Rudi Dutschke (1940-1979). Teil II: Eine ErinnerungTeil II: Klassenverhältnisse und politische StrategieVon Elmar Klink Im Prinzip ist und sollte man die theoretische Lebensleistung eines Menschen nicht von seiner Vita trennen. Doch bei Rudi Dutschke, dem unfreiwilligen "Exilanten" aus der DDR in die BRD 1961 und später ins Ausland, kommen einige besondere Dinge zusammen. Sein Leben währte nicht sehr lange, es gab diesen erzwungenen Bruch zwischen DDR- und West-Berlin-Erfahrung bei ihm, er war kein Reisender in Politikdingen und entfaltete lediglich eine zunächst nur lokale und regionale Wirkung. Wozu er aus heutiger Sicht politisch objektiv wurde, steht auf einem anderen historischen Blatt. Sein Leben beeinflusste nicht unmittelbar sein politisches Denken und Handeln und umgekehrt. Doch es erfuhr durch das heimtückische Attentat im April 1968 (siehe Teil I) selbst einen tiefgreifenden Einschnitt, der ihn jahrelang vom Weiterpolitisieren wie bis dahin abhielt, ja ihn zunächst völlig ins politische Abseits zwang und etwa bis Mitte der 70er Jahre wohl auch im Denken ein deutliches Innehalten und Um- und Neuorientierung bewirkte. "Theorie" bedeutete für Dutschke bis dahin ein Zwei- oder Dreifaches: 1. Beantwortung der Frage, mit welcher Art von modernem Staat man es bei der BRD (und anderen westlichen Ländern) zu tun hatte, d. h. Analyse der sozioökonomischen Klassenverhältnisse; 2. Antwort auf die Frage, wer aktuell das "revolutionäre Subjekt" (Bewegung, Partei oder…) sein sollte und drittens (einschließlich) die historische Aufarbeitung von Erfolg und Misserfolg des Sozialismus-Kommunismus in den dazu errichteten Systemen. Vor allem dem dritten Komplex ist sein im dänischen "Exil" entstandenes und abgeschlossenes, einziges wissenschaftliches Werk gewidmet Es ging Dutschke in seiner Doktorarbeit wie deren Titel schon andeutet, um nichts weniger als darum, "Lenin auf die Füße zu stellen" und zu reflektieren, was dies für die revolutionäre Theorie und Praxis heute bedeutete. Sollte es um leninistischen Marxismus und Parteikommunismus alten Musters gehen wie noch bis 1933 oder um Marxsche Theorie und ein nach Faschismus, Holocaust und Weltkrieg, die von den sozialistisch-kommunistischen Kräften nicht verhindert (nur mit beendet) wurden, neu zu bestimmendes revolutionäres Handeln. Das wog historisch ungeheuer schwer und gestattete kein einfaches "Weiter so". Die kritische Auseinandersetzung mit den vorrevolutionären russischen und dann sowjetischen Verhältnissen nach der Oktoberrevolution mit dem späteren Übergang des Leninschen Bolschewismus in den Stalinismus, in die Lager und alles beherrschende Hegemonie der Bürokratie und Diktatur einer Partei, ist für Dutschkes "Theorie"-Bildung und Sozialismus-Verständnis von zentraler und ausschlaggebender Bedeutung. Das wurde für ihn für viele Jahre quasi zum "archimedischen Punkt" seines politischen Denkens, Analysierens und Verstehens. Des Weiteren stand die Frage im Raum: Gibt es in modernen Industriegesellschaften mit sozialen Wohlfahrtsinstitutionen und qualifizierter, gut entlohnter Facharbeiterschaft, die zudem gewerkschaftlich fest organisiert ist, im Marxschen Sinn noch "Klassen", ihre Unterdrückung und ökonomische Ausbeutung bis hin zur Armut, und musste folglich weiter Klassenanalyse betrieben und Klassenpolitik gemacht werden, um zu einer revolutionären Theorie und Strategie der Überwindung zu gelangen? In Aarhus, Dänemarks zweitgrößter Stadt, schließlich fand Dutschke ab 1971 in einer akademisch-universitär geschützten Existenz den nötigen Ruhepol, sich nach mühsamen Reha- und unruhigen "Exil"- und Wanderjahren zu sammeln und auf neue Aufgaben und Themen zu konzentrieren. Die Familie wohnte für sich in einer Landkommune nahe der Stadt, wo als zweites Kind die 1969 in England geborene Tochter Polly-Nicole neben ihrem ein Jahr älteren Bruder aufwuchs. Dort entstand im Abschluss auch das erwähnte Theorie-Werk, mit dem Dutschke als Manuskript schon länger schwanger ging, über die Klärung der Zusammenhänge zwischen sog. halbasiatischer und westlicher Produktionsweise und ihrem Niederschlag in Formationen der verschiedenen Arbeiter- und Revolutionsbewegungen: Vor allem dieser Teil der Arbeit wurde dann 1974 bei Wagenbach (West-Berlin) publiziert. Der "Orthotheoretiker" und "Orthopraktiker" einer Basisorganisation, Dutschke, unternahm nach Fertigstellung seiner Dissertation von 1974-76 mehrere Reisen wieder nach Italien. Ihn interessierte dort speziell der erstarkende Eurokommunismus, der sich auch in Spanien, Portugal und Frankreich politisch etablierte, wo teils nach vielen Jahren des Verbots und der Illegalität starke KPen existierten. Wobei kommunistische Führungen vor allem nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1965 (Stalin-Revision) und den Prager Ereignissen 1968 (Einmarsch von Staaten des Warschauer Paktes in die CSSR) ihren bis dahin Moskau-treuen Kurs überprüften und ihre Haltungen zur "Diktatur des Proletariats" als dogmatischer Vorherrschaft einer Avantgarde-Partei und zum sozialistischen Ostblock überdachten und in Teilen revidierten und neu bestimmten. Für Dutschke kam zur prekären Lage der von Moskau abhängigen "Volksherrschaften" in Osteuropa noch die Aufarbeitung der dunklen Geschichte der Sowjet-Lager (GULAG) in den 40er- und 50er Jahren und der Moskauer Prozesse in den 30er Jahren als Versagen einer instrumentalisierten Kommunistischen Internationale noch hinzu. Carsten Prien ist es zu verdanken, in seinem Buch "Dutschkismus" den von Rudi Dutschke und Günter Berkhahn gemeinsam verfassten Aufsatz "Über die allgemeine reale Staatssklaverei" ungekürzt wieder zugänglich gemacht zu haben, der sich dem Komplex "Sowjetunion" und der Klärung eines Zusammenhangs von Sozialismus und Imperialismus widmet (S. 77-135). Es verwundert daher nicht, dass Dutschke für Dissidenten wie den Atomwissenschaftler und Kernwaffenbauer (H-Bombe) Andrej Sacharow und den konservativen Schriftsteller und GULAG-Insassen Alexander Solschenizyn konsequent Partei ergriff und diese verteidigte, ohne wie vormals linke (maoistische) Intellektuelle wie André Glucksmann und andere gewendete "neue Philosophen" in Frankreich das Lager gleich mit zu wechseln. Zu DDR-Oppositionellen wie Robert Havemann, Wolf Biermann und Rudolf Bahro pflegte Dutschke teils enge, zumindest jedoch gute Freundschaften und Beziehungen. Den Verfasser der DDR-Systemkritik "Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus" (1977), Bahro (1935-1997), ein ehemaliger SED-Parteiarbeiter und Funktionär der mittleren Ebene im Arbeitsorganisationsbereich der Kunststoffindustrie, versuchte Dutschke nach dessen Haft und Ausweisung 1979 noch für die Grünen zu gewinnen. In den 1980er Jahren entwickelte Bahro eine spezielle sozialökologische Philosophie und entwarf teils heftig umstrittene, spirituelle Rettungsszenarios aus der Weltkrise (Buch: "Logik der Rettung"). Vor denen warnte sogar der Zukunftswerker Robert Jungk und nannte sie "gefährlich", da Bahro sie im Kontext einer "Erlösungsperspektive" durch charismatische Führungsgestalten thematisierte. Rudi Dutschke packte in die Arbeit über Lenin all das mit hinein, was ihm an Rezeption, Wissen und Überlieferung des Sozialismus wichtig und der Bewahrung wert war. Man kann seine revolutionäre Marx- und Sozialismus-Bibliographie (1966, als Raubdruck 1970) dazu lesen, wie eine Art "Roadmap" durch Dutschkes Lesepensum und Eigenstudium zwischen etwa 1962 und 1965, als er als Soziologie Studierender fast wie ein Besessener politische Bücher verschlang. Ein erster Ausfluss dieser Studien war die maßgebliche Beteiligung Dutschkes an der Gründung der "Subversiven Aktion", einer gleichnamigen Zeitschrift und politischen Diskussions-Plattform, die dann im SDS aufging und dort mit Dutschke, Rabehl und anderen den radikalen Kern bildete. Ständig präzisierte, schärfte und verdichtete sich Dutschkes Fundus durch die Debatten, an denen er sich permanent und intensiv beteiligte. Jeder und jede an Dutschkes Denken und Wollen Interessierte sollte sich seine kommentierte Liste als Literaturführer bereit- und daneben legen (sie ist nochmal enthalten in Rudi Dutschke: "Geschichte ist machbar", 1981). Man wird dabei schnell erkennen, wie wenig Dutschke sich an den gängigen Abschottungen und Ausschließungen orientierte, die verschiedene Lager im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) kennzeichnete und z. T. gegeneinander in Positionen brachte, die immer wieder für hitzige interne Debatten gut (oder auch schlecht) waren und die Gemüter gegeneinander aufbrachten. Es war der Sprengsatz, der nach Dutschkes Ausfall und "Abgang" für mehrere Jahre von der politischen Bühne nach den Schüssen, bald dafür sorgte, dass "die Bewegung" zerfiel und sich in vermeintlich richtige und falsche "Linien" und Organisationsansätze aufspaltete. Dutschkes revolutionärer "Synkretismus" war es, der ihn geradezu prädestiniert hatte dafür, zu integrieren und zusammenzuführen, was sonst an Strömungen kaum zusammen gepasst hätte. Das war eine seiner umstrittenen Leistungen, die freilich bis heute nicht ungeteilte Zustimmung findet. Es ging dabei um die Frage nach dem bürgerlichen Staat, nach Kapitalismus und Imperialismus, nach der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften, nach der deutschen republikanisch-revolutionären Tradition seit Vormärz und 1848, der Pariser Commune, nach dem neokolonial-imperialen Nord-Süd-Gegensatz ("Dritte Welt"), nach Ereignissen wie DDR 1953, Ungarn 1956, Prag 1968, die nicht ohne Folgen für eine sich unabhängig verstehende sozialistische Bewegung bleiben konnten. Weiter ging es um die Frage nach der Bedeutung und Reichweite der Klassiker Marx/Engels, Mehring, Lassalle, Kautsky, Bebel, Luxemburg/Liebknecht, Lenin, Stalin, Trotzki, Bucharin - und Mao Tse-tung für heute, um es ganz allgemein zu summieren. Dutschkes Lesepensum war riesig, sein Gedächtnis für Zitate phänomenal, die er im richtigen Moment parat hatte. Ja, er war dieser "Lautsprecher", als den ihn Cohn-Bendit einmal bezeichnete auf Straßen und in Versammlungen. Natürlich gab es noch andere lichte Gestalten, zu nennen wäre etwa der legendäre Hans-Jürgen Krahl ("Konstitution und Klassenkampf"), der dann leider früh bei einem Autounfall ums Leben kam und Dutschke nicht beerben konnte. Es gab Leute wie Bernd Rabehl, damals in der "Subversiven Aktion" mit Dutschke eng verbunden, mit dem er stritt. Später verrannte Rabehl sich in rechte nationale Töne und Gefilde. Auch Ulrike Meinhof muss man zu jener Zeit als scharfzüngige ‚Konkret’-Kolumnistin und als unbequeme marxistische Denkerin und Agitatorin, dazurechnen, die Meinungsführung darstellen konnte. Aber Dutschke war demgegenüber der agile "Springinsfeld", der die Reihen gelegentlich spontaneistisch aufmischte, eigene und gegnerische. Der die Dinge in einer unverwechselbaren Agitationssprache auf den Punkt brachte. So könnte und würde man politisch heute jedoch nicht mehr sprechen können, ohne nicht mitunter etwas Befremden auszulösen. Bei Dutschke hatten Begriffe wie Klassenkampf, Ausbeutung, Entfremdung, Proletariat, Arbeiterklasse, Kapitalismus, Imperialismus, Internationalismus, Repression, Klassenjustiz, Reformismus, Utopie, Revolution, Befreiung usw. gleichwohl immer einen identischen und authentischen Klang. Der Kontext war keiner der hohlen Phrase, sondern argumentativ klug und differenziert unterfüttert und ausgeführt. Dutschkes Rede war keineswegs ideologische Schwätzerei, er bedachte genau und meinte, was er wie sagte, hing keinem floskelhaften Ismus besonders an. Er war ein Denker und Agitator in Kontinuität anderer bedeutender Geister und Köpfe und reihte sich unter diese ein. Das machte ihn aber auch besonders und eigentümlich. Das war sein ideologischer "Fußabdruck". Ende 1967 holten ihn Bremische Genossen um den Juso-Linken Olaf Dinné vom SPD-Ortsverein Altstadt direkt nach einer Gerichtsverhandlung in Berlin ab und flogen mit ihm nach Bremen, wo er im brechend vollen Szene-Treff im "Viertel", ‚Lila Eule’, redete. Der Architekt Dinné, der das Gebäude Am Wall 164 mit legendärem Wall-Café (heute ‚Lemon Lounge’) und einem der ältesten bundesdeutschen politischen Buchläden Wassmann (seit 1969) umgestaltete, in dem er selbst ganz oben in der Wall-Kommune wohnte, wurde später Mitgründer der Bremer Grünen und Ökohof-Betreiber. Bettina Wassmanns, der letzten Lebensgefährtin von Alfred Sohn-Rethel, Edel-Buchladen beging dieses Jahr sein 50-jähriges Bestehen. Es gab an linker politischer und Avantgarde-Literatur aus den Sparten Philosophie, Dichtung, Kunst bis früher hin zu Raubdrucken nichts, was man bei ihr nicht bekam. Ein Treffpunkt, eine Art Sylvia Beachs ‚Shakespeare & Company’ auf Bremisch. Freunde und Freundinnen des fast unscheinbaren Straßenlädchens mit stets geschmackvoll gestalteter Schaufensterauslage, wurden schon mal zum Plausch bei einer Tasse Kaffee, einer Zigarette oder einem Gläschen französischen oder italienischen Wein eingeladen. Lies Herman Melvilles ‚Mardi und eine Reise dorthin’ und trink ein gutes Glas Wein dazu, war schon mal Bettinas Ratschlag für trübe Weihnachtstage. Dutschke bediente sich einer unverwechselbaren Sprechweise, die so gut wie keine Ähs und Abrisse im Redefluss kannte. Er redete fast druckreif, wenn auch nicht gerade zündend und mitreißend, eher etwas monotonisch. Doch ob der Inhalte und Positionen von Dutschkes Sätzen verzieh man das. Das kann man vor allem in dem TV-Interview mit Günter Gaus nachvollziehen (siehe Teil I). Die Schwäche und der Niedergang der politischen Rede sind heute schon sprichwörtlich. Die im guten Wortsinn gemeinte republikanische Rede eines Tucholsky, von Ossietzky oder Theodor Lessing ist heute inexistent. Walter Jens, der Tübinger Alt-Philologe und selbst Schriftsteller, war einer der letzten ihrer Vertreter. Politiker wie der Grüne Robert Habeck können versiert sprechen, sind aber keine Redner mehr. Dass Politik heute nur noch so wenig interessiert, ist mindestens ein Teil-Ergebnis des öffentlichen Rede-Elends und seiner heillosen Präsentation in den Medien. Politik ergeht sich weitgehend in leerem Sprechblasen-Tuning, ein Ergebnis auch der Konzentration auf die oberflächlichen Kommunikationsebenen der sog sozialen Medien von Twitter, Instagram und facebook. Sie lassen keine Gedanken-Entwicklung mehr zu, keine offene Kommunikation, sondern sind Tableaus, auf die sich die Allgemeinheit wie die Geier auf ihre Kadaver stürzt und bei Missfallen nutzlose, alltagssprachliche Shitstorms auslöst, statt dem Bemühen um Klärungen zu folgen. Und natürlich kann man nur klar sprechen auf der Basis klarer Denkinhalte. Die zeichneten Rudi Dutschke allemal aus. Er hatte eigentlich im engeren Sinn keine Theorie, etwa einen "Dutschkismus" (Carsten Prien), schon bei dem Wort sträuben sich einem die Nackenhaare, sondern ein mobiles, intervenierendes Denk-Konzept. Dieses Konzept könnte man "Basistheorie" nennen. An ihm maß er sein Denken und bezog es darauf. Dutschkes Konzept war vor allem nicht dogmatisch, nicht elitär, sondern egalitär, in Zügen auch libertär, antiautoritär, parlamentarismuskritisch und sozialistisch demokratisch, nicht demokratisch-sozialistisch! Er war für jegliche, auch und gerade linke sozialdemokratische Vereinnahmung nicht zu haben. Über die Person von Peter von Oertzen bestand gleichwohl eine Verbindung Dutschkes zu linken SPD-Kreisen. Er war im pluralen Sinn Marxist, wie er es in seinem Beitrag in Fritz J. Raddatz’ Anthologie "Warum ich Marxist bin" (1980) auf fast 40 Buchseiten begründete und darstellte. Dort heißt es z. B. gleich zu Beginn: "Im linken Sektierer-Nebel erhalte ich immer wieder die widersprüchliche bzw. fragwürdige Ehre, ein ‚Leninist’, ‚Trotzkist’, ‚Maoist", ‚kleiner Stalinist’, ein ‚Sponti’ u. a. m. zu sein. Nun kann ein Sozialist und Kommunist demokratischen Typs über den kapitalistischen und asiatischen Imperialismus schreiben, was er für notwendig hält. Seinen Bedingungen gemäß wissenschaftlich aktiv sein - die Sektierer bleiben ‚stabil’. Mit einem Bein in der leeren Vergangenheit, mit dem anderen in Moskau und Peking, kann man durchaus ‚stark’ sein. Ihre scheinbare Stärke gewinnen sie dadurch, dass der größere Teil des Gehirns einer ‚Weltmacht’ übergeben wird. Die konkrete Wahrheit ist dann ein Hemmnis, nicht Aufgabe und Grundvoraussetzung des sozialistischen Standpunkts … Wenn die Sektierer ein radikales Bedürfnis hätten, sich an die konkrete Wahrheit heranzutasten, so müssten sie ja ihre Daseinslage korrigieren, um ihr Bewußt-Sein neu entwickeln zu können …" (S. 86). Das ist schon eine sehr zentrale und deutliche Beschreibung von Dutschkes "theoretischem" Standort jenseits der Lager, wo man sein Gehirn ab- und eigenständiges Denken aufgibt. Theorie/Konzept und Strategie waren bei Dutschke kaum zu trennen. Das eine diente dem anderen als Anleitung, das andere wiederum als mögliche empirische Korrektur des Denkens. Das zeichnet jedes revolutionäre Wollen und Handeln aus. Natürlich ging es ihm und seinen Weggenoss*innen letztlich um Systemänderung (Systemüberwindung) durch eine soziale Erhebung und Revolution. Wer sich erheben und was genau sich an der politischen Ordnung umwälzen sollte, war vielen nicht so ganz klar. Die Student*innen brauchten mächtige Verbündete, Sozialdemokratie und Gewerkschaften wären dies gewesen, eine echte KP gab es nicht mehr, bzw. nur in Gestalt der auf die UdSSR und DDR fixierten und von dieser finanziell ausgehaltenen DKP. Dutschke hatte stets von "Arbeiterbewegung" und "Arbeiterklasse" gesprochen. Aber die seit Godesberg 1959 marxistisch gesäuberte Sozialdemokratie und die reformistisch auftretenden Gewerkschaften waren erstens systemkonform und zweitens an Umsturz nicht interessiert, schon gar keinem durch "marxistische" Kräfte, die man in Westdeutschland zumeist als auf Moskau und Ost-Berlin hin orientierte parteikommunistische ansah. Obwohl es auch kleine unabhängige kommunistische Grupperungen mit älterer Tradition gab, die nicht auf "Parteiaufbau" wie die studentischen Neo-MLer aus waren. Antikommunismus war seit Unionskanzler Adenauer und der installierten Westzonen das einigende Band des westdeutschen Nachkriegs-Establishments und der politischen Klasse. Man konnte zeitweilig damit jedwede sich regende linke Opposition im Ansatz diskreditieren und ersticken. So konnte auch nie so etwas wie ein westdeutscher Eurokommunismus entstehen. Die Hoffnung auf "Revolution" als einmaligem Gewaltakt eines Umsturzes nach historischem Vorbild war eine von Beginn an trügerische und vergebliche. Nie hätten deutsche Justiz, Polizei und Bundeswehr dies zugelassen, es sei denn 5 bis 10 Millionen Menschen wären auf die Straße gegangen. Blieben noch politische, soziale und wirtschaftliche Reformen, auf die mittelbar die Student*innen-Revolte natürlich auch abzielte als Ergebnis einer Etappe im Übergang. Die Linke nicht, Dutschke wohl, konnte sich eine "Revolution der Revolutionsauffassung" vorstellen. Der Art, Demokratie nicht nur repräsentativ-parlamentarisch, sondern unter einer revolutionären Prämisse imperativ und direkt als Räte-Demokratie zu verstehen und anzuwenden. Einer solchen Tendenz verschrieb sich damals "der lange Marsch" und meinte den durch die Institutionen in Politik und vor allem Gesellschaft. Dieser Wandel fand auch statt, spätestens seit sich 1969 bei Wahlen die sozialliberale Koalition unter Brandt/Scheel durchgesetzt hatte. Manche Historikersicht besagt, dies hätte der BRD eine Revolution von links erspart. Stattdessen gab es das verkündete Wagnis eines Kanzlers des politischen Exils von 1933 bis 1945 von "mehr Demokratie", das viele anzog, einband und integrierte in den neuen gemäßigten Reformkurs (Hochschulreform, Mitbestimmung, Frauenrechte, Ostpolitik). Doch nach wenigen Jahren war spätestens mit dem Brandt-Sturz 1974 dieser Elan bereits verpufft, war von Wehner (SPD) und Genscher (FDP) einkassiert worden, die Brandt in der Guillaume-Spionage-Affäre ins offene Messer laufen ließen. Man kann müßig darüber spekulieren, was vielleicht passiert wäre, wenn Dutschke 1968 nicht lebensbedrohlich niedergeschossen worden und stattdessen politisch weiter präsent gewesen und aktiv geworden wäre. Hätten er und Weggefährt*innen gegen die herrschende "Revolutions-Prävention" nur noch einen aussichtslosen Kampf ausgefochten? Die historische Stunde war nicht die einer neuen revolutionären Partei. Niemand ahnte, dass daraus bald ein gemäßigter, grün-ökologischer Auf- und Durchbruch werden würde, der sich 1983 im Einzug der Grünen in den Bundestag parlamentarisch fest installierte. Hätte Dutschke, lebte er da noch, grüne Minister*innen in bürgerlichen Koalitionen gut geheißen oder gegen die rasante Anpassung und Umwandlung der grünen Partei im Geschäftsbetrieb des Bonner "Treibhauses" mit Jutta Ditfurth, Rainer Trampert, Thomas Ebermann und anderen "Fundamental-Ökosozialisten" zusammen "Front" gemacht gegen die grüne "Realitätsanpassung" mit den einst Linken Joschka Fischer und Jürgen Trittin? Eine im Nachhinein sicher müßig zu erörternde Frage. Anders noch war die politische Kräftelage bis Mitte der 60er Jahre und die Jahre 1966 bis 1968, die Zeit der Großen Koalition unter dem Unionsführer Kurt Georg Kiesinger, einem Mann mit auf juristischem Feld nicht unmaßgeblicher Nazivergangenheit und ehemaliges NS-Parteimitglied. Ab 1965/66 bildete sich daher die Außerparlamentarische Opposition (APO). Zu ihr gehörig waren nicht nur die rebellischen Student*innen, sondern zählten auch kritische Kräfte in der SPD, den Gewerkschaften, Kirchen und des öffentlichen Lebens, um gegen den gesellschaftlichen Reformstau anzugehen. Starfighter-Skandal und Spiegel-Affäre hatten binnen weniger Jahre die Republik erschüttert und durchgemangelt. Die Diskussion über die Notstandsgesetze war in vollem Gang und wühlte die Wogen auf. Das gab auch den protestierenden Studierenden neben dem mehr und mehr ins Rampenlicht tretenden Vietnamkrieg klaren Auftrieb. Immer mehr junge Männer verweigerten den Wehrdienst in der Bundeswehr und verstanden sich generell als Kriegsdienstverweigerer. Auch für sie wurde die APO zum Forum. Die Student*innenproteste erhielten Zulauf von jungen Leuten an Schulen und unter Lehrlingen. Die Student*innenbewegung wurde zu einer sozialen Bewegung, die Änderungspotenzial aufbot und weit in gesellschaftliche Bereiche hineinwirkte und personell hineinragte. Es war überwiegend das Führungspersonal der Zukunft, das da rebellierte und spätestens mit Diplomen und Doktorgraden ausgestattet in Entscheidungsebenen vordrang und Führungspositionen aufrückte. Das akademische "revolutionäre Personal" war nur eines auf Abruf und zeitlich begrenzt. Die in der Regel väterlichen Ernährer der Revoltierenden verlangten von ihren Söhnen und Töchtern das Ende ihrer trödelnden "Langzeitstudien" und den Eintritt in berufliche Karrieren. Das wurde vielleicht am wenigsten auch von Dutschke erkannt und berücksichtigt. Als er wieder mehr und mehr seine integre, freilich gesundheitlich angeschlagen bleibende Persönlichkeit hergestellt hatte, war die Welt schon eine andere geworden. Das spürte und wusste Dutschke nur zu genau. 1973 hielt er erstmals öffentlich wieder eine politische Rede bei einer Bonner Anti-Vietnamkriegs-Demo. Wohl war ein spürbarer Reformruck und kultureller Aufbruch durch die Gesellschaft gegangen und zu verzeichnen, von dem auch Gretchen Dutschke in ihrem neuen Buch "1968…" spricht, der durch keine künftige konservative Wende mehr ganz zurückzudrängen war. Aber die Revolution als Umsturz der Verhältnisse, der die Student*innen in ihren Vorstellungen und Erwartungen oftmals anhingen, war mangels vorhandenem "Subjekt" und objektiver Krise ausgeblieben. Die Machtverhältnisse in Politik und Staat waren nicht entscheidend erschüttert worden, wie es zeitweilig im Pariser Mai 68 der Fall war, wo Arbeiter- und Studentenschaft weit mehr eine "Aktionseinheit" eingingen. Vor allem der an den Tag gelegte Spontaneismus und Voluntarismus der Rebellierenden reichte nicht aus, das Ruder herumzudrehen. Die Arbeiterschaft solidarisierte sich in ihrer großen Mehrheit hierzulande nicht mit den Protestierenden landauf landab. Die Elite dachte nicht daran, abzudanken und "unten" war man zu uneins und schwach, um die Machtfrage jemals realistisch stellen zu können. Es ist das Paradox, mit dem die Dutschke-Biografin Michaela Karl ihr opulentes Werk (Frankfurt 2003) untertitelte, indem sie von Dutschke als "Revolutionär ohne Revolution" spricht. Freilich ein Revolutionär, der die Zeichen der Zeit und neue Entwicklungen zu erkennen und deuten versuchte, die im Aufkommen der noch sehr inhomogenen grün-ökologischen Bewegung und der Protestdekade der 70er Jahre gegen Atomwirtschaft und Kernkraftwerke angelegt waren. So war es für Dutschke selbstverständlich, 1977 an der großen Brokdorf-Demonstration gegen bürgerkriegsähnlich aufmarschierende Polizeitruppen des "Atomstaats" (Robert Jungk) BRD teilzunehmen. Dutschke beteiligte sich durch Reden, Artikel und Teilnahmen an den beiden Organisationsdebatten zur Frage linker Strategie am 29./30.11. 1975 in Berlin und 21./22.2.1976 in Hannover. Über die zweite Konferenz verfasste er anschließend einen Beitrag, der unter dem Titel "Eine Partei neuen Inhalts und neuer Form steht zur Debatte" veröffentlicht wurde (Berliner Extradienst 32 / X, 21.4.1976). Darin setzte er sich vor allem auseinander mit den Widersprüchen in den eigenen Reihen und bestimmten internen "sektiererischen" Tendenzen. Interessanter nehmen sich demgegenüber die "Thesen für die Diskussion über eine geschichtlich angemessene sozialistische Organisation" beim zweiten Treffen aus. Hier Auszüge aus dem Kern der zwölf Thesen: "Die reale politische Situation in der BRD und Westberlin ist von der sozialökonomischen Stagnation neuen Typs so wenig zu trennen wie von den herrschenden politischen Parteien alten Typs. Die Tendenz für unsere politischen Möglichkeiten liegt gerade im heutigen Widerspruch zwischen dem Stand der erreichten Produktiv- und Destruktivkräfte mit den realen Produktionsverhältnissen, realen Herrschafts- und Repressionsverhältnissen (These 5). Eine sozialistische Politik kann somit nicht zwischen SPD, DKP etc. sich entwickeln, sie kann nur sozialistisch sein, wenn sie fähig ist, die angemessene Negation der Verhältnisse politisch-organisatorisch auszudrücken. Letzteres ist nur möglich über sozialistische Übergangsprogramme (These 6). "Sozialistische Übergangsprogramme verstehe ich als ‚konkrete Utopie’, als Dialektik des ‚Reiches der Freiheit’ und ‚Reiches der Notwendigkeit’ in Richtung 2000. Eine sozialistische Partei neuen Typus ist für mich von diesem Selbstverständnis so wenig zu trennen wie von absehbaren Tendenzen des Umschlags sozialer Stagnation neuen Typus in soziale Klassen- und Lagerkampfbewegung neuen Typus … (These 7). Im Rahmen eines deutschen sozialis-tischen Übergangsprogramms ist die soziale Frage nicht von der nationalen Frage zu separieren - und diese Dialektik hat an der Elbe nicht aufgehört" (These 8). (siehe: "Neuorientierung. Neuorganisierung …", S. 105/106). Was kann man als Fazit des Auftretens und Wirkens des Rudi Dutschke festhalten, was sich nicht schon im Paradox des revolutionslosen Revolutionärs ausdrückt? Zweifellos war er, ohne hier "Personenkult" betreiben zu wollen, eine Lichtgestalt, die politisch die besten Absichten hegte, von einem freiheitlichen Linksstandpunkt aus gesehen. Er war zutiefst solidarisch und offen eingestellt und ein aufrichtiger Kämpfer. Er war ohne Fanatismus von seiner Mission erfüllt und überzeugt, die Verhältnisse "zum Tanzen" zu bringen. Seine umgängliche Art und zugewandte menschliche Erscheinung, die so gar nichts von zerfressener Hasserfülltheit oder Überheblichkeit hatte, die seine Gegner kennzeichnete, machten ihn überaus sympathisch. Seine Partnerin und Ehefrau Gretchen Dutschke-Klotz (*1942) unterstützte ihren Rudi und brachte eine eigene starke Note in die Beziehung ein. Sie, die nach eigener Angabe in Rudi "wild Verliebte", konnte sehr liebevoll von Dutschke sprechen und ihn auch kritisieren. Beinahe hätte sie es geschafft, Dutschke schon in der Berliner Zeit zum Eintritt in eine Kommune zu bewegen. Unter ihrer helfenden Ägide lernte er, wie es sich für einen emanzipierten Mann und Vater gehörte, anteilig Hausarbeit zu verrichten, Einkäufe zu machen, die Grundregeln der Säuglingspflege und seine Babies zu wickeln. Als sie sich 1964 erstmals begegneten, lehnte Rudi eine Beziehung zu ihr zunächst ab mit dem asketischen Bekenntnis, er sei mit der Revolution liiert. Doch die zierliche und zugleich energische US-Amerikanerin aus dem Mittelwesten ließ nicht locker, bot Dutschke eine offene, ihn politisch nicht einengende Partnerschaft an. 1966 heiratete das Paar, was in studentischen linken Kreisen eher verpönt war, auch um die 3.000 DM Starthilfe zu bekommen, die der Berliner Senat für Frischverheiratete auslobte. Als er starb, war sie gerade wieder schwanger mit dem dritten gemeinsamen Kind, Rudi-Marek, der im April 1980 zur Welt kam und seinen Vater nicht mehr leibhaftig kennenlernen sollte und erleben konnte. Keines der Kinder ist öffentlich in des Vaters Fußstapfen getreten. Gelegentlich äußerten sie sich verstreut in Interviews über sich und ihre Familie. Der Erstgeborene Hosea Che verfasste ein Erinnerungsbuch an seinen Vater. Polly-Nicole lebt in Dänemark und spricht Deutsch mit leicht dänischem Akzent. Hosea Che verkörpert in seinem Namen den "Kompromiss" der Eltern aus biblischem Propheten des Ersten Testaments und lateinamerikanischem Revolutionär Ernesto Che Guevara. Kein Zweifel, Dutschke verkörperte Züge eines prophetischen Revolutionärs, an den wir uns erinnern möchten. (c) Elmar Klink, D-Bremen, 21.12.2019 .Kontakt: Elmar.Klink@gmx.de Literatur/Quellen (kl. Auswahl):
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