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Türkei: Letzte Ausfahrt Idlib

Türkei: Präsident Erdogan will, dass sein Land die Folgen der gescheiterten Syrien-Politik des Westens nicht allein tragen muss

Von Sabine Kebir

Es gibt ein Sprichwort, das an die Haltung der EU gegenüber der Türkei erinnert: "Wasch mich, aber mach mich nicht nass!" Obwohl NATO-Mitglied und theoretisch weiterhin EU-Beitrittskandidat, missachtet Ankara nicht nur die hehren Ziele seiner Verbündeten, sondern tanzt auch ständig aus der Reihe durch Vorstöße auf syrisches bzw. syrisch-kurdisches Gebiet. Mancher Europäer fragt sich bereits, was die türkische Armee eigentlich in der Provinz Idlib noch zu suchen hat, wird sie doch von syrischem und russischem Militär massiv angegriffen.

Es geht schlichtweg um Begrenzung des Schadens, den die Türkei durch das Desaster des Syrienkriegs erlitten hat. Werden zugleich die Grenzen nach Europa für Flüchtlinge geöffnet, die vorerst gar nicht aus Idlib kommen, erinnert Ankara daran, dass eine Verantwortung für ein gemeinsames, missglücktes Unternehmen auch gemeinsam getragen werden sollte. Beinahe vergessen ist, dass seit 2011 durchaus mit lebhafter Unterstützung von EU und NATO aus der Türkei große Kontingente an Waffen und Kämpfern nach Syrien geschleust wurden, um die Assad-Regierung zu stürzen. Selbstverständlich verfolgte Ankara dabei auch eigene Ziele, die auf eine teilweise Erneuerung des nach 1918 abgewickelten Osmanischen Reiches hinausliefen. Als Unterstützerin der stärksten syrischen Oppositionsgruppe, der Muslimbrüder, die 2011 als ihren militärischen Arm die "Freie Syrische Armee" in der Türkei gegründet hatten, hoffte Präsident Erdogan das in Damaskus herrschende laizistische Regime durch eine sunnitisch dominierte Regierung zu ersetzen. Daran waren auch Saudi-Arabien und dessen Rivale Katar interessiert, der mit Assad wegen der verweigerten Baugenehmigung für eine Pipeline im Clinch lag.

Was die USA betrifft, wird heute nur noch über den Einsatz bei der Bekämpfung des Islamischen Staates (IS) gesprochen. Dabei steht außer Frage, dass in Washington lange Zeit die Zerschlagung des irakischen und syrischen Staates erwogen und deshalb die kurdische Karte gespielt wurde. Dass unter Barack Obama das US-Engagement in Syrien offiziell auf die Kooperation mit den Kurden zurückgefahren wurde, ist manchem EU-Politiker, der vom Durchmarsch westlicher Verbündeter bis Damaskus träumte, bis heute ein Dorn im Auge. Allerdings können die Irak und Syrien betreffenden Kriegsziele der USA durchaus als erreicht gelten. Deren staatliche Integrität ist schwer erschüttert.

Um sich nicht allzu schäbig gegenüber den verbündeten Rebellen in Syrien zu zeigen, hatten im März 2017 Donald Trump und der saudische Kronprinz Salman bei dessen Antrittsbesuch im Weißen Haus einen Plan entwickelt, der von Damaskus offenbar akzeptiert wurde. Danach sollten sich von der Regierungsarmee besiegte Kampfgruppen in Schutzzonen zurückziehen dürfen. Wovon es mehrere gab, zunächst besonders im Südosten Syriens. Heute ist davon nur noch Idlib übrig, der Ausgangs- und Endpunkt der Invasion.

Inzwischen haben sich die gegen Assad verbündeten Staaten auf humanitäre Hilfe für Idlib beschränkt, die medial als "Hilfe für Syrien" ausgegeben wird, obwohl die von dessen Armee zurückeroberten Gebiete weder Hilfsgüter erhalten noch von einem umfangreichen Boykott befreit werden, der für Nahrungsmittel, Medikamente und vieles mehr gilt.

Die Türkei ist jetzt allein zuständig für den Schutz der in Idlib konzentrierten Anti-Assad-Kombattanten. In der Hoffnung, sich dauerhaft niederlassen zu können, plant deren stärkste Gruppe, die aus der Al-Nusra-Front hervorgegangene Hayat Tahrir asch-Scham, in der Provinz ein kleines salafistisches Kalifat zu errichten. Die Frage lautet, wird die Türkei auch dafür als Schutzmacht dienen, um diese bewaffnete Gruppe, die sich nicht zu Unrecht als türkischen Verbündeten sieht, ruhigzustellen? Wenn ja, wäre das nur ein Spiel auf Zeit. Aus Idlib wurden bis zuletzt Gebiete bis hin zur Metropole Aleppo mit Raketen beschossen, sodass die syrische Regierung nie einen Zweifel ließ, auch deshalb die gesamte Provinz zurückerobern zu wollen.

Dass unter diesen Umständen Konsultationen zwischen Ankara und Moskau möglich bleiben, kann nur als vernünftig bezeichnet werden. Zumal die Türkei bei ihrem Versuch, den Rebellen beizustehen, schmerzhafte Verluste erleidet. Bei einem Rückzug wären terroristische Racheakte enttäuschter Verbündeter nicht auszuschließen. So bleibt offen, was mit den überlebenden Anti-Assad-Kämpfern geschehen soll. Noch hat Ankara das Ziel nicht aufgegeben, eine etwa 30 Kilometer breite Schutzzone entlang der gesamten Grenze mit Syrien zu schaffen, auch in den kurdischen Gebieten, weshalb allein aus der Gegend um Afrin bisher eine halbe Million Kurden geflohen sind.

Nicht nur die NATO, inklusive Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, hat sich positiv zum Projekt Schutzzone geäußert. Auch Russland ist nicht explizit dagegen, sodass türkische Stützpunkte vorerst in Idlib bleiben könnten, während die syrische Armee an ihnen vorbei weiterzieht. Als in Südostsyrien die Kämpfe beendet wurden, konnte die teils nach Jordanien geflohene Zivilbevölkerung zurückkehren. Das ist auch für Idlib denkbar, selbst wenn die ganze Provinz oder der größte Teil davon wieder unter syrischer Verwaltung steht. Wird man diesen Regionen dann immer noch humanitäre Hilfe verweigern?

Quelle: der FREITAG vom 06.03.2020. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

06. März 2020

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