Niger: Vom Drehkreuz zur SackgasseIn Agadez versucht die EU Migration mit allen Mitteln zu unterbinden. Eine Reise ins Zentrum Nigers.Von Ramona Lenz Schnurgerade von Schlaglöchern durchsetzte Sandstraßen führen durch die Wüstenstadt Agadez. Gesäumt werden sie von Lehmmauern, die die Höfe der Wohnhäuser umschließen. Vor einer solchen Mauer lassen uns unsere Partner von der nigrischen Journalist*innenvereinigung Alternative Espaces Citoyens (AEC) aussteigen. Es ist bereits dunkel, die Straßen sind verwaist. Eine Tür in der Lehmmauer öffnet sich und wir schieben uns hindurch. Unter freiem Himmel setzen wir uns um das spärliche Licht eines Smartphones herum auf den Boden. Der 29-jährige Lamin MbogePseudonym aus Gambia ergreift das Wort: "Wir wollen in Europa arbeiten, um unsere Familien zu Hause zu unterstützen. Da wir nicht einfach in ein Flugzeug steigen können, müssen wir es auf diese Weise versuchen", erklärt er und blickt schulterzuckend um sich. Zurzeit leben fünf Migranten in diesem Getto. So werden hier die Unterkünfte genannt, in denen Migrant*innen möglichst geräuschlos und unsichtbar auf Gelegenheiten warten. Obwohl Gettos für illegal erklärt wurden, ist dieses nicht das einzige in der Stadt. In Gambia war Mboge mehr als zehn Jahre lang als Tourist*innenführer tätig, doch: "Die Leute haben immer öfter ‚all inclusive’ gebucht. So konnte ich als Guide kein Geld mehr verdienen." Gemeinsam mit rund 50 anderen machte er sich daher auf den Weg. Von den meisten hat sich die Spur verloren, aber Mboge weiß von zweien, die inzwischen in Europa sind. "Einer hat es kürzlich nach Malta geschafft und ist sehr glücklich." Sie kennen die GefahrenSolche Geschichten machen den jungen Männern Hoffnung. Dabei wissen sie sehr genau, dass man mit der Ankunft in Malta noch lange nicht am Ziel seiner Träume ist. "Ständig kommen Leute und wollen uns sensibilisieren", sagt Mboge und erklärt, dass zahlreiche Nichtregierungsorganisationen in Agadez über die Gefahren der Migration und die schwierige Situation in Europa aufklären. Auch die den Vereinten Nationen angegliederte Internationale Organisation für Migration (IOM), die in Agadez ein großes Transitzentrum betreibt und so genannte "freiwillige" Rückkehr fördert, hat sie schon mehrfach angesprochen. "Sie bringen Bücher, Flyer und Videos. Aber wir wissen selbst, wie gefährlich das alles ist und dass es in Europa nicht einfach ist. Und ja, wir haben Angst. Aber was sollen wir denn tun? Lasst es uns doch einfach versuchen. Noch habe ich Kraft. Wenn ich gar keine Möglichkeit mehr sehe, kann ich mich immer noch zu einer Rückkehr entschließen." Seit Monaten wartet Mboge auf eine Gelegenheit, seine Reise Richtung Norden fortzusetzen. Doch er hat kein Geld mehr, um sie zu finanzieren. "Auf dem Weg von Gambia nach Niger bin ich durch Senegal, Mali und Burkina Faso gereist. Dabei habe ich 25 bis 30 Checkpoints passiert. Jedes Mal musste ich zahlen." Zum Glück sei der Besitzer der Unterkunft nachsichtig, wenn die Miete mal zu spät komme, und eine Nachbarin versorge sie gelegentlich mit Strom und Wasser. Wie er Geld für die Weiterreise auftreiben will? Mboge weiß es nicht. Lange Zeit galt Agadez als eines der letzten Nadelöhre für subsaharische Migrant*innen Richtung Nordafrika und Europa. Die Einwohner*innen der Stadt, auch viele Zugezogene, lebten über Jahrhunderte hinweg von Dienstleistungen für Menschen auf der Durchreise: Händler*innen, Tourist*innen und zuletzt eben Migrant*innen. Doch die Funktion eines Drehkreuzes hat die Stadt weitgehend eingebüßt. Der Tourismus ist schon vor vielen Jahren eingebrochen, nachdem Ausländer*innen entführt worden waren und die Terrorgefahr anstieg. Vor einigen Jahren wurde dann auf Druck der EU begonnen, die Migration Richtung Norden zu unterbinden. Ibrahim Manzo Diallo von AEC, der in Agadez eine Radiostation und eine Zeitung betreibt, erklärt: "Agadez wird immer mehr zu einer Enklave, auch für die Einwohner*innen." Ressentiments gegen Migrant*innen nehmen zu. Dass Menschen wie Mboge mittellos in Agadez festsitzen, ist eine unmittelbare Folge der EU-Politik, die alles daransetzt, "illegale" Migration nach Europa schon auf dem afrikanischen Kontinent zu unterbinden. In sämtlichen Ländern der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft - darunter alle, die Mboge von Gambia bis Niger passiert hat - gilt eigentlich das Recht auf Freizügigkeit, und das schon deutlich länger als es das Schengener Abkommen gibt. Doch die EU sorgte mit ihren Einflussmöglichkeiten dafür, dass Grenzkontrollen zwischen den Staaten Westafrikas eingeführt wurden, angeblich um Terror, Schmuggel und "illegale" Migration zu bekämpfen. Das verschaffte den Ordnungskräften Gelegenheit für Zusatzeinnahmen durch das Eintreiben diverser Gebühren entlang der Routen. Von heute auf morgen kriminell2015 erließ die nigrische Regierung auf Druck der EU ein Gesetz, das bis zu 30 Jahre Haft für Menschenschmuggel vorsieht. Betroffen davon sind vor allem die sogenannten Passeure, die die Reise der Migrant*innen ab Agadez in Richtung Norden organisieren, aber auch Menschen, die Migrant*innen während ihres Aufenthaltes Unterkunft gewähren. Tätigkeiten, denen viele Einwohner*innen von Agadez zuvor vollkommen legal und steuerpflichtig nachgehen konnten. "Es wurde eine Grenze mitten durchs Land gezogen", erklärt Diallo. "Wer nun einen Migranten bis in die Nähe von Agadez transportiert, tut das legal. Sobald man aber mit ihm weiterfährt Richtung Norden, wird man zum Kriminellen." In Kraft trat das Gesetz erst Ende 2016, was viele mit dem Besuch der deutschen Bundeskanzlerin im Oktober 2016 in Verbindung bringen. Merkel hatte dem Land damals umfassende Hilfe beim Kampf gegen "illegale Migration" versprochen sowie die Schaffung alternativer Einkommensmöglichkeiten für alle, die zu diesem Zeitpunkt von der Migrationsökonomie lebten. Zwar war die nigrische Armee auch vorher schon entlang der wenigen Wasserstellen auf den Migrationsrouten Richtung Norden präsent, doch erst Ende 2016 begannen die Ordnungskräfte mit Kontrollen und Inhaftierungen. Ein ehemaliger Passeur erklärt uns, dass nach wie vor Migrant*innen über Agadez nach Norden transportiert werden. Geändert habe sich die Vorgehensweise. So beherbergen die Passeure die Migrant*innen jetzt nicht mehr in der Stadt, sondern sammeln sie einige Kilometer außerhalb. Um Kontrollen zu umgehen, weichen sie auf Routen jenseits der Wasserstellen aus. Dadurch wird die Reise für die Migrant*innen erheblich teurer und gefährlicher. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sterben inzwischen mehr als doppelt so viele Menschen bei der Durchquerung der Sahara als auf dem Mittelmeer. Die Dunkelziffer ist hoch. Einige Passeure haben infolge der Kriminalisierung ihre Tätigkeit eingestellt. Mit der versprochenen Schaffung alternativer Einkommensmöglichkeiten ist es jedoch nicht weit her, erzählt Mohamed Anacko, Präsident des Regionalrates von Agadez. Nur ein sehr geringer Prozentsatz sei erfolgreich. Anacko war an den Tuareg-Rebellionen der 1990er Jahre beteiligt und leitete später die Behörde zur Festigung des Friedens (HACP). In dieser Funktion sah er in der Personenbeförderung eine Reintegrationschance für ehemalige Rebellen und sorgte dafür, dass sie ihre Waffen niederlegten und sich einer gewaltfreien und bis vor kurzem legalen Einkommensmöglichkeit zuwandten. Ihnen diese Einkommensmöglichkeit wieder zu nehmen, birgt Gefahren, die von EU und nigrischer Regierung entweder ignoriert oder unterschätzt werden. Besser zurück?In der verzweifelten Lage, in der sich viele Migrant*innen befinden, bietet die Internationale Organisation für Migration (IOM) Unterstützung bei der sogenannten "freiwilligen" Rückkehr an. Zu den zentralen Aufgaben der IOM gehört darüber hinaus die statistische Erfassung der Migrationsbewegungen, was sie in Niger seit 2016 an inzwischen sieben Punkten in Gegenden mit "hoher Mobilität" durchführt. Dabei kooperiert sie eng mit dem Militär. Aus den Zahlen der IOM geht hervor, dass der größte Teil der erfassten Menschen innerhalb des Landes flieht oder migriert. Viele kehren darüber hinaus gegen ihren Willen oder aus Not aus Libyen oder Algerien zurück. Der neue Leiter der IOM Agadez, Oscar Safari, berichtet, dass die IOM in Kooperation mit dem Militär verstärkt Drohnen einsetzen wolle, um die Migrationsbewegungen in der Region Agadez besser kontrollieren zu können. Safari hat zuvor das IOM Büro in Gao geleitet, einer Stadt im Norden Malis, wie Agadez lange Zeit ein Drehkreuz der Migration. Die Route über Gao sei inzwischen jedoch deutlich weniger frequentiert. Es drängt sich der Eindruck auf, dass dies auch das Ziel der IOM in Niger ist. Erst bei der Schließung der Routen mitwirken, dann verzweifelten Menschen bei der Rückkehr helfen wollen - eine Vorgehensweise, die Pater Mauro Armanino von der Migrant*innenseelsorge in der nigrischen Hauptstadt Niamey so kommentiert: "Erst ohrfeigen sie die Migrant*innen und dann wollen sie sie trösten." Ahmed Bougherra* aus Assamaka, einem Dorf an der algerischen Grenze, zwei Tagesreisen von Agadez entfernt, berichtet, dass die Dorfbewohner*innen im Schnitt zwei Mal pro Woche von Deportationen aus Algerien erfahren. "Die Algerier nehmen den Menschen oft alles ab und setzen sie im Niemandsland zwischen Algerien und Niger aus, wo es keinen Baum und keinen Strauch gibt, der Schatten spendet." Bis nach Assamaka sind es gut fünfzehn Kilometer, eine enorme Distanz, wenn man geschwächt zu Fuß in der Wüste unterwegs ist. Viele überleben den Weg nicht. Bougherra und andere Dorfbewohner*innen holen die Migrant*innen in der Wüste ab und versorgen sie mit Wasser, so sie selbst genug davon haben. Gemeinsam mit Aktivist*innen aus Afrika und Europa setzt er sich für den Aufbau einer länderübergreifenden Monitoring- und Rettungsstruktur in der Sahara ein, die anders als die Maßnahmen der IOM die Rettung, nicht aber die Kontrolle und Rückführung der Menschen zum Ziel hat. Für die Rechte der Migrant*innenAuf Einladung von AEC kommen um die hundert Migrant*innen - fast ausschließlich junge Männer, zum Teil noch sehr jung - zu einer Konferenz in einem Kulturzentrum in Agadez zusammen, außerdem mehrere nigrische Journalist*innen und der Präsident des Regionalrates von Agadez. Wer möchte, darf sich für einen Wortbeitrag auf eine Rednerliste setzen lassen. Unzählige Arme schnellen in die Höhe. Viele wollen ihre Migrationsgeschichten loswerden. Sie berichten von grauenvollen Erlebnissen entlang der Routen, von bürokratischen Demütigungen, schwerer Folter und menschlichen Verlusten. Von den zahlreichen Nichtregierungsorganisationen in Agadez sind sie enttäuscht. Viele klagen über die Zustände im Transitzentrum der IOM. "Das Wasser, das sie uns geben, macht uns krank. Die Angestellten selbst trinken nie davon", berichtet einer. Ein anderer erzählt: "Es ist gefährlich dort. Niemand kümmert sich um unsere Sicherheit." Sie fragen sich und uns: "Warum nimmt man uns den Traum von einem besseren Leben?" Am Ende des Abends ergreift Moussa Tchangari, der Direktor von Alternative Espaces Cito- yens, das Wort: "Wir sind keine humanitäre Organisation, die Lebensmittel verteilt. Wir sind Journalist*innen und Aktivist*innen, die die Rechte von Migrant*innen verteidigen. Ihr müsst euch aber auch selbst organisieren und für eure Rechte eintreten! Macht aus euren individuellen Träumen einen kollektiven Traum!" Um zu bekräftigen, dass man mit dem unermüdlichen Einsatz für Menschenrechte durchaus was erreichen kann, erzählt Tchangari von seinem Besuch in Deutschland Anfang 2019: "Die Freundinnen und Freunde von medico haben mich nach Berlin eingeladen und Gespräche mit Parlamentarier*innen organisiert. Ich habe den Abgeordneten erklären können, welche Auswirkungen die europäische Politik auf Niger hat und wie es den Migrant*innen hier geht. Sogar mit einem direkten Berater der Bundeskanzlerin habe ich gesprochen. Ich weiß, dass sich dadurch nicht unmittelbar etwas für euch verändert, aber ich konnte ihnen unsere Sicht der Dinge erklären und die Rechte der Migrant*innen ihnen gegenüber verteidigen." Trotz verstärkter Repressionen gegen kritische zivilgesellschaftliche Akteur*innen in Niger, setzen Tchangari und seine Kolleg*innen ihre Aufklärungs- und Mobilisierungsarbeit unbeirrt fort. Im vergangenen Jahr waren Tchangari und andere Aktivist*innen mehrere Monate in Haft, weil sie ein Fiskalgesetz kritisiert hatten, das Steuererleichterungen für Großkonzerne und Steuererhöhungen für die extrem arme Bevölkerung vorsah. Derzeit sind sie unter anderem damit befasst, ihre Kritik am Staatshaushalt für 2020 in verständlicher Form publik zu machen. Dabei zeigen sie auch die Kosten der Migrationsabwehr für die nigrische Bevölkerung auf. Tchangari: "Im kommenden Jahr will der nigrische Staat die Ausgaben für die Gesundheit von schwangeren Frauen und Kleinkindern weiter kürzen - auf dann weniger als die Hälfte von dem, was er für den Kampf gegen die Migration einstellt." Quelle: medico international - Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2019. FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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