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Antimilitarismen in Bewegung

Ein Bericht aus Kolumbien

Von Gernot Lennert

"Antimilitarismos en Movimiento" (Antimilitarismen in Bewegung) war der Titel der Konferenz der War Resisters’ International 2019 in Bogotá, gestaltet in Zusammenarbeit mit kolumbianischen antimilitaristischen Gruppen.

Die War Resisters’ International (WRI, Internationale der KriegsdienstgegnerInnen) ist die 1921 unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs gegründete pazifistische Internationale mit Mitgliedsorganisationen in zurzeit 47 Ländern. Hinzu kommen regionale Netzwerke wie in Hispanoamerika die Red Antimilitarista de América Latina y el Caribe (RAMALC, Antimilitaristisches Netz von Lateinamerika und der Karibik) und das Pan-African Nonviolence and Peacebuilding Network (PANPEN, Pan-Afrikanisches Netzwerk für Gewaltfreiheit und Friedensaufbau). Deutsche Sektionen der WRI sind u.a. die bundesweit präsente Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) und die vorwiegend im Raum Berlin tätige Internationale der Kriegsdienstgegner*innen (IDK). Die Zeitschrift Graswurzelrevolution ist assoziiertes Mitglied der WRI.

Neben einer öffentlichen dreitägigen Konferenz tagte die Versammlung (Assembly) der WRI, die ungefähr alle vier Jahre zusammentritt, das höchste Entscheidungsgremium bestehend aus Delegierten der Mitgliedsorganisationen. Nach der Versammlung traf sich der neu gewählte Rat der WRI zu seiner konstituierenden Sitzung. Er besteht aus zwölf individuell von der Versammlung gewählten Mitgliedern und je einer Person pro Sektion. Er tagt jährlich, physisch oder elektronisch. Bei den WRI-Konferenzen kommen pazifistisch und antimilitaristisch Aktive aus allen Kontinenten zusammen. Sie treffen langjährige Mitstreiter*innen wieder, knüpfen neue Kontakte und verabreden neue gemeinsame Aktionen und Projekte.

Plenumsvorträge, Themengruppen, Workshops

Vorträge im Plenum - zur Situation in Kolumbien, in Lateinamerika und in der Welt - eröffneten die öffentlichen Konferenztage, gefolgt von Arbeit in über alle Tage hinweg tagenden Themengruppen (Mesas temáticas) mit den weit gefassten Themen Gerechter Friede, Diverser Friede und Nachhaltiger Friede. An zwei Spätnachmittagen blieb Raum für thematisch konkretere kürzere Workshops, z.B. zu Kriegsdienstverweigerungskampagnen in Südkorea und Kolumbien, zu Menschenrechten in Mexiko sowie ein Workshop zur Vorbereitung einer gewaltfreien Straßentheater-Aktion zum Ende des öffentlichen Teils der Konferenz.

In der öffentlichen Konferenz zeigte sich, dass in der antimilitaristischen und pazifistischen Bewegung in Lateinamerika andere Themen im Vordergrund stehen als in der europäischen Friedensbewegung. Menschenrechtsverteidigung, Militarisierung von Grenzen gegen Flüchtlinge (z.B. zwischen den USA und Mexiko), die spezielle Unterdrückung von Indigenen und afrolateinamerikanischen Menschen sowie der Extraktivismus, womit die rücksichtslose auf Gewalt gestützte Ausbeutung der Ressourcen zum Schaden der Bevölkerung und der Umwelt gemeint ist. Erstaunlich war, dass die Situation in Venezuela nicht thematisiert wurde. Die Kampagnen gegen Waffenhandel verbinden Aktive der Friedensbewegung über Kontinente hinweg. Kein Thema waren die Spannungen zwischen NATO/EU einerseits und Russland andererseits sowie die Kriege im Nahen Osten. Sie sind aus lateinamerikanischer Sicht offenbar ziemlich fernliegend, mit Ausnahme der Palästina-Solidarität.

Workshop: "Selbstbestimmung, Gewissensgefangene und Entkolonialisierung heute"

In diesem Workshop stellten gewaltfreie Aktive aus Ambazonia, Westpapua und Westsahara die jeweiligen Kämpfe um Eigenständigkeit und ihre Bewegungen vor. Auch Puerto Rico war Thema. Ambazonia nennt die dortige separatistische Bewegung den englischsprachigen Teil Kameruns. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die vormalige deutsche Kolonie in ein kleineres britisches und ein größeres französisches Mandatsgebiet geteilt. 1961 musste die Bevölkerung Britisch-Kameruns zwischen Anschluss an Nigeria oder ans frankophone Kamerun wählen. Der nördliche Teil stimmte für den Anschluss an Nigeria, Britisch-Südkamerun entschied sich für einen föderativen zweisprachigen Staat zusammen mit der frankophonen Republik Kamerun. Doch der Bundesstaat Kamerun wurde Schritt für Schritt in einen stark von Frankreich abhängigen Einheitsstaat umgewandelt und die politische und kulturelle Autonomie des englischsprachigen Teils immer mehr eingeschränkt. Seit den 1980er Jahren wuchsen unter der sich auch wirtschaftlich benachteiligt sehen den anglophonen Bevölkerung der Widerstand und das Streben nach Wiederherstellung der Eigenständigkeit. Heute sind der Erhalt des von der Zentralregierung attackierten englischsprachigen Bildungssystems und des in der Tradition des Common Law stehenden Rechtssystems die Hauptkonfliktpunkte.

2017 eskalierten die Auseinandersetzungen zum bewaffneten Konflikt mit bisher mindestens 1000 Toten, Tausenden von Flüchtlingen und mit Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen seitens der Regierung und seitens "ambazonischer" und "südkamerunischer" bewaffneter Organisationen. Bei der Konferenz wurden das Ambazonia Prisoners of Conscience Support Network sowie der Réseau des Défenseurs des Droits Humains en Afrique Centrale (REDHAC, Central Africa Human Rights Defenders Network) in die WRI aufgenommen.

Ebenfalls aufgenommen wurde Pasifika in Westpapua, der westlichen Hälfte Neuguineas. Pasifika setzt sich für Gewaltfreiheit, Menschenrechte und Selbstbestimmung in Westpapua ein und pflegt Kontakte nach Australien und in die pazifische Inselwelt. 1963 wurde das damalige Niederländisch-Neuguinea an Indonesien angegliedert. Seitens der Bevölkerung Westpapuas stimmte eine nicht-repräsentative Versammlung zu, deren Mitglieder von indonesischen Behörden ausgesucht worden waren. Seitdem wird Indonesien von der indigenen Bevölkerung mehrheitlich als Kolonialmacht wahrgenommen. Schon kurz nach der WRI-Konferenz brachten Massenproteste in Westpapua gegen die rassistische Verfolgung papuanischer Studenten in Java die Menschenrechtssituation in Westpapua weltweit in die Nachrichten. Der indonesische Staat schickte erneut Truppen gegen die Demonstrationen, sechs Demonstrierende wurden getötet. Auch über das Netzwerk der WRI wurde Protest mobilisiert. Militär und Polizei Indonesiens beziehen Waffen, mit denen sie gegen Demonstrationen vorgehen, aus dem Ausland. Daraus ergibt sich für politisch Aktive in Südkorea, Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland ein Hebel um gegen die menschenrechtsverletzende Politik Indonesiens vorzugehen. Deutschland beteiligt sich an der Ausbildung der indonesischen Polizei. Aktive von Pasifika sagen dazu: "Was Ihr in Deutschland schaffen müsst, ist, eure Regierung davon abzuhalten, die indonesische Polizei zu trainieren und zu bewaffnen, die der größte staatliche Gewaltakteur ist." (Zivilcourage Nr. 4/2019 S. 12)

Workshop: Gegen die Rückkehr der Zwangsrekrutierung

In den letzten Jahren haben einige Staaten die sogenannte Wehrpflicht reaktiviert oder erstmals eingeführt: wie die Ukraine, Georgien, Litauen, Schweden, Marokko, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Staaten. Anderswo, wie in Deutschland oder den Niederlanden, wird die Wiederbelebung und Ausweitung der Zwangsdienste gefordert. Im Workshop berichteten die beiden westsaharischen Aktivist*innen von der Härte des von den Jugendlichen gefürchteten Militärdienstes in Marokko, wo die Zwangsrekrutierten zum Minenräumen eingesetzt werden und generell als Werkzeuge benutzt werden, um deren Wohlergehen sich der Staat, wenn sie z.B. in Gefangenschaft geraten, nicht kümmert.

Der Workshop war als Ort des Austauschs über die aktuellen Entwicklungen in verschiedenen Ländern und zur Diskussion von Gegenstrategien gedacht. Es nahmen zwar kompetente und kenntnisreiche Aktive aus der Westsahara, Großbritannien, Deutschland und Finnland teil, doch es fehlten Leute aus den betroffenen Ländern, wo die Zwangsdienste gerade wieder eingeführt wurden und werden. Es hätte spannend sein können, zu erfahren, wie die sogenannte Auswahlwehrpflicht in Schweden funktioniert, die als Modell für andere Staaten diskutiert wird, und wie sich Friedensgruppen dazu verhalten, wie in Frankreich der Widerstand gegen den gerade eingeführten Service national universel, ein paramilitärischer Zwangsdienstmonat für 15- bis 18-Jähriige aussieht, und wie über die Reaktivierung von Zwangsdiensten in anderen Ländern diskutiert wird. Doch die meisten an Kriegsdienstverweigerung interessierten Teilnehmenden der Konferenz kamen aus Ländern, in denen man weit davon entfernt ist, über Reaktivierung der Zwangsrekrutierung zu diskutieren, weil sie nie abgeschafft oder ausgesetzt worden war. In den meisten Staaten Lateinamerikas, Südkorea, der Türkei, Israel und Finnland geht es nach wie vor darum, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung durchzusetzen und die Lage der Verweigernden zu verbessern. Eine Herausforderung für die WRI ist es, sich transnational dem Trend zu militärischen und zivilen Zwangsdiensten entgegenzustellen.

Kriegsdienstverweigerung

Ein Erfolg der WRI ist die internationale Kampagne fürs Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Südkorea, wo gerichtlich das Recht auf einen Alternativdienst für Kriegsdienstverweigerer anerkannt worden ist. Die WRI will mit weiteren Aktivitäten zu Südkorea daran anknüpfen, um möglichst erträgliche Konditionen für Kriegsdienstverweigerer zu erreichen.

Wiederbelebung der WRI-Versammlung?

Es zeigte sich eine Kluft zwischen der gut besuchten öffentlichen Konferenz einerseits und der schwach besuchten WRI-Versammlung andererseits. Vermutlich haben viele Teilnehmende an der öffentlichen Konferenz die WRI kaum mitbekommen. Dazu beigetragen hat sicher, dass die WRI-Versammlung, die eigentlich das Herzstück der Gesamtkonferenz sein sollte, fast nur noch die turnusgemäß notwendigen Wahlen zum Rat der WRI durchführt und organisatorische Fragen klärt. Sie ist aber kaum noch Ort für inhaltliche Grundsatzdiskussionen. Es ist angenehm, dass Versammlung und Ratstreffen der WRI in einer harmonischen Atmosphäre im Konsens entscheiden. Doch wenn Kontroverses vermieden wird, verlieren solche Treffen an Attraktivität. Gerade die Situation in Venezuela hätte man thematisieren können. Selbst wenn man sich nicht auf eine gemeinsame Position hätte einigen können, hätte man wenigstens erfahren können, welche Einschätzungen und Meinungen es dazu überhaupt im WRI-Spektrum und in den lateinamerikanischen Gruppen gibt.

Globalisierung der WRI

Die WRI war noch in den 1980er Jahren eine fast ausschließlich auf Westeuropa, Nordamerika und Indien beschränkte Organisation. In den 1990er Jahren kamen die dynamischen antimilitaristischen Bewegungen in der Türkei und in Lateinamerika hinzu, es folgten das afrikanische Netzwerk und die sehr aktive Sektion in Südkorea und Mitgliedsorganisationen in Nepal. Doch bei aller Freude über diese Globalisierung bröckelt die europäische Basis. Wenn bei WRI-Konferenzen aus einst in der WRI wichtigen westeuropäischen Ländern niemand kommt, ist das besorgniserregend. Noch düsterer sieht es bezüglich Osteuropas aus. Zwischen Tschechien und Südkorea klafft für die WRI eine riesige eurasische Lücke ohne jegliche Mitgliedsorganisationen in so wichtigen Ländern wie Polen, der Ukraine und Russland.

100 Jahre WRI

Die Hundertjahrfeier der WRI soll 2021 möglichst nah am Gründungsort der WRI in Bilthoven bei Den Haag stattfinden, in Verbindung mit einem Ratstreffen der WRI.

Kolumbien: Weiterhin Gewalt

Trotz des seit 2017 umgesetzten Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerrillabewegung Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia - Ejército del Pueblo (FARC-EP, Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens - Volksarmee) und spürbarer Verbesserungen und großer Fortschritte hat die Gewalt nicht aufgehört.

An der zentralen Kreuzung von Bogotá gibt es einen täglichen eindrucksvollen Dauerprotest, bei dem Bilder und Dokumente von Menschen gezeigt werden, die durchs Militär ermordet worden sind. Typisch sind dafür die "falsos positivos": das Militär ermordete unbeteiligte Zivilpersonen, um dies dann als Erfolgsmeldung über die Tötung von Mitgliedern der Guerilla zu verkaufen. Am 26. Juli, kurz vor Konferenzbeginn, konnte ich in Bogotá eine beeindruckende Demonstration von "mehr als 15.000 Menschen" (ADN 27.7.2019) gegen die Morde an Hunderten von "lideres y lideresas sociales" (soziale Führer und Führerinnen), wie führende Aktive sozialer Bewegungen in Kolumbien genannt werden. beobachten. Seit dem Friedensabkommen sind bis zu 800 Menschen aus politischen Gründen ermordet worden. Bei meinem Aufenthalt im August 2019 stieß ich fast jedes Mal, wenn ich in kolumbianische Zeitungen schaute und Fernsehnachrichten sehen konnte, auf Meldungen von neuen Morden, vor allem an Menschen aus der indigenen und auch afrokolumbianischen Bevölkerung in ländlichen Gebieten, die, wenn sie kommerziellen Aktivitäten wie Bergbau, Landwirtschaft oder Drogenhandel im Weg sind, häufig ermordet werden. ( Morde an Angehörigen der gewaltfreien Guardia Indígena im Oktober .) In Zeitungen wird immer wieder ermordeter Journalist*innen gedacht.

Neben Aktiven sozialer Bewegungen sind etwa 150 Politiker*innen der Partei FARC (Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común, Alternative Revolutionäre Kraft des Miteinander), in der sich die meisten ehemaligen Angehörigen der Guerillabewegung organisiert haben, um als legale Partei am politischen Prozess teilzunehmen. Wegen dieser als unzumutbar empfundenen Morde erklärte Ende August 2019 ein Teil der FARC, den bewaffneten Guerillakampf wieder aufzunehmen. Auch zuvor gab es schon FARC-Dissidenten, die sich nie auf den Friedensprozess eingelassen hatten, ebenso wenig wie die zweite größere Guerillaorganisation Ejército de Liberación Nacional (ELN, Nationale Befreiungsarmee).

Kolumbien ist ein konservatives Land, das im Unterschied zu den Nachbarländern keine linken Regierungen hervorgebracht hat. Die Landverteilung ist die ungleichste in ganz Lateinamerika. Nationalismus und katholische Religion sind stark ausgeprägt. Die Nationalflagge und der Personenkult um den Libertador (Befreier) Bolívar sind allgegenwärtig, nicht nur bei den aufwändigen Feiern zum 200jährigen Jahrestag der Unabhängigkeit anlässlich der Schlacht von Boyacá am 7. August 1819. Die Schlacht markiert die Besiegelung der Unabhängigkeit von Spanien.

Dass das Friedensabkommen mit den FARC von einer knappen Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum abgelehnt worden ist, bevor es dann in modifizierter Form doch noch abgeschlossen wurde, zeigt die Stärke des Konservatismus in Kolumbien, aber auch, dass viele Menschen unter der Gewalt der FARC gelitten haben und ihr keine Sympathie entgegenbringen. Auch wenn die großen Drogenkartelle von Medellín und Cali zerschlagen worden sind, geht der Drogenhandel weiter. Die Gewalt hat in den letzten Jahren bedeutend nachgelassen. Doch es gibt noch immer eine unübersichtliche Gemengelage zwischen kriminellen Banden und mehr oder weniger mit politischen und wirtschaftlichen Interessen verflochtenen Gewaltakteuren.

Quelle: graswurzelrevolution   4. Dezember 2019.

Veröffentlicht am

19. Dezember 2019

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