Die 70-Prozent-MenschenwürdeVon Roland Rottenfußer Das Hartz IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts erlaubt immer noch Kürzungen des Hartz IV-Satzes um 30 Prozent. Was bedeutet das für die Betroffenen? Wie lebt es sich mit 70 Prozent von zu wenig? Und warum merkte das Establishment erst nach 14 Jahren, dass es gegen die Menschenwürde verstoßen könnte, Menschen weniger als das Existenzminimum zuzugestehen? Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass ein Teil der bisher üblichen und erlaubten Sanktionen gegen Hartz IV-Betroffene gegen die Menschenwürde verstoßen. So formulierte es der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth. Kürzungen um 60 oder 100 Prozent des Hartz IV-Regelsatzes soll es künftig nicht mehr geben. Was bedeutet das? Zunächst: Kürzungen des Hartz IV-Satzes um bis zu 30 Prozent sind im Fall "mangelnder Kooperation" der Empfänger weiter legal. Bei einem Regelsatz von 424 Euro monatlich blieben nach Abzug von 30 Prozent 297 Euro. Es fehlen also im Vergleich zum "Normalzustand" 127 Euro. Auch die verbleibenden 30 Prozent-Kürzungen bedeuten aber: Entweder ist den Richtern die Not der betroffenen Menschen egal. Oder sie gehen davon aus, dass Betroffene noch Spielräume hätten, also noch genügend Dinge, die sie ggf. einsparen könnten. Es sollte aber klar sein: Der Hartz IV-Regelsatz ist so berechnet, dass eben tatsächlich nur das Nötigste dafür angeschafft werden kann, dass also Spielräume für "Luxus" eben nicht mehr existieren. Menschen, die nicht arbeiten wollen oder können, solche Spielräume zu finanzieren, wäre ja nach herrschender Ideologie den viel beschworenen "hart arbeitenden Menschen in Deutschland" nicht zuzumuten. Sozialtransfers setzen "wirkliche Bedürftigkeit" voraus, wie Politiker auch bei der Debatte um die Grundrente nicht müde werden zu betonen. Daher müssen Bankkonten und andere Reserven, auf die Betroffene notfalls zurückgreifen könnten, ja schon im Vorfeld abgeräumt werden, bevor der erste Hartz-IV-Euro fließt. Die Abhängigkeit Betroffener vom Staat soll eine totale und existenzielle sein. Gehorsam gegenüber den Behörden ist demnach eine Art Super-Bürgerpflicht - analog zum Super-Grundrechte Sicherheit, das Horst Seehofer ausgerufen hatte -, das in der Wertehierarchie noch oberhalb der Menschenwürde steht. Wenn der Förder-Forder-Staat also das Minimum auf 424 Euro festgelegt hat, dürfen wir getrost davon ausgeht, dass es sich wirklich um das absolute Minimum handelt. Eher um weniger, wie Betroffene aus leidvoller Erfahrung wissen. Wenn z.B. der Blumenstrauß zum Geburtstag der Liebsten, die Wiederanschaffung des kaputten Fahrrads oder die Zugfahrt zur todkranken Mutter im Budget nicht mehr "drin" sind. Wie kann man es demnach für mit der Menschenwürde vereinbar halten, wenn dieses tatsächliche eher knapp bemessene Existenzminimum nochmals um 30 Prozent gekürzt wird? Welche Auffassung von "Würde" steht dahinter? Oder gehören für die obersten Richter Hartz-IV-Betroffene nicht zur menschlichen Spezies? In jedem Fall laufen die praktischen Konsequenzen von Kürzungen darauf hinaus, dass Menschen zwar nicht mehr (wie bei Kürzungen um 60 oder gar 100 Prozent) verhungern, wohl aber hungern werden. Man stelle sich nur einmal - auch als Nicht-Betroffener - vor, man müsste von jedem Teller, den man sich mit Essen gefüllt hat, täglich über einen Zeitraum von einem Monat 30 Prozent wieder herunternehmen! Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Natürlich hungert in der Praxis nicht jeder und jede Betroffene tatsächlich. Es gibt eine Reihe von Auswegen. Von diesen ist aber einer bei näherer Betrachtung unmenschlicher als der andere. Für Menschen, die kein "geheimes" Wertdepot mehr haben (was ja nach heutiger Gesetzeslage illegal wäre), gibt es grundsätzlich, außer Hungern, diese Alternativen:
Nehmen wir aber einmal als Gedankenexperiment an, eine Kürzung des Hartz-IV-Satzes um bis zu 30 Prozent wäre gerechtfertigt und menschenwürdig - was würde das Hartz-Urteil vom 5. November außerdem bedeuten? Zunächst:
Man stelle sich - an einem Vergleichsbeispiel - vor, die deutsche Polizei hätte seit 2002 Tausende Verhaftete gefoltert, um Geständnisse zu erpressen und Erkenntnisse zu gewinnen. Dies aufgrund von Gesetzen, die die Parlamentsmehrheit erlassen hätte. Es hätte sich natürlich der eine oder andere Gefolterte beschwert und hätte die Gerichte mit seinen Klagen bemüht. Es wäre jedoch über Jahre nichts geschehen. Die Folterungen wären weitergegangen, während sich Prozesse in immer höhere Instanzen weiterschleppten. Schließlich wären die Vorfälle beim Bundesverfassungsgericht gelandet, welches nach zähen Verhandlungen erst im November 2019 die Folterungen teilweise für nicht rechtens erklärt hätte. Ohne Strafen für die Täter und Entschädigungen für die Opfer zu verlangen würde man dann ein reformiertes Gesetz erlassen, das nur noch minder schwere Folterungen erlaubt. Der Tenor der Äußerungen von Politikern wäre: "Wir konnten ja nicht ahnen, dass das unser Verhalten irgendwie die Menschenwürde verletzt hat. Aber o.k., wenn’s sein muss, dann ändern wir jetzt eben das Gesetz. " Von den ausführenden Beamten würden sich einige sogar freuen, dass sie die - außer von Sadisten - ungeliebten Verhörmethoden jetzt nicht mehr anwenden müssten. Von Reue jedoch keine Spur, denn man hat ja nach herrschendem Recht gehandelt - sogar handeln müssen, wollte man nicht seinen Job als Profi-Folterer verlieren. "Die Freuden der Pflicht", wie der schöne Slogan aus Siegfried Lenz Roman "Deutschstunde" heißt. Sicher, mein Beispiel ist übertrieben. Hartz IV ist nicht Folter. Aber es ist eine Qual, wie Betroffene mit Sicherheit wissen. Wenn man den laxen Umgang mit Menschenrechtsverstößen anschaulich machen will, ist das Beispiel durchaus angemessen, meine ich. Die Christliche Leitkultur kennt eben doch noch rührende Fälle von Milde und Vergebung, wenn es darum geht, Täter reinzuwaschen. Natürlich nur sofern sie in Staatsdiensten stehen. Reinhard Mey hat ein Lied über die Mitläufer-Mentalität geschrieben - darüber, dass Unmenschlichkeit immer mehrere Väter und Mütter hat, oft unauffällige Rädchen im Getriebe. Das Lied heißt "Grenze" und handelt von einem Bolzen, einem Gewindestab, der Teil der deutsch-deutschen Grenzbefestigungen war. An diesem unscheinbaren Werkzeug der Unmenschlichkeit, so Mey, haben viele mitgewirkt, deren Namen heute niemand mehr nennt. Und wer gab den Auftrag, dass man es erfand? Diese Fragen müsste man bezüglich der Mitwirkenden am Hartz-IV-System (das ja nicht abgeschafft, sondern nur abgemildert und damit juristisch unangreifbar gemacht wurde) auch stellen. Wir konnten in den letzten Wochen durchaus anrührende Worte von Spitzenpolitikern zum Thema hören. Von Katrin Göring-Eckardt etwa, die ja jener älteren Grünen-Generation angehört, die zusammen mit der Schröder-SPD Hartz IV erst installiert hatte. Göring-Eckardt erklärte: "Durch Demütigungen kommt niemand wieder auf den Arbeitsmarkt". Das klingt anheimelnd aus der Perspektive von Linken, aber logisch ist es nicht. Wie, wenn nicht durch Demütigungen, sollten denn Menschen auf einen Arbeitsmarkt gezwungen werden, den sie wegen der vielfach miesen Löhne natürlich nur ungern freiwillig betreten? Es fehlt quer durch die Parteien der politische Wille, den Menschen auf breiter Front zu anständigen Löhnen zu verhelfen. So kommt es immer wieder zu den gefürchteten Fällen von grober Ungerechtigkeit. Den "hart arbeitenden Menschen in diesem Land" (genannt werden stets Krankenschwestern und Polizisten") bleibt dann genau so wenig Geld zum Leben wie den Hartz-IV-Faulenzern. Woher soll bei solchen Zuständen noch die Motivation zur Arbeit kommen? Statt die Menschen mit attraktiven Arbeitsplätzen zur Arbeit zu verführen, werden sie also durch ein Hartz IV-System zur Arbeit erpresst, das nichts anderes ist als Qual-Menschenhaltung. Gedemütigte Arbeitslose sind die Garanten des wachsenden Niedriglohnsektors in Deutschland. Es gibt übrigens nicht wenige, die gegen das jüngste Hartz-IV-Urteil aufbegehrten - weil ihnen die Milde, die darin zum Ausdruck kam, zu weit ging. Das Presse-Schlachtschiff des Neoliberalismus z.B.: "Die Welt". Die meinte: "Für alle Sozialromantiker ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sanktionen nicht mehr als ein Etappensieg." Nun gut, werden wir alle zu Romantikern! Sorgen wir dafür, dass diesem kleinen Sieg weitere Siege folgen! Make Hartz IV History! Quelle: Hinter den Schlagzeilen - 12.11.2019. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|