Volkes, in allen Gebieten, die Israel kontrolliert, vom Mittelmeer bis zum Jordan. Es wird nicht erwähnt, dass aus diesen Ideologien seit Jahren neue Gesetze erwachsen - Schritt für Schritt und mit Lug und Trug -, was an die Entwicklungen erinnert, die Deutschland selber in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg durchlaufen hat.

Gemäß dem Bundestagsbeschluss ist ein entschiedener Kampf gegen die israelische Politik - an dem sich aufgeklärte Juden in Israel und weltweit beteiligen - mit der Ablehnung des Existenzrechts Israels als "jüdischer und demokratischer Staat" gleichzusetzen. Als ob das heutige Israel - dessen Gesetzgeber mit erschreckender Effizienz daran arbeiten, die Unabhängigkeit der Justiz, die Handlungsfreiheit der zivilgesellschaftlichen Organisationen und das Recht der nichtjüdischen Bürger auf ein gleichberechtigtes Leben einzuschränken - noch ein demokratisches Land wäre.

Seit mehr als 50 Jahren beherrscht dieses Land Millionen von Menschen, denen jegliche Rechte vorenthalten werden, stiehlt ihr Land, zerstört ihre Häuser, verweigert ihnen die Bewegungsfreiheit und die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und gewährt unter der Schirmherrschaft seiner enormen militärischen Macht nur Juden, die sich auf dem Land dieser Millionen Menschen niedergelassen haben, alle Rechte auf ein Leben in Würde. Als ob ein solcher Apartheidstaat immer noch als ein demokratisches Land angesehen werden könnte.

Israels Kriege

Es trifft zu, dass die israelische Knesset und die Regierungen in demokratischen Wahlen gewählt werden (bei denen die Palästinenser in den besetzten Gebieten nicht teilnahmeberechtigt sind, obwohl diese Wahlen ihr Schicksal bestimmen). Aber wer sollte besser wissen als Ihr Deutschen, dass dies nicht das richtige Definitionskriterium für Demokratie ist, da eine Mehrheit Eures Volkes, ganz gleich ob direkt oder indirekt, die Nazi-Partei an die Macht gebracht hat?

Ihr sagt, der Antisemitismus spreche Israel das Recht ab, "seine Sicherheit zu verteidigen". Aber Eure Entschließung erwähnt nicht, dass die Kriege Israels - die seit vier Jahrzehnten das Leben von Hunderttausenden von Menschen, vom Libanon bis zum Gazastreifen, mit Bomben und Granaten vom Land, vom Meer und aus der Luft zerstören - schon seit langem nicht das Ziel haben, die Sicherheit der Israelis zu gewährleisten.

Über diese Kriege ist von Fachleuten und Menschen mit moralischen Grundsätzen, die meisten von ihnen Juden, bereits alles geschrieben und gesagt worden. Doch ausgerechnet in diesem dunklen Moment in der Geschichte unseres Landes sah der Bundestag die dringende Notwendigkeit, Deutschland politisch, wirtschaftlich und militärisch unter dem Vorwand des Kampfes gegen Antisemitismus an die Seite Israels zu stellen.

In Eurer Entschließung geht Ihr mit keinem Wort auf den Kampf ein, den wir führen - wir, die wir, vielfach Euretwegen, immer wieder Niederlagen einstecken -, um unseren Wunsch zu verwirklichen, hier als Menschen zu leben, anstatt in einem blutigen Konflikt zu sterben. Dies ist ein Konflikt, den die israelischen Regierungen in den letzten Generationen verewigt haben, und heute machen sie sich nicht mehr die Mühe, ihre Überzeugung zu verbergen, dass wir hier auf immer und ewig durch rohe Gewalt überleben müssen.

Militärische Macht, sagen unsere Staatsmänner und Gesetzgeber, wird immer die geografische, politische und moralische Landkarte Israels bestimmen - militärische Macht, nicht die von der internationalen Gemeinschaft unterzeichneten Konventionen, von denen die meisten als Reaktion auf von Eurem Land gesäten Tod und Zerstörung geschaffen wurden. Es wird immer militärische Macht sein - und nicht die UN-Resolutionen, die Israel ungehindert verachtet, geleugnet und verletzt hat.

Nein, Ihr erwähnt nichts davon, Ihr da drüben im Deutschen Bundestag. Anstatt Eure wahre und gewichtige Verantwortung für unser Schicksal anzuerkennen, habt Ihr euch entschieden, euch mit poetischer Bequemlichkeit an Eure Schuldgefühle zu klammern. Das ist das wahre Wesen Eurer Resolution, und das ist die in ihren Abschnitten und Klauseln verkörperte Bedeutung.

Schrittweise Sanktionen

Mitglieder des Bundestages, auf all das habe ich eine Erwiderung an Euch, ich, die ich zu den jüdischen Israelis gehöre, die sich noch immer an ihre Liebe zu diesem Land klammern, mit all ihrer schwindenden Kraft daran festhalten und sich für die Verteidigung unserer moralischen Grundsätze und unserer Sicherheit engagieren, für die es keine langfristige Garantie außer einer friedlichen Lösung gibt.

Und das ist meine Erwiderung: Ja zu schrittweisen Sanktionen gegen Israel, sowohl in wirtschaftlicher als auch in kultureller Hinsicht. Ja zu einem totalen Boykott von allem, was in den Siedlungen hergestellt wird - jenem verrückten Vorhaben, das seine Tentakel unter dem Schirm Eurer Politik und mit Eurer Unterstützung über das Westjordanland ausgestreckt hat.

Ihr habt nicht das Recht, mich als antisemitisch zu bezeichnen, nur weil ich glaube, dass Sanktionen und Boykotte unter den gegenwärtigen Umständen das einzig wirksame, gewaltfreie Instrument sind, das noch übrig ist, um Israel zu zwingen, die besetzten Gebiete und die Kontrolle über sie aufzugeben. Ein solcher politischer Boykott hat absolut nichts mit dem brutalen, rassistischen Boykott zu tun, den die Nazis in Eurem Land im April 1933 gegen jüdische Geschäfte verhängt haben.

Ihr habt nicht das Recht, mich als antisemitisch zu bezeichnen, denn in dieser Zeitung fordere ich meine Kollegen, israelische Intellektuelle und kreative Künstler, immer wieder auf, unseren eigenen Aufruf zu veröffentlichen, der mit den folgenden Worten beginnen wird:

"Wir, bildende Künstler, Intellektuelle und Akademiker, Bürger und Einwohner Israels, fordern die internationale Gemeinschaft auf, Druck auf Israel auszuüben, bis hin zu diplomatischen, wirtschaftlichen und politischen Sanktionen, um es zu zwingen, seine Bürger aus den 1967 besetzten Gebieten abzuziehen. Wir haben diesen schmerzhaften Schritt gewählt, uns an Außenstehende zu wenden, aus Liebe zu unserem Land und zunehmender Angst nicht nur um seinen demokratischen Charakter, sondern auch um seine Zukunft und sogar um seine Existenz - und unsere Existenz.
Sagen wir der Zivilgesellschaft in der westlichen Welt: Stoppt diese selbstgerechte Umarmung eurer Schuldgefühle. Tragt stattdessen die schreckliche Schuld eurer Eltern und eurer Länder ab, indem ihr jetzt das einzig Richtige tut - Stellung nehmen gegen die Politik der israelischen Regierung."

Von Jerusalem aus, meiner Stadt, geteilt durch Mauern aus Stein, Stahl und Hass, habe ich diese Worte, die ich am 1. Februar in Haaretz’ hebräischer Ausgabe schrieb, auch benutzt, um die Bewegung der Jüdischen Stimme in Deutschland zu unterstützen, die bereits ernsten Schikanen ausgesetzt ist. Auch die gegen sie ergriffenen Maßnahmen werden durch den Beschluss des Bundestages eindeutig unterstützt.

"Bravo!" habe ich dieser Gruppe geschrieben. "Diejenigen, die euch antisemitisch nennen, sind irregeleitet und, vor allem, führen in die Irre. Die Verzerrung dieses Begriffs ist die aktuelle Gefahr, noch irreführender als was davor kam. Sie muss mit all ihren Wurzeln ausgerissen werden, die sich genau jetzt immer tiefer eingraben. Dies sollte sensibel und klug, aber auch entschlossen geschehen, denn die Zeit ist nicht auf unserer Seite."

Ilana Hammerman wurde in Haifa geboren und lebt in Jerusalem. Sie studierte Französisch und Anglistik an der Sorbonne, Französisch und Arabisch in Jerusalem und promovierte in Linguistik und Literaturwissenschaften an der Universität Bielefeld. Sie hat zahlreiche Bücher und Essays zu literaturwissenschaftlichen und politischen Themen veröffentlicht und engagiert sich als politische Aktivistin gegen die israelische Besatzung bei B`Tselem und in der Association for Civil Rights in Israel

Quelle:  BIB e.V. - BIB Aktuell #63. Originalartikel: Bundestag Members, Am I anti-Semitic?

Veröffentlicht am

25. Mai 2019

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