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An der EU-Außengrenze: Kafkaesker Albtraum

Mit Jean Ziegler zu Besuch im Auffanglager Moria auf Lesbos. Die Lage in den griechischen "Hotspots" soll vor dem UN-Menschenrechtsrat thematisiert werden.

Von Alexander Behr

Nur wenige Kilometer trennen die griechische Insel Lesbos vom türkischen Festland. Von den Strandbars und Restaurants der Hauptstadt Mytilini kann man abends die Lichter auf der türkischen Seite der Ägäis sehen. Im Schutz der Dunkelheit starten fast täglich Boote mit Schutzsuchenden vom türkischen Festland und versuchen, Lesbos zu erreichen. Im Unterschied zum Jahr 2015, als regelmäßig auch untertags zahlreiche Boote an den Küsten der Insel anlegten, ist es heute weit schwieriger, die Meerenge zu durchqueren. Spätestens seit dem EU-Türkei-Deal vom März 2016 setzen die türkische und die griechische Küstenwache, aber auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex und Einheiten der NATO, einiges daran, die Grenze rigoros zu schließen. Laut Deal müssen alle "irregulären Migranten", die ab dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen, in die Türkei zurückgeführt werden. Die griechische Insel Lesbos ist wohl der Ort, an dem sich die hochproblematischen Konsequenzen des EU-Türkei-Deals am offensichtlichsten abzeichnen. Ende Mai hat eine internationale Menschenrechts-Delegation, an der neben Vertreterinnen und Vertretern von medico international und Pro Asyl auch der bekannte UNO-Funktionär und Soziologe Jean Ziegler teilnahm, die Insel besucht.

Das beschauliche Dorf Moria ist von Mytilini aus in einer knappen Viertelstunde mit dem Auto zu erreichen. Seit in einem alten Militärlager am Rande des Dorfes Geflüchtete untergebracht sind, hat sich hier einiges geändert. Im Jahr 2016, nach Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens, lebten zeitweise mehr als 10.000 Menschen hier. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs liegt die Belegung des Camps bei exakt 4.390 Personen - das sind noch immer beinahe doppelt so viele wie offiziell vorgesehen. Das Gelände des offiziellen Camps umfasst viereinhalb Hektar, also etwas mehr als sechs Fußballfelder. Rund herum haben sich informelle Siedlungen ausgebreitet. Die humanitäre Situation ist sowohl im offiziellen Camp als auch in den informellen Siedlungen katastrophal. Während im Inneren des Lagers Container und große Zelte aufgestellt wurden, leben die Menschen in den informellen Siedlungen in improvisierten Hütten aus Plastik-, Karton- und Holzresten.

Miserable Versorgung

Noch kurz vor dem Besuch ist nicht klar, ob die Delegation Zutritt zum Camp bekommen wird. Doch dann werden wir zu unserer Überraschung einfach am Lagertor durchgewunken. Unsere Delegation trifft eine 26-jährige Frau aus der westafghanischen Stadt Herat, die mit ihrem Mann und ihrer vierjährigen Tochter hier ist. Die Familie ist in einem der vielen Baucontainer untergebracht, der ihnen nicht mehr als sechs Quadratmeter Wohnraum bietet - notdürftig mit Decken vom Wohnraum einer anderen Familie abgetrennt. Aus alten Plastikkisten wurden Regale gezimmert, ein Stockbett nimmt fast ein Drittel des Raumes ein.

Jean Ziegler stellt der Familie Fragen und macht sich Notizen. Die junge Frau aus Afghanistan berichtet, sie habe schwere gesundheitliche Probleme. Sie ist im achten Monat schwanger und hat große Angst vor der Entbindung. Im Iran hatte sie sich einer schwierigen Operation unterziehen müssen. Sie und ihr Mann lebten dort ohne gültige Aufenthaltsdokumente. Sie arbeiteten illegal, wurden schlecht oder gar nicht bezahlt und kamen aufgrund der fehlenden Papiere ins Gefängnis. Deshalb seien sie schließlich aus dem Iran über die Türkei hierher geflohen. Hier im Camp gebe es keine Möglichkeit, die Schwangerschaft weiter zu begleiten. Das Essen und die medizinische Versorgung seien vollkommen unzureichend, das Gedränge bei der Essensausgabe oft schrecklich. Nicht selten komme es vor, dass hundert oder zweihundert Menschen einfach nichts bekämen.

Improvisiertes Leben

Wir setzen unseren Besuch fort und gelangen in die informellen Siedlungen, die rund um das offizielle Camp entstanden sind, im "Olive Grove", wie die Bewohnerinnen und Bewohner sagen, also im Olivenhain. Rund 2.000 Menschen leben derzeit hier in Elendsbehausungen. Am höchsten Punkt des steilen Hügels, auf dem das Camp Moria angelegt ist, haben Geflüchtete aus Afghanistan einen eindrucksvollen Tonofen in die Erde eingelassen. Hier wird Nan-Brot gebacken, das afghanische Fladenbrot, und dann für 50 Cent das Stück verkauft. Das Essen im Camp gilt als ungenießbar und vollkommen unzureichend. Viele meinen, das sei Teil der Abschreckungsstrategie: Die Menschen sollen sich in Moria nicht von der Flucht erholen können, und sie sollen sich schon gar nicht wohlfühlen.

Die Anwältin Natassa Strachini aus Lesbos, die für die u.a. von medico geförderte Pro-Asyl-Partnerorganisation Refugee Support Aegean (RSA) arbeitet, ist Teil unserer Delegation. Sie übt scharfe Kritik am EU-Türkei-Deal. Das Abkommen hat eine Art Residenzpflicht installiert. Die fünf griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos wurden so in riesige Gefängnisse für Zehntausende Menschen verwandelt. Das Zauberwort, auf dem alles hier beruht, heißt "vulnerability ", also Verletzlichkeit. Wer als "verletzlich" anerkannt wird, hat Chancen, aufs Festland transferiert zu werden und Zugang zu einem ordentlichen Asylverfahren zu bekommen. Unbegleitete minderjährige Flüchtende, schwangere Frauen, Folteropfer, Opfer von Schiffbrüchen oder von Menschenhandel werden potentiell als vulnerabel anerkannt. Das griechische Gesundheitsministerium entscheidet mit einem notorisch unterbesetzten Team über die Vulnerabilität und damit über die Zukunft der Geflüchteten. Das kann Monate, wenn nicht gar Jahre dauern.

Organisierte Verantwortungslosigkeit

Das Modell Moria ist offensichtlich gänzlich ungeeignet, um vielfach traumatisierte Menschen auf der Flucht unter würdigen oder auch nur halbwegs akzeptablen Bedingungen unterzubringen und zu versorgen. Der Großteil der Flüchtenden, die hier leben, kommt aus Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan, Syrien, Irak , Palästina, dem Kongo oder Eritrea. Der Krieg ist oftmals die erste Quelle für psychische Probleme und Traumata. Die zweite Quelle ist die Flucht selbst; also der Umstand, dass Menschen unter lebensgefährlichen Bedingungen versuchen, an einen sicheren Ort zu gelangen. Zu all dem kommen dann noch die bewusst herbeigeführten miserablen Bedingungen in Moria. Ausbrüche von Gewalt sind da fast vorprogrammiert.

Im Laufe der Delegationsreise verfestigt sich der Eindruck, dass die Menschen, die auf den griechischen Inseln stranden, in einem kafkaesken Albtraum gefangen sind. Es herrscht ein bürokratisches Durcheinander, dem sich niemand entziehen kann. Dabei spielt das European Asylum Support Office (EASO) eine zentrale Rolle. Es hat die Aufgabe, die griechischen Behörden bei der Abwicklung der Asylverfahren zu unterstützen. Im Camp Moria ist ihr Bereich mit unüberwindbaren Zäunen vom restlichen Campareal abgetrennt. Jenseits dessen ist eine unübersichtliche Anzahl an griechischen und internationalen Organisationen im Lager aktiv. Von Frontex über die IOM, den UNHCR und zahlreiche NGOs, die den Asylbehörden oftmals kritiklos zuarbeiten. Es herrscht eine organisierte Verantwortungslosigkeit: Die Lagerleitung spricht von begrenzten Ressourcen, der Bürgermeister macht die Regierung verantwortlich, die Regierung die EU und die EU wiederum Griechenland.

Es geht auch anders

Doch auf Lesbos gibt es auch Beispiele, wie es anders laufen kann. Wir besuchen das Art Hope Center, das nur wenige Autominuten vom Camp Moria entfernt liegt. Freiwillige aus ganz Europa haben gemeinsam mit Schutzsuchenden Ende 2017 dieses selbstverwaltete Kulturzentrum gegründet. Auf Spendenbasis wurden drei große Warenhäuser angemietet, von deren Vorplatz aus man direkt aufs Meer blickt. Jeden Tag kommen 150 bis 200 Menschen aus dem Camp in Moria hierher. Sie sind dringend auf Hilfsgüter angewiesen. Doch mindestens genauso wichtig ist es, von der Tristesse des Lagerlebens abgelenkt zu werden und der Lebenszeit, über die man verfügt, einen Sinn zu geben. Deshalb wird das Kulturangebot des Art Hope Center auch so gut angenommen. Der Ort, der den Charme einer Industriebrache ausstrahlt, ist belebt. Während wir das Gelände besuchen, findet eine Theaterprobe statt, andere malen Bilder oder machen Musik. Ein weiterer Ort der Hoffnung ist das selbstverwaltete Restaurant "Nan" in der Innenstadt von Mytilini. Benannt wurde es nach dem Fladenbrot, das auch am Hügel von Moria gebacken wird. Doch hier arbeiten Geflüchtete mit Bewohnerinnen und Bewohnern von Lesbos Seite an Seite. Es geht also auch anders.

Doch was nützt solch eine Delegationsreise? Wie sieht die Arbeit von Jean Ziegler, der sich im Namen des beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrats der UNO nach Lesbos aufgemacht hat, konkret aus? Jean Ziegler fasst seine Handlungsmöglichkeiten wie folgt zusammen: Der Menschenrechtsrat, der nach der Generalversammlung und dem Sicherheitsrat die drittwichtigste Instanz der UNO ist, hat die Aufgabe, die Menschenrechte in den 193 Mitgliedsstaaten zu prüfen und die Staaten gegebenenfalls zu sanktionieren. Der Rat besteht aus Botschafterinnen und Botschaftern, die einen Beirat von Expertinnen und Experten um sich haben. Jean Ziegler ist Vizepräsident dieses Beirats und somit einer der Experten. Seine Aufgabe besteht darin, die Lage in Moria zu prüfen, einen Bericht mit Empfehlungen an den Beirat zu formulieren und die konkreten Menschenrechtsverletzungen zu benennen, die hier verübt werden. Danach verabschiedet der Beirat eine Resolution und fordert vom Menschenrechtsrat, tätig zu werden, um die Menschenrechtsverletzungen zu beenden. Dies würde laut Ziegler konkret bedeuten, das Camp in Moria zu schließen, die Menschen aufs Festland zu transferieren und von dort eine solidarische Aufteilung auf alle Länder Europas zu erwirken.

Die völkerrechtlichen Instrumentarien, Moria zu schließen, sind also potentiell vorhanden. Letztlich wird dieses Ansinnen aber nur gelingen, wenn unterschiedliche fortschrittliche Kräfte Synergien entwickeln: Basisinitiativen vor Ort wie die NGO Refugee Support Aegean oder das Art Hope Center müssen politisch und finanziell unterstützt werden. Das skandalöse Sterben-Lassen auf den Fluchtrouten muss ein Ende haben ebenso wie die Kriminalisierung der Retterinnen und Retter. In den mächtigen zentraleuropäischen Ländern müssen die breiten Solidaritätsbewegungen gestärkt werden, die sich für die Aufnahme von Schutzsuchenden in Städten und Kommunen einsetzen. Und nicht zuletzt müssen alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft werden, sei es, wie Jean Ziegler fordert, auf der Ebene der internationalen Institutionen oder auf der Ebene der einzelnen Staaten, um das Recht auf Asyl zu verteidigen. Die schlimme Lage der Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln sollte für uns alle ein Weckruf sein.

Alexander Behr lebt als Übersetzer, Journalist und Lektor in Wien und begleitete die Delegation nach Lesbos.

Quelle: medico international - Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2019.

Veröffentlicht am

24. August 2019

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