Besetztes LandVor 100 Jahren versprach Großbritannien den Juden das Land der Palästinenser.Von Rolf Verleger Der Konflikt zwischen jüdischen Israelis einerseits und muslimischen und christlichen Palästinensern andererseits darüber, wem das Land gehört, ist und bleibt der Kernkonflikt im konfliktreichen Nahen Osten. In wenigen Tagen, am 2. November 2017, wird dieser Kernkonflikt 100 Jahre alt. Er ist ein vielschichtiges Erbe Europas - des Zarenreichs, das seine jüdische Minderheit diskriminierte und sie damit in Auswanderung und Rebellion trieb, Großbritanniens, das dieses Problem für seine eigenen Pläne ausnutzte, und schließlich Deutschlands, das die Juden Europas systematisch umbrachte. Der 2. November 2017 erinnert an die Rolle Großbritanniens. Denn am 2. November 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, verkündete die britische Regierung nach monatelangen Beratungen und öffentlichen Kontroversen: "Die Regierung Seiner Majestät betrachtet die Einrichtung eines nationalen Heims in Palästina für das jüdische Volk mit Wohlwollen und wird ihre besten Bestrebungen einsetzen, um das Erreichen dieses Ziels zu ermöglichen." Dies ist die Hauptaussage der Balfour-Deklaration , benannt nach dem damaligen Außenminister Arthur James Balfour (1848-1930). Großbritanniens Motive für die Balfour-DeklarationDie Motive waren vielschichtig; wichtig waren wohl diese: 1. Abwehr von Flüchtlingen, 2. Englands imperiale Politik, 3. Abwehr des Bolschewismus und 4. der anglikanische Zionismus.
Gemäß der Deklaration ließ sich Großbritannien 1922 nach Ende des Ersten Weltkriegs ein Mandat des Völkerbunds für dieses Gebiet des Osmanischen Reichs geben, das das heutige Israel, das Westjordanland und den Gazastreifen umfasst, zum Aufbau der Jüdischen Heimstätte. Dies war im weiteren Verlauf ausschlaggebend für die Gründung des Staates Israel 1948 auf einem Teilgebiet dieses Mandats. Rolle von Juden bei der Balfour-DeklarationBei weitem nicht alle Juden befürworteten damals die Deklaration, jedoch konnten in England die Befürworter ihren Einfluss wirksam durchsetzen. Adressat der Deklaration war die zionistische Bewegung, die sich unter Juden im Zarenreich ab 1881 organisierte und 1897 durch den umtriebigen und gut vernetzten Wiener Journalisten Theodor Herzl als "Zionistische Weltorganisation" ihre politische Form fand. Repräsentant der zionistischen Bewegung in England war der im Zarenreich geborene Chemieprofessor Chaim Weizmann. Wichtiger Wegbereiter der Deklaration war Herbert Samuel, jüdisches Mitglied der britischen Regierung 1909-1916. Er entwarf bereits 1914 ein Memorandum The Future of Palestine: Aus den Gebieten des Osmanischen Reichs solle ein jüdischer Staat entstehen; dies sei aber noch nicht durchsetzbar, da die muslimische Bevölkerungsmehrheit nicht von einer jüdischen Minderheit regiert werden könne; daher sei eine britische Oberhoheit über dieses Land sinnvoll, bis so viele Juden eingewandert seien, dass sie Autonomie bekommen könnten. Samuel wurde 1922 der erste Hohe Kommissar Großbritanniens im Mandatsgebiet Palästina. Gegner der Deklaration waren der Vorsitzende des Zentralrats britischer Juden David Lindo Alexander sowie der Begründer des Reform-Judentums in Großbritannien und der World Union of Progressive Jews Claude Montefiore. Sie stellten sich im Mai 1917 in einem gemeinsamen Artikel in der Londoner Times gegen den politischen Zionismus und warnten davor, jüdische Siedler in Palästina mit Sonderrechten gegenüber der arabischen Bevölkerung auszustatten. Der Artikel wurde drei Wochen später von einer knappen Mehrheit im Zentralrat missbilligt, Alexander musste zurücktreten. Aber auch Minister Edwin Montagu, ein Cousin Herbert Samuels und seit Juli 1917 britisches Regierungsmitglied, war entschieden und leidenschaftlich gegen die Deklaration , weil ein "Heimatland Palästina" Juden in ihren eigentlichen Heimatländern zu Ausländern mache, weil es zu Benachteiligung und Vertreibung der Bevölkerung in Palästina führe und weil es bornierte, selbstbezogene Tendenzen im Judentum fördere. Aufgrund seiner Intervention wurde die Balfour-Deklaration so formuliert, "dass nichts getan werden wird, das den bürgerlichen und religiösen Rechten bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina oder den Rechten und dem politischen Status, den Juden in jedem anderen Land genießen, abträglich ist." Die FolgenLeider waren diese Klauseln langfristig nicht wirksam: Vielmehr geschah im Folgenden sehr viel, das den Rechten der arabischen Bevölkerung in Palästina abträglich war. Es geschah im Folgenden auch sehr viel, das den Rechten der Juden in "jedem anderen Land" abträglich war: Große Teile des europäischen Judentums wurden vernichtet. Dies war zwar keine Folge der Balfour-Deklaration, aber die Existenz der jüdischen Heimstätte im Heimatland der arabischen Bevölkerung erwies sich auch nicht als ein Schutz dagegen, vor allem, weil der Widerstand der einheimischen Bevölkerung gegen die von ihnen als kolonialistische Übernahme wahrgenommene jüdische Einwanderung die britische Mandatsmacht zu massiven Beschränkungen dieser Einwanderung zwang - genau zu der Zeit von 1933 bis 1945, in der sie am nötigsten gewesen wäre. Ein trauriger Höhepunkt als Folge der Balfour-Deklaration war mit Ende der britischen Mandatsherrschaft die Naqba 1947/48, die Vertreibung und Enteignung von ca. 750.000 arabischen Menschen durch den neuen jüdischen Staat. Wer’s genauer wissen möchte…Mein gerade erschienenes Buch geht ausführlich auf dieses Thema und die Hintergründe ein. Einen Schwerpunkt des Buchs bilden die Ereignisse im Zarenreich von 1881 bis 1917, denn dort lebte die Mehrheit aller Juden, in diskriminiertem Status, und von dort kommen alle relevanten Strömungen: Zionismus, Auswanderung in die USA, nationalreligiöse Erlösungssehnsucht, Sozialismus, und - durch die Auswanderung nach Mittel- und Westeuropa und durch die Assoziation von Juden zum Sozialismus - der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts. Die britischen "Independent Jewish Voices" haben eine aktuelle kritische Bewertung der Balfour-Deklaration gefilmt: Vorschau und der 24-minütige Film . Auf Mondoweiss ist der Film besprochen . Der jetzige Earl of Balfour, Urenkel von A.J. Balfours Bruder, schrieb im Februar 2017 einen Brief an die New York Times , in dem er - zu Unrecht - humanistische Motive als Hauptgrund der Balfour-Deklaration benennt, aber auch - völlig zu Recht - darauf hinweist, dass unter humanistischen Gesichtspunkten die aus der Deklaration entstandene Lage dringend geändert werden müsse. Anmerkung des Autors: Danke an Nirit Sommerfeld und Götz Schindler für Anmerkungen zum Text. Er findet sich in leicht veränderter Form auch auf dem Blog des Bündnisses zur Beendigung der israelischen Besatzung. Rolf Verleger, Jahrgang 1951, ist Psychologe und war bis 2017 Professor an der Universität zu Lübeck. Er ist Sohn zweier Überlebender der Vernichtung des europäischen Judentums. Von 2005 bis 2009 war er Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland. Seitdem engagiert er sich für Gerechtigkeit in Palästina, ist Mitglied der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost" und Mitgründer und Vorsitzender des "Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung" . Zuletzt erschien von ihm "Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht" sowie "100 Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus" . Weitere Informationen unter www.rolf-verleger.de . Quelle: Rubikon - 31.10.2017. Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz ( Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International ) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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