Der Planet Erde ist zu wichtig, als dass er scheitern dürfteSelbst in Notfällen, wenn wir uns bemühen, den schlimmsten Schaden abzuwenden, müssen wir die zugrunde liegenden Ursachen der Krise angehen und das herrschende Paradigma verändern.Von Michael Nagler Nachdem das Thema Jahrhunderte lang vernachlässigt worden ist, erleben wir jetzt das Erscheinen vieler nützlicher Schriften über die "mächtigste Kraft, die der Menschheit zur Verfügung steht" - so nannte Gandhi Gewaltfreiheit. Die lange Vernachlässigung beraubte uns der bitter notwendigen Werkzeuge und einer ebensolchen Lebensweise. Warum wurde das Thema so lange vernachlässigt? Nicht etwa wegen einer bloßen Perversität der menschlichen Natur, sondern wegen etwas, das wir, wenn auch mit großer Mühe, ändern können: wegen des zugrunde liegenden Paradigmas oder der "Story", das oder die das Bewusstsein im Westen wenigstens seit der Zeit der industriellen Revolution beherrscht. Dank Erica Chenoweth’ und Maria Stephans bahnbrechender Untersuchung Why Civil Resistance Works und einer Welle von Untersuchungen von Wissenschaftlern und Aktivisten der Gewaltfreiheit aus ihren unterschiedlichen Blickwinkeln stehen uns jetzt Werkzeuge zur Verfügung, mit denen wir diese Vernachlässigung und sogar das veraltete Paradigma angehen können. An dieser Stelle möchte ich mich auf zwei Einsichten aus den neuen Arbeiten beziehen. Die erste stammt aus Rabbi Michael Lerners neuem Buch Revolutionary Love . Lerner weist auf eine wesentliche Eigenschaft des Menschen hin (auch die wird im herrschenden Paradigma vielfach vernachlässigt): Wir haben tiefe sowohl spirituelle als auch materielle und emotionale Bedürfnisse. Diese werden nicht nur vernachlässigt, sondern in unserer gegenwärtigen Kultur wird nicht einmal ihre Bedeutung erkannt. Lerner weist darauf hin, dass diese Bedürfnisse "von der Rechten manipuliert und von der Linken ignoriert" werden. Ich kann mir keine bessere Zusammenfassung unseres gegenwärtigen Dilemmas vorstellen. Was wir auch tun, welche Gräueltaten wir auch wiedergutzumachen versuchen, wir täten gut daran, uns zu fragen: Kann ich das so tun, dass ich dabei auch die tiefsten menschlichen Bedürfnisse berücksichtige? Und zwar auf eine Weise, dass boshafte Manipulation an uns abprallt? Daniel Hunter wirft in seinem zeitgemäßen und praktischen Climate Resistance Handbook einiges Licht auf diese Frage. Das Werk ist eine hervorragende Quelle; der Verfasser stellt es zum kostenlosen Herunterladen zur Verfügung. Angesprochen sind damit alle, die kürzlich die Leugnung des Klimawandels verworfen haben. Der Untertitel lautet: Ich habe an einer Klimaaktion teilgenommen. Und was weiter? Hunter spricht von einer Frustration, die viele von uns erfahren haben: Wie schwer ist es doch, Politiker dazu zu bringen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen! Er schreibt: Ein Politiker ist wie ein an einem Felsen festgebundener Ballon. Man kann ihn ein wenig nach rechts oder links bewegen (gewöhnlich nicht einmal das), aber das genügt selten dafür, eine Änderung zu bewirken. Was sollen wir also tun? "Den Felsen bewegen!" Der Felsen wird bewegt, wenn Menschen dazu gebracht werden, ihren Wertvorstellungen gemäß zu handeln. Wir müssen "die Vorstellung von Politikern, welche politischen Risiken sie eingehen und welche Möglichkeiten sie haben und was ihre Wählerschaft und das allgemeine Klima der öffentlichen Meinung von ihnen erwarten, ändern." Wir können die Metapher ergänzen. Der Felsen hat, wenn man so will, ein Grundgestein. Das ist das eben erwähnte allgemeine Paradigma oder die allgemeine Story. Wie Donald Gerbner von der Annenberg School for Communication and Journalism bekanntermaßen sagte: "Einer, der die Storys einer Kultur beherrscht, braucht sich keine Sorgen darum zu machen, wer die Gesetze macht." Die verstorbene glänzende britische Philosophin Mary Midgley nannte die Zeit, die wir durchlaufen, und den Grund für die Tatenlosigkeit hinsichtlich des Klimas "einen Begriffsnotfall". Wenn ein Mensch - oft unbewusst - glaubt, dass andere Menschen wirklich "andere" sind, dass wir voneinander getrennte materielle Wesen sind, die sich auf Wettkampf und schließlich auf Gewalt einlassen müssen, dann wird es möglich, den Menschen einzeln, systemisch und schließlich auch strukturell auszubeuten. Dieser Glaube ist ein fundamentales Dogma der alten Story; die Reklame greift es begierig auf: "Du hast keine inneren Ressourcen, du musst unbedingt X kaufen!" und Politiker manipulieren damit: "niemand vertritt deine Interessen und du bist von Feinden umgeben, die nur mit Gewalt von dir ferngehalten werden können." Die "neue" Story, die sich seit einiger Zeit Gehör zu verschaffen versucht, enthält die genau entgegengesetzte Sichtweise: Wir sind spirituelle Wesen, die sich entwickeln; alles Leben ist ein in sich verbundenes Ganzes - in Wirklichkeit ist das Leben eines. Wir und der Planet gehören zu einem in sich verbundenen System: Wenn wir andere verletzen, verletzen wir uns selbst. Ich schreibe "neu" in Anführungsstrichen, denn die weisesten Lehrer der Menschheit haben das schon vor langer Zeit gesagt und die heutige Wissenschaft bestätigt es auf dramatische Weise. Hier ein Beispiel: Wir wissen seit 1988, dass unser Gehirn "Spiegelneuronen" enthält. Diese reflektieren genau, was wir andere tun sehen, und sie sorgen dafür, dass wir das empfinden, was andere erfahren. Der Neurowissenschaftler Marco Iacoboni schreibt: "Wir haben eine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen entwickelt. Das bedeutet unter anderem: Auch wenn wir denken, Schmerz wäre eine grundsätzlich private Erfahrung, behandelt unser Gehirn fremden Schmerz doch als eine Erfahrung, die wir mit anderen gemein haben." Wenn wir diese und andere Einsichten einer neuen Story zum "Grundgestein" unseres Selbstbildes machen könnten, wären die meisten schädlichen Haltungen und Grundsätze, die psychischen, wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Schaden anrichten, obsolet. Hier ein Beispiel aus unserer Zeit: Der Präsident steht im Augenblick der Aussicht seiner längst fälligen Amtsenthebung gegenüber. Falls/wenn sie durchkommt, können wir beginnen, unsere nationale Selbstachtung zurückzugewinnen, denn wir stehen schlimm angeschlagen vor der Weltgemeinschaft da. Wenn die Menschen ihn jedoch zum Sündenbock für das katastrophale Versagen eines inzwischen tief eingewurzelten Systems machen, dann wird das weder ausreichen noch wird es nachhaltig sein. Wie Mike Lofgren kürzlich in Truthout geschrieben hat: "Seit 1980 können wir beobachten, wie die Kulturindustrie ihn geduldig Stück für Stück zusammensetzt. Die Medienzare begreifen, dass seine fingierte Rolle die verbotenen Wunschprojektionen von Millionen psychisch verklemmter und verbitterter Individuen verkörpert." Wenn er seines Amtes enthoben wird, wird das den Ballon bestenfalls ein kleines bisschen bewegen - bis der Windstoß durch dieselben Medienzare mit denselben reaktionären Elementen von der anderen Seite kommt. Aber wenn sich genügend Amerikaner nicht von der Sündenbock-Strömung mitreißen lassen, sondern dauerhaftere Veränderungen erzwingen wollen, mit deren Hilfe die Angriffe auf die Demokratie durch Citizens United, Ausschluss von Wahlen und Betrug der Wähler durch ausländische und inländische Einmischung abgewehrt werden können, sodass wir wenigstens zum Pariser Abkommen zurückkommen, wenn nicht gar einen Grünen New Deal abschließen - dann werden wir "den Felsen bewegen". Aber dabei wollen wir nicht stehenbleiben. Ich glaube fest daran, wir sollten selbst in Notfällen, wenn wir "den schlimmsten Schaden abwenden" müssen, wie Joanna Macy sagt, nicht vergessen, die zugrunde liegenden Ursachen dieses Schadens anzugehen. Wenn ich dies schreibe, sitze ich in der von Qualm vergifteten Luft in West Marin County (nahe San Francisco), ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Mir ist vollkommen bewusst, dass der schlimmste Schaden behoben werden muss! Aber ich denke darüber hinaus: Wir sollten uns die Zeit nehmen, an dem wirklich großen Bild zu arbeiten: dem herrschenden Paradigma. Die Vorstellung, dass wir aus regloser Materie in einem zufälligen Universum entstanden sind, ist nicht besonders inspirierend. Aber eines, das wir über "Paradigmenwandel"- einen ansonsten geheimnisvollen Prozess - gelernt haben, ist, dass eine obsolete Story nur durch eine bessere infrage gestellt und ersetzt werden kann. Wie Buckminster Fuller sagt: "Dadurch, dass man eine vorhandene Realität bekämpft, ändert man nie etwas. Wenn man etwas ändern will, muss man ein neues Modell bauen, durch das das vorhandene obsolet wird." Die wesentlichen Bestandteile dieser neuen Realität sind jetzt in dem neuen Zusammenlaufen alter Traditionen sowohl indigener als auch "fortschrittlicher" Kulturen mit dem neuesten Stand der modernen Wissenschaft enthalten. (Mehr über diese faszinierende Entwicklung steht in meinem in Kürze erscheinenden Buch The Third Harmony: Nonviolence and the New Story of Human Nature.) Dort heißt es:
All das führt uns zur Gewaltfreiheit und besonders - denke ich - zu Gandhi zurück. Alles, was er sagte und tat - ob er nun zu einem Kind im Aschram, zu einer großen Menschenmenge oder zum Vizekönig von Indien sprach, ob er neue Techniken für die Dorfindustrie erprobte, wegen "Aufruhr" verhaftet wurde oder mit seiner Majestät, dem König und Kaiser, Tee trank: Sein Hintergedanke bei allem war, das Menschenbild zu heben. Wenn er sagte, alle seine Aktivitäten rührten von seiner "unersättlichen Liebe zur Menschheit" her, ist das nur eine Art und Weise, Liebe auszugedrücken. Diese Liebe war die Motivation, die sein Handeln auf allen Lebensgebieten antrieb, von der Spiritualität über die Gesundheitsversorgung bis zur politischen Freiheit. Damals waren die Inder durch die Illusion ihrer Hilflosigkeit vor den britischen Bajonetten eingeschüchtert. Viele Amerikaner fühlen sich wegen unseres entwürdigenden kulturellen Narrativs hilflos und wegen derer, die es zynischerweise für das benutzen, was sie für ihren eigenen Vorteil halten. Was können wir tun, um Gandhis Projekt in unserer Situation fortzuführen? Diese Frage hat mich einige Zeit über beschäftigt. Vor Jahrzehnten habe ich eine Liste ausgearbeitet, in der ich fünf Schritte nenne, die jede/r Einzelne tun kann. Kein anderer als der verstorbene Marshall Rosenberg, der Gründer der gewaltfreien Kommunikation (die sich natürlich mit der Gewaltfreiheit im engeren Sinn überschneidet) ermutigte mich. Die Formulierung dieser fünf Schritte wurde dann in vielen Gesprächen mit Freunden und Kollegen ausgefeilt.
Ein Paradigma ändert sich nicht von selbst, auch wenn es noch so würgend und gefährlich geworden ist. Es kann sich ändern, wenn eine attraktive Alternative bereitsteht und wenn Menschen es hier, dort und überall in aller Stille unterstützen. Dieser Text wurde im Metta Center for Nonviolence verfasst. Michael Nagler ist emeritierter Professor der klassischen und vergleichenden Literatur der University of California, Berkeley. Dort hat er das Friedens- und Konfliktforschungs-Programm mitbegründet. Außerdem ist er Gründer des Metta Center for Nonviolence und Autor des preisgekrönten Buches Search for a Nonviolent Future. Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler Quelle: Waging Nonviolence . Originalartikel: Planet Earth is too big to fail . Eine Vervielfältigung oder Verwendung des Textes in anderen elektronischen oder gedruckten Publikationen ist unter Berücksichtigung der Regeln von Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) möglich. Weitere Texte von Michael Nagler:
Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|