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Hartz IV und kein Ende?

Von Christoph Butterwegge

Das im Volksmund "Hartz IV" genannte Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt existiert am 1. Januar 2020 bereits seit 15 Jahren. Es bildete das Herzstück der Agenda 2010 von Bundeskanzler Gerhard Schröder, die das seit mehr als 130 Jahren in Deutschland bestehende Sozialsystem tiefgreifend verändert hat. Zwar ist das Reformwerk bereits zehnmal novelliert, von seinen Urhebern, SPD und Bündnis 90/Grüne, allerdings nie prinzipiell in Frage gestellt worden. Erst im Spätherbst 2018 wurde Hartz IV zum Gegenstand einer breiten öffentlichen Diskussion, in der auch maßgebliche Repräsentant(inn)en beider Parteien nach seiner grundlegenden Revision riefen.

Regierungsoffiziell dienen alle Hartz-Gesetze bis heute dem Ziel, mehr (Langzeit-)Erwerbslose schneller zu vermitteln; in Wahrheit sollte der Druck auf Erwerbslose wie auf Beschäftigte erhöht, die Rentabilität der hiesigen Konzerne gesteigert und der "Standort D" durch eine politisch abgesicherte Lohndumping-Strategie noch konkurrenzfähiger gemacht werden. So gesehen ermöglichten die Hartz-Gesetze einen Dreifacherfolg der Kapitalseite:

Erstens wurden die Erwerbslosen mehr als bisher drangsaliert, Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften noch stärker diszipliniert sowie prekäre Beschäftigungsverhältnisse ermöglicht, was den Unternehmern höhere Gewinne verschafft hat.

Zweitens wurde die große Bevölkerungsmehrheit genau darüber hinweggetäuscht, indem man ihr den Eindruck vermittelte, es gehe bei den "Agenda"-Reformen um die Bekämpfung der (Langzeit-)Arbeitslosigkeit.

Drittens wurde die mehr oder weniger zufällige zeitliche Koinzidenz zwischen dem Abschluss des Reformprozesses und dem bald darauf einsetzenden Konjunkturaufschwung zu einer Kausalbeziehung umgedeutet und als solche durch eine geschickte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Alltagsbewusstsein der Bürger/innen verankert.

Durch die (Teil-)Privatisierung beziehungsweise Effektivierung der Arbeitsvermittlung und Kürzung der Leistungen für Erwerbslose, wie sie das Hartz-Konzept enthielt, hoffte man, die Ausgaben des Staates und die "Lohnnebenkosten" der Unternehmen senken zu können. In Wirklichkeit waren die Verwaltungskosten der Jobcenter nie höher als heute, und sie übersteigen mittlerweile sogar erheblich den Betrag, der für die Wiedereingliederung von Langzeiterwerbslosen ausgegeben wird. Statt neue Stellen zu schaffen, spalteten etliche Firmen bisherige Voll- und Teilzeitarbeitsplätze in mehrere geringfügige Beschäftigungsverhältnisse auf und belasteten durch wegfallende Beiträge die Sozialversicherungen zusätzlich.

Mehr als zwei Drittel der offiziell registrierten Arbeitslosen befinden sich heute im Hartz-IV-Bezug und bloß noch ein knappes Drittel im Versicherungssystem. Immer mehr Erwerbslose erhalten nie Arbeitslosengeld (I), sondern fallen gleich in Hartz IV. Entgegen den Prognosen der Arbeitsmarktreformer von SPD und Bündnisgrünen ist die Verweildauer im Arbeitslosengeld-II-Bezug gegenüber der Verweildauer im Arbeitslosenhilfe-Bezug und sogar der Verweildauer von Erwerbsfähigen im früheren Sozialhilfe-Bezug angestiegen. Hartz IV taugt eben keineswegs als Sprungbrett in den regulären Arbeitsmarkt, sondern hat sich als Zwangssystem entpuppt, aus dem die Betroffenen oft jahrelang, manchmal sogar nie mehr herausfinden, weil sie einer sozialen Abwärtsspirale unterliegen, stigmatisiert und gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Immer noch müssen in Westdeutschland 40 Prozent und in Ostdeutschland fast die Hälfte der Leistungsberechtigten vier Jahre oder länger unterstützt werden.

Zu den tragenden Säulen von Hartz IV gehörten neben den viel zu niedrigen Regelsätzen, den verschärften Zumutbarkeitsregelungen und dem Wegfall des Berufs- und Qualifikationsschutzes harte Sanktionen, die bis zum Entzug der Geldleistung und der Weigerung des Jobcenters reichten, Miet- und Heizkosten zu übernehmen. Unter-25-Jährigen drohte dieser Verlust ihrer materiellen Existenzgrundlagen schon bei der zweiten Pflichtverletzung, also wenn ein junger Leistungsbezieher einen 1-Euro-Job nicht angetreten und ein Bewerbungstraining abgebrochen hatte.

Die Karlsruher Richter/innen erklärten in ihrem am 5. November 2019 verkündeten Urteil (Az.: 1 BvL 7/16) den völligen Entzug der Hartz-IV-Leistungen und den Wegfall der Übernahme von Unterkunftskosten für grundgesetzwidrig, ohne die Sanktionen generell zu verwerfen. Das hätte nach Art eines Dominoeffekts auch leicht zum Kollaps des Hartz-IV-Systems führen können, denn nur durch die Sanktionen kommt der Druck auf die Arbeitslosengeld-II-Bezieher/innen voll zur Wirkung. Kürzungen der Regelbedarfe, die über 30 Prozent hinausgehen, erklärte der Erste Senat als zu massiven Eingriff in das menschenwürdige Existenzminimum mit sofortiger Wirkung für verfassungswidrig. Der willkürlichen Vernichtung von Existenzen wurde damit ein Riegel vorgeschoben. Außerdem hat Karlsruhe die starre Dauer der Sanktionen (drei Monate, selbst wenn der Betroffene inzwischen seiner Mitwirkungspflicht nachkommt) verworfen, sich für Härtefallregelungen ausgesprochen und den Jobcentern einen größeren Ermessensspielraum bei der Verhängung von Sanktionen eingeräumt.

Will man "nicht hinter Hartz IV zurück", also keine Lohnersatzleistung wie die Arbeitslosenhilfe einführen, muss der Lebensstandard von Langzeiterwerbslosen durch ein im Extremfall bis zur Rente gezahltes Arbeitslosengeld (I) gesichert werden, dessen Höhe sich gleichfalls nach dem letzten Nettoentgelt richtet. Anspruchsberechtigt müsste sein, wer eine bestimmte Mindestversicherungsdauer aufweist. Nicht bloß muss die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes (I) verlängert werden, vielmehr auch die Rahmenfrist, während die Anwartschaftszeit verkürzt werden sollte, um bei einer großen Zahl der Erwerbslosen den sofortigen Fall in die Grundsicherung zu verhindern. Außerdem könnten der Kinderzuschlag und das Wohngeld als die dem Grundsicherungssystem vorgelagerten Sozialleistungen ausgebaut werden.

Berufs- und Qualifikationsschutz müssten wiederhergestellt, die Zumutbarkeitsregelungen von Hartz IV entschärft werden. Niemand darf mehr genötigt werden, schlechtere Arbeitsbedingungen und einen niedrigeren Lohn zu akzeptieren. Das dem Fürsorgerecht entlehnte Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft muss rückabgewickelt werden, weil es die Einkommen nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) nicht zum Unterhalt verpflichteter Mitbewohner/innen berücksichtigt und Jobcenter zur Schnüffelei im Hinblick auf die intimsten Beziehungen verführt.

Besonders kinderreiche Familien leiden darunter, dass mit dem Inkrafttreten von Hartz IV die wiederkehrenden einmaligen Leistungen, etwa für die Reparatur einer Waschmaschine und die Anschaffung eines Fahrrades oder eines neuen Wintermantels für schnell gewachsene Kinder, weggefallen sind. Besser als eine Pauschalierung fast aller Leistungen wäre die Wiedereinführung solcher Beihilfen geeignet, bedürftigen Eltern und ihren Kindern zu helfen.

Ziel muss eine soziale Grundsicherung sein, die den Namen im Unterschied zu Hartz IV wirklich verdient, weil sie armutsfest, bedarfsdeckend und repressionsfrei ist. Armutsfest wäre eine solche Mindestsicherung unter der Voraussetzung, dass ihr Zahlbetrag zusammen mit den Miet- und Heizkosten, die nicht pauschaliert werden dürfen, zumindest im Bundesdurchschnitt über der Armuts(risiko)schwelle der Europäischen Union läge: Das sind für einen Alleinstehenden 1.000 Euro. Bedarfsdeckend zu sein heißt bei der sozialen Mindestsicherung, dass spezifische Bedarfe, etwa im Fall von Behinderungen und vergleichbaren Beeinträchtigungen, geltend gemacht werden können. Schließlich sollte die soziale Mindestsicherung ohne Sanktionen auskommen, wenngleich eine moralische Verpflichtung fortbesteht, dass seinen Lebensunterhalt selbst bestreitet, wer gesundheitlich, psychisch und aufgrund seiner beruflichen Qualifikation in der Lage ist, Erwerbsarbeit zu leisten.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zum Thema hat er das Buch "Hartz IV und die Folgen" (Beltz Juventa, 3. Aufl. Weinheim/Basel 2018, 284 Seiten, 19,95 €) veröffentlicht. Im selben Verlag ist soeben sein Buch "Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland" (414 Seiten, 24,95 €) erschienen.

Quelle: Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft , 23/2019. Wir veröffentlichen den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

03. Dezember 2019

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