Altersarmut: Bloß keine ExperimenteDie GroKo hat mit dem Rechenschieber hantiert. So wird das nichts mit einer Vision für ein Rentensystem mit ZukunftVon Ulrike Baureithel Ooorder please! Der Ordnungsruf der Kanzlerin vorige Woche war vielleicht nicht so bühnenwirksam wie der des nun verabschiedeten "Mr. Speaker" im britischen Unterhaus, der dem Brexit-Streit einen fast Shakespeare’schen Glanz verlieh, doch er war offenbar wirksam. Ihre Erinnerung daran, dass eine Volkspartei nicht ständig die Belange von Villenbesitzerinnen im Mund führen sollte, sondern sich auch der Interessen von Bäckerei-Angestellten und Reinigungskräften anzunehmen habe, dürfte mit dazu beigetragen haben, dass sich die Koalitionäre am Wochenende doch noch zusammenrauften. Der Degen, von den Kontrahenten nicht nur in eine Richtung drohend erhoben, steckt wieder in der Scheide, der Machtkampf wurde vertagt, vorerst. Für ein Boulevardblatt ist die Frage, wer "eingebrochen" ist, bereits beantwortet. Immerhin: Angela Merkel ist aufgetaucht, und wie ein begossener Pudel wirkt sie nicht. Formal sind die "Volksparteien" ihrem Auftrag also gerecht geworden, sie haben im Sinne von über 80 Prozent der Bundesbürger gehandelt, die einer Grundrente positiv gegenüberstehen. Insbesondere jüngere Menschen finden, dass Rentner menschenwürdig leben sollen, auch wenn das den selbsternannten Generationsbeauftragten der Jungen Union nicht schmeckt. Weiterhin unverdrossen misst ihr Vorsitzender Tilman Kuban die Fußstapfen eines gewissen Philipp Mißfelder aus, von dem nur noch erinnert wird, dass er den Alten kein neues Hüftgelenk gönnte. Was den Kompromiss zur Grundrente betrifft, haben die Koalitionäre von Union und SPD nicht nur "Gleitzonen" (in Bezug auf Beitragsjahre und Einkommensgrenzen) in das Verhandlungspaket eingezogen, sondern sie auch politisch strapaziert. Die Union musste von der harten Bedürftigkeitsprüfung abrücken, während die SPD die umfassende Einkommensprüfung schluckt, was zu einer ganzen Reihe von Ungerechtigkeiten führt, die in Zukunft die Gerichte beschäftigen dürften. Die Sozialdemokraten mussten außerdem hinnehmen, dass nicht einmal die Hälfte der ursprünglich von ihnen in den Blick genommenen 3,5 Millionen Menschen in den Genuss der Grundrente kommt, einmal abgesehen von denjenigen, die aufgrund unbeständiger Erwerbsverläufe ohnehin nicht von ihr profitieren. Die nach dem ökonomischen Prinzip ausgehandelte Grundrente - die Verteilung eines vorab fixierten Volumens von 1,5 Milliarden Euro im Jahr an eine ebenfalls weitgehend definierte Zahl von Rentnern - hat weder etwas mit dem heutigen und zukünftigen Bedarf zu tun noch mit der Behebung von Altersarmut. Und schon gar nichts mit einer Vision dafür, wie das Rentensystem zukunftssicher gemacht werden kann. Statt angesichts rasant steigender Produktivität den Rentenbezug energisch von der Leistung zu entkoppeln, hat die Koalition den Abakus walten lassen. Aber um Visionen ging es auch gar nicht, weil die Sachdebatte verkoppelt wurde mit der Machtfrage. Wie weit will die Union der SPD noch entgegenkommen angesichts einer koalitionären Halbzeitbilanz, nach der die SPD 73 Wahlversprechen erfüllen oder auf den Weg bringen konnte, die Union aber nur 32? Und wie vermag sich eine völlig entkernte SPD noch zu profilieren, wenn selbst die verbliebenen Wähler diese Erfolge nicht erkennen, weil die beiden Parteien fast ununterscheidbar geworden sind? In beiden Fällen kommt das innerparteiliche Machtvakuum hinzu. Ein sich über Monate hinziehendes, ermüdendes Findungsverfahren für den SPD-Vorsitz; in der CDU eine Vorsitzende, die ihre Macht nicht festigen kann und der nur noch wenig Zeit bleibt, die Merkel-Nachfolge gegenüber Seiteneinsteigern für sich zu reklamieren. Doch so, wie die Wahlkarten künftig gemischt sind, werden solche Sachfragen gewiss nicht mehr von dem noch bestehenden Koalitionsbündnis entschieden. Wenn man zugunsten der Union einmal unterstellt, dass sie auch in der nächsten Legislaturperiode die Kanzlerschaft stellt und, soweit die Decke breit genug ist, die Grünen sich mit ihr ins Bett legen: Wie würde deren gemeinsame Vorstellung von einer zukunftssicheren Altersversorgung aussehen? Beim ausgehandelten Kompromiss monieren die Grünen aktuell nur die Zugangshürden und plädieren sehr bescheiden für 30 Beitragsjahre statt 35. Programmatisch bleiben sie der Bürgerversicherung verpflichtet, in die auch Beamte und Selbstständige einzahlen. Das Problem wäre allerdings nur aufgeschoben, weil die neuen Beitragszahler ebenfalls neue Anwartschaften aufbauen. Deshalb favorisieren die Grünen einen Bürgerfonds als Alternative zur Riester-Rente und anderen Formen der privaten Vorsorge. Er soll Menschen mit kleinen Einkommen absichern und sie an den Wohlstandsgewinnen teilhaben lassen. Nicht unvorstellbar, dass ein solcher (kapitalgedeckter) "Staatsfonds", wie ihn Bernd Riexinger von der Linken nennt, in der Union und vielleicht sogar in der FDP auf Gegenliebe stieße. Die Linke bleibt bei der Forderung einer Solidarrente von 1.050 Euro in Ost und West, der Anhebung des Rentenniveaus und der Beitragsbemessungsgrenze, die 2020 bereits bei 82.800 Euro jährlich liegt. Ob das ausreichen wird, um die Rentenversicherung auf stabilere Beine zu stellen? Wahrscheinlich ist die Linke gar nicht in der Pflicht, das zu beweisen, denn ein rot-rot-grünes Experiment ist nicht in Sicht. Quelle: der FREITAG vom 15.11.2019. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|